Home RSS Go RED Go BLACK

Archiv - 2014

Die Mary-Poppins-Killer: Dinosaurier! in Wien

dino2.jpg

Ehrlich gestanden hätte ich mir ja nie im Leben gedacht, mir jemals freiwillig ein Musical über Dinosaurier anzusehen. Ich bin vermutlich einer der wenigen, die schon bei Elton Johns König-der-Löwen-Odyssee spätestens nach gefühlten 599 Minuten selig entschlummert sind und reflexartig bis heute runterratschen: Hast du die ersten fünf Minuten vom König gesehen, hast du alles gesehen. Mehr kommt dann eh nich mehr.

Heute also »Dinosaurier!«, ein Musical von Robert Reale (Musik) und Willie Reale (Buch und Texte). Machen wir’s kurz, soll auch nur ein schneller Eindruck sein: Was ich heute im Renaissancetheater gesehen habe, war ein perfekter zweiter Akt. Wer auch immer sich mit Musicals beschäftigt, sollte versuchen, ein Ticket für diese Show zu bekommen. Jeder Platz, der leer bleibt (und das sind ohnedies nicht viele), wäre eine Schande. Das muss man einfach gesehen haben.

Man kann über den ersten Akt diskutieren, freilich sollte man nicht vergessen, dass hier viel von jener Dynamik aufgebaut wird, die im zweiten Akt wie ein einstündiges Feuerwerk über das Publikum hereinbricht: glänzende Soloszenen von Carin Filipcic, von Patricia Nessy, Lukas Satori, Armin Kahl, vom gesamten Ensemble. Ein Highlight nach dem anderen. Jazzy Balladen, poppige Songs, all das oft so subtil und wahnsinnig witzig als Parodie angelegt und manchmal als richtige Hammer-Showstopper. Eine glaubhafte Figurenzeichnung, so wohl dosiert in Komik und Outrieren, und auch hier wieder vom gesamten Ensemble umgesetzt. Wie umwerfend etwa Patricia Nessy die Sängerin Carlotta Devries anlegt, die nichts sehnlicher als an ihrem Comeback arbeitet und sich in … Aber hier ist jetzt keine Zeit, den Plot zu erzählen. Oder Carin Filipcic, die in einer furios-grandiosen Szene den Saal zum Kochen bringt, in der sie uns lehrt, wie Dinosaurier die Spaghetti erfunden haben. Und bleiben wir doch gleich bei den Spaghetti. Da fällt mir Mary Poppins ein … und die »sentimentalen Erinnerungen«, die viele angeblich damit verbinden. Bullshit. Ich frage mich ja nach wir vor: Wer bitte hat in Österreich »Mary Poppins« gelesen, wer hat den Film im Kino gesehen, und wie alt sind diese Leute heute? Ich schätz mal 70+, der Rest hat den Film vielleicht mal im TV gesehen, aber kann man davon »sentimentale Erinnerungen« ableiten? Von Thema/Bekanntheitsgrad/Relevanz her ist diese Show ein ebenso großer Fehlgriff wie »Legally Blonde«. Kinder werden wohl dieses Ronacher-Ammenmärchen sehen, wenn ihre Großeltern sie reinschleppen. Die hilflosen Hascherln. Fragt sich, was sie dann davon haben. Wie ich auf »Mary Poppins« komme? Im Gegensatz zu der realitätsfremden Kindermädchenstory haben die Dinos eine Message: Vegan ist hier ein Thema, und für Lehrer ist das ganz sicher ein interessanter Ansatzpunkt, über dieses Thema mit den Kindern zu reden.
Armin Kahl. Wie groß ist die Gefahr, als T-Rex Reginald van Cleef, Anführer der Rà©sistance gegen die Fleischfresser und tougher Super-Dino, zum lächerlichen Tiefpunkt der Show zu werden, wenn man so, wie man es von einigen Musicaldarstellern kennt, hemmungslos outriert, und wie gut spielt er diese Rolle. Lukas Satori, als Swifty Malone, ehemals »Vorgruppe« von Sängerin Carlotta Devries: was für eine Bandbreite an Talent von Stand-up bis Step, elegant mit Understatement serviert. Simon Eichenberger (Choreo) macht hier wieder vieles wett, was er beim »Besuch der alten Dame«, dem für mich schlechtesten Musical, das die VBW jemals aufgeführt haben, »verbrochen« hat. Hier passen die Choreografien, hier arbeitet er sogar mit genialen Zitaten, das macht Sinn und zeugt wohl auch davon, dass bei dieser Show mit Werner Sobotka ein Regisseur leitend war, der tatsächlich weiß, was Musical ist, was Humor ist, und was Timing ist, und: wie man das alles zu einem perfekten Ganzen kombiniert. Dazu gehört etwa auch das Licht. Das Lichtdesign stammt von Michael Grundner, und die Vielzahl an Stimmungen, die er schafft, ist nicht allein eine Ausgeburt des Rekordwahnsinns, damit der Intendant dann bei einer PK von 3,9 Millionen Lichteinstellungen, die in 276 Wochen programmiert werden mussten, faseln kann, sondern, und vor allem bei den Dinos, das Licht erzählt die Geschichte mit, und bei den Dinos mehr als bei vielen anderen Musicals. Aber das sollte jeder selbst miterleben. Nähere Infos –> hier.

PS: Und wer ein Programmheft kauft, bekommt nen echten Dino dazu. Na, wenn das nicht wirklich sentimentale Erinnerungen weckt :)

Schaun Sie sich das an: [Title of Show] im Theater Drachengasse

Warum ich meine, dass man das Musical [Title of Show] gesehen haben sollte.

1
Es gibt wahnsinnig viele Gründe, sich Musicals anzusehen oder auch nicht anzusehen. Oft sind all diese Beweggründe natürlich reine Geschmackssache und sprechen weder für noch gegen eine Produktion an sich. Fliegende Autos zum Beispiel oder fliegende Kindermädchen. Ich fand das schon als Kind sterbenslangweilig. Ich weiß auch nicht, welcher Rechtepool da übergeschwappt sein muss, dass wir derzeit in Wien und weiterer Umgebung (salopp definiert) mit all diesen Kinder- oder meinetwegen auch Familienmusicals geradezu überschwemmt werden. Ich lass mir noch einreden, dass das erste Musicaltheater der Stadt, die Wiener Volksoper, derartige Shows am Spielplan hat: »The Wizard of Oz« mit großem Orchester, das könnte ja wenigstens nett klingen. Ich schätze mal, man wird in Presseerklärungen des Hauses auch nirgendwo einen Satz finden wie: Leider dürfen wir aus rechtlichen Gründen nur die Version für arme Würschtln spielen, Sie wissen schon, uns sind die Hände gebunden, wir haben zwar 2809 Musiker, aber wenn unser geschätzter Rechtepartner will, dass wir nur 16 (fiktive Zahl) Musiker einsetzen, was sollen wir tun?
Wie auch immer, interessiert mich also nicht, kann man sich natürlich mal ansehen, um am Laufenden zu bleiben, outputmäßig.
Wobei ich mich frage: Gab’s früher so an ein oder zwei Häusern der Stadt nicht Musicals mit einem gewissen Kultfaktor? Shows, die man sich öfter angesehen hat? Und war nicht zuletzt das einer der Erfolgsfaktoren für den Wiener Musicalboom? Und sollen fliegende Kindermädchen ernsthaft da auch nur irgendwie anschließen? Hat man den Traum, mