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Archiv - Mai, 2018

John Wills: Disney Culture

Drei der fünf erfolgreichsten US-Kinofilme des Jahres 2017 stammen aus dem Hause Disney: Platz 1: »Star Wars: The Last Jedi«. Platz 2: »Beauty and the Beast« und Platz 4: »Guardians of the Galaxy. Vol. 2«. Stage Entertainment zeigt in Deutschland derzeit fünf Disney-Musicals. Eines davon, »The Lion King«, läuft bereits im 21. Jahr am Broadway und im 17. Jahr in Deutschland. John Wills unternimmt in seinem kleinen Reader der Reihe »Quick Takes« den Versuch, das Unternehmen Disney kritisch abzuklopfen. Er stellt provokante Fragen und mahnt zur Vorsicht. Indem man Kinder quasi mit Disney aufzieht, setzt man sie auch den Werten aus, die das Unternehmen, durchaus gewollt, transportiert. »The company has promoted a range of fundamental notions and ideals through its movies: universal love, good conquering evil, and simple happy endings. It also has also pushed a range of cultural and social values: a Protestant-style work ethic, absolute morality, and traditional family roles.« Er geht dabei zurück bis in die Gründungsphase von Disney Anfang der 1920er-Jahre und liefert spannende Storys über die Unternehmenskultur bei Disney, die im Wesentlichen auf strikten Geboten basiert. »Walt Disney corporate trainers explain, We don’t put people in Disney, we put Disney in people. Corporate culture employs techniques to strip away the self of employees and remake them as Disney cast members.« Für Wills liegt auf der Hand, dass Filme wie »Frozen« oder »The Lion King« Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, sie sind Teil der »Disneyfication of childhood«. Spannende Lektüre, die ein Ausgangspunkt für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Disney sein kann. Auf 15 Seiten gibt es jede Menge Tipps zu weiterführender Lektüre.

John Wills: Disney Culture. Rutgers University Press, New Brunswick 2017. 160 S.; (Paperback) ISBN 978-0813583327. $ 17,95. rutgersuniversitypress.org

