Home RSS Go RED Go BLACK

Archiv - Februar, 2024

Volksoper Wien: »tick, tick… BOOM!«

volksoper2023.jpgMinuten vor Showbeginn. Bühnennebel wabert in den Saal, aus den Boxen hört man leise Songs von Prince, Billy Joel. Die Musik wird lauter – Nirvana. Wie ein Rockkonzert ist der Beginn von Jonathan Larsons Musical »tick, tick… BOOM!« inszeniert. Am Ende schenkt der von der Presse als »schärfster Drummer der Republik« apostrophierte Mario Stübler nach einer fantastischen Performance seine Sticks zwei Zuschauer:innen.

Ein Déjà-vu. Wie ihr Vorgänger Robert Meyer setzte auch Lotte de Beer, aktuelle Direktorin der Volksoper, in ihrer ersten Spielzeit keine Musicalneuproduktion auf den Spielplan. Meyer startete den Reigen seiner Neuinszenierungen im Rahmen des Volksopernüblichen (»Guys and Dolls«, 2009). Anders de Beer. Es ging ein Raunen durch die Musicalszene, als sie »tick, tick…« ankündigte. Die Show solle Türen öffnen für junges Publikum. Der Werbe-Claim: »ein Musicalhit, bekannt durch die Netflix-Verfilmung«. Bekannt sollte die Show in Wien seit 2013 sein, da fand die ÖEA im Theater Drachengasse, produziert vom Vienna Theatre Project, statt. Meyer setzte ab 2011 mit einer Serie von Sondheim-Shows das Haus ein wenig näher an die Jetztzeit, de Beer geht weiter. Larsons Werk ist topaktuell, bietet Identifikationspotenzial, insbesondere für die Generation Prekär. »Eigentlich machen alle, die wir kennen, ganz was anderes, als sie eigentlich wollen.« »Wie gehts deinen Eltern?« – »Wie immer. Machen sich Sorgen, dass ich wieder bei ihnen einziehe oder verhunger.« – Sätze aus der Show, die heutige Probleme beschreiben.

Auf der Bühne als Musicalkomponist Jon: Jakob Semotan, ein Künstler, an dem man in Wien als am Musiktheater Interessierter nicht vorbeikommt. An der Volksoper ist er Solist in Musical, Operette – und Oper. Am Abend nach der Hauptprobe von »tick, tick…« stand er als Papageno in der »Zauberflöte« auf der Bühne, im Wiener Theater Bronski & Grünberg channelt er seit April Tom Waits auf Wienerisch in der Show »Thomas Wartet«. Begonnen hat er in der Kindercompany des Wiener Performing Center. Seine Range verleiht den Songs Larsons einen spannnden Vibe. Durch die Premiere kämpfte er sich mit Bronchitis und erhielt Lobeshymnen. So stark ist er. Als Michael an seiner Seite: Oliver Liebl, ehemaliges Ensemblemitglied am Musiktheater Linz, seit 2014 fix an der Volksoper. Und als Susan: Juliette Khalil, ebenfalls vom Konservatorium, seit 2015 in Musical und Operette an der Volksoper zu sehen.

Programmiert ist die Produktion unter dem Stichwort »Zugabe«, außerhalb des »normalen« Programms. Als Aufführungstermine werden Daten genutzt, an denen das Orchester Auswärtstermine hat. Gespielt wird vor 1200 Zuschauern im großen Saal (deutsche Dialoge, die Songs auf Englisch). All in geht de Beer nicht, nur die Vorderbühne wird bespielt. In der Mitte beherrscht ein drehbarer (was die Darsteller besorgen) multifunktionaler Koloss (Bühnenbild: Agnes Hasun) von einem Pfeiler die Szene (und blockiert die Sicht für die Zuschauer ganz rechts und links vorne). Er ist Kiosk, Diner, man kann ihn erklettern, und schon sind wir auf einem Hausdach. Links und rechts Sitzgelegenheiten für diverse Innenraumszenen. Im Hintergrund auf jeder Seite zwei Musiker:innen in Kojen. Viel an Platz, um sich zu bewegen, bleibt nicht. Doch Choreografin Tara Randell (an der Volksoper auch als Darstellerin aktiv) hat fabelhafte Arbeit geleistet. Die kleinen Tanzschritte und Moves wirken stets natürlich, reich an Stilistik, Gesten, mit Humor, Ironie und Pfiff, elegant und spritzig. Die Show ist von einer Körperlichkeit geprägt, die die Freundschaft von Jon, Susan und Michael unterstreicht. Der leichte Alltagstonfall, der ab und an einfließt in den Sprechszenen, unterstreicht zusätzlich die Vertrautheit.

„Das Stück ist energisch, witzig, lebensbejahend und schnell“, meinte Regisseur Fréderic Buhr vor der Premiere. Bisweilen hat er um einen Tick zu sehr aufs Tempo gedrückt. Zum Highlight der Show (praktisch ein Showstopper bei der Premiere) wurde die Szene »Why«, in der Michael Jon mit einem markerschütternden Schrei klarmacht, dass es Menschen gibt, mit denen es das Schicksal immer noch schlechter meint. Diese Momente sind perfekt inszeniert, eindrucksvoll interpretiert. Juliette Khalil ist gnadenlos mitleidlos als Jons Agentin, am Punkt als seine Freundin. Einzig ihre Interpretation von »Come to Your Senses« ist hinterfragbar, zu sehr fightet sie sich durch – dennoch ein spannender Zugang. Lotte de Beer sollte mit dieser Öffnung Richtung Zukunft all in gehen.