Adrian Wright: Must Close Saturday

Der Schauspieler, Sänger und Autor Adrian Wright hat sich mit drei seiner Sachbücher, »Tanner’s Worth. Rediscovering The Post-War British Musical« (2010), »West End Broadway. The Golden Age of the American Musical in London« (2012) und dem vorliegenden Buch »Must Close Saturday« (2017), als Experte auf dem Gebiet der britischen Musicalgeschichte etabliert. Mit kleinen Einschränkungen. Diese Einschränkungen betreffen zum einen den Forschungsgegenstand an sich. Erst in den letzten Jahren ist ein verstärktes Interesse in England zu bemerken, die eigene Musicalgeschichte aufzuarbeiten. Da kann man sich natürlich etwas leichter als Autorität einen Namen machen. Die Einschränkung betrifft zweitens den Zugang, den Wright wählt, beziehungsweise seinen Background. Nicht selten wird bezüglich seiner Publikationen der Plauderton thematisiert, den er wählt, sein nicht-wissenschaftlicher Zugang zum Thema. Und ja, es finden sich in seinen Büchern immer wieder mal fachliche Fehler (falsche Daten, Verwechslungen, was Namen betrifft). Ja, sein Stil ist subjektiv, klar wertend. Aber wie schrieb einst Kurt Tucholsky: »Alles ist richtig, auch das Gegenteil. Nur zwar … aber, das ist nie richtig.« Insofern ist diese Art der subjektiven, populären Geschichtsbetrachtung legitim.
Fun Fact: Drei der von Wright besprochenen Flops waren bisher in Österreich zu sehen. In Amstetten lief 2001 als Österreichische Erstaufführung »Moby Dick«, ein Musical von Hereward Kaye und Robert Longdon, das 1992 in London auf 127 Vorstellungen kam. Im Wiener Raimund Theater brachte Kathi Zechner 2005 Gà©rard Presgurvics »Romà©o et Juliette « zur Aufführung. Die englischsprachige Version des vielleicht bisher erfolgreichsten französischen Musicals überhaupt mit mehr als sechs Millionen Besuchern weltweit stand 2002 in London nur 112 Mal am Spielplan. Und 2018 brachte das Landestheater Linz den West-End-Flop »Betty Blue Eyes« von George Stiles und Anthony Drewe auf die Bühne. In London schaffte die Show 2011 189 Vorstellungen.
Aber was ist eigentlich ein Flop? Adrian Wright definiert dies anhand der Anzahl der Aufführungen. Shows mit weniger als 250 Aufführungen fielen für sein Buch in die Kategorie »Flop«. In dem von ihm behandelten Zeitraum von 1960 bis 2016 (Flop-Musicals vor dieser Periode bespricht er in seinem Buch »Tanner’s Worth«) sind das rund 170 Produktionen. Eigentlich müsste man, wollte man besonders kritisch sein, hinterfragen, was Wright unter einem »british Musical« versteht, wenn er auch aus Frankreich stammende Musicals wie »Romà©o et Juliette « dazuzählt, aber er hat dafür ohnedies eine Erklärung parat: »Some shows that originated in other countries but were subsequently seen in London are included, generally when the West End production was significantly different from that seen elsewhere.« (Off-)Broadway-Shows, die in New York ihre Erstaufführung erlebten, hat Wright übrigens ausgeschlossen. Musicalgeschichte ist keine exakte Wissenschaft, das geht schon in Ordnung.
Die Megaflops unter den Flops könnte man isolieren. Vier Shows mit weniger als zehn Aufführungen gibt es im besprochenen Zeitraum: »Big Sin City« (Neil, Lea und John Heather, 1978, 6 Vorstellungen), »Call It Love?« (Sandy Wilson, Robert Tanitch; 1960, 5 Vorstellungen), »Joie De Vivre« (Robert Stolz, Paul Dehn, Terence Rattigan, 1960, 4 Vorstellungen), »Money To Burn« (Daniel Abineri, 2003, 2 Vorstellungen) und »Romance« (Charles Ross, John Spurling, 1971, 6 Vorstellungen).
Wrights System schließt nicht aus, dass langfristig betrachtet so mancher Hit des West Ends eigentlich auch als Flop kategorisiert werden könnte. Das Musical »Charlie Girl«, ab Mitte der 1960er-Jahre immerhin 2202 Mal am Spielplan und 1986 noch einmal für ein halbes Jahr, ist heute vergessen. Ist es als Hit oder Flop zu werten? Lionel Barts »Oliver!« erlebte am 10. Juni 1960 seine Uraufführung im Wimbledon Theatre. Die zweieinhalbwöchige Spielzeit erbrachte einen Verlust von 4500 Pfund. Impresario Donald Albery meinte damals: »I thought is was the biggest flop I’d ever had. All the backers tried to get out.« Am 30. Juni desselben Jahres stieg die Premiere der Show im New Theatre (dem heutigen Noà«l Coward Theatre) und lief dort 2618 Mal. Der Beginn einer Erfolgsstory.
Dass das Interesse der Briten daran, ihre Musicalgeschichte aufzuarbeiten, doch noch nicht, sagen wir: überbordend ist, könnte man einem Satz der Danksagung Wrights entnehmen, wenn er schreibt: »My main debt of gratitude must be to the staff of the Victoria and Albert Theatre and Performance Archive for their friendly and ever-willing assistance, even when they gazed mysteriously at what I had summoned from their vaults and said You are the only person that ever asks for this stuff.«
Wrights Buch ist eine Fundgrube an Fakten und Anekdoten zur britischen Musicalgeschichte, man bekommt Lust, im Web weiter zu recherchieren. Mit Bildmaterial geht er eher sparsam um, im Anhang bietet er ein Register der Showtitel und ein allgemeines Register, den Endnoten kann man viele Zeitschriften-Verweise entnehmen, die Bibliografie auf zwei Seiten ist recht knapp gehalten. Die Auflistung aller im Buch behandelten Produktionen mit Angaben zu Autoren/Komponisten, Ort der Aufführung, Hauptdarstellern, Songs und Anzahl der Aufführungen hätte man noch um Details zu Regisseur, Choreograf und weiteren Mitgliedern des Kreativteams ergänzen können. Aber es ist durchaus Pionierarbeit, die Wright hier leistet, und was noch viel schlimmer it: Man weiß nicht, ob noch Ausführlicheres nachkommt. Daher gilt für dieses wie auch die beiden anderen erwähnten Bücher des Autors: sehr empfehlenswert.

Adrian Wright: Must Close Saturday. The decline and Fall of the British Musical Flop. The Boydell Press, Woodbridge 2017. 352 S.; (Hardcover) ISBN 978-178327. £ 25.00. boydellandbrewer.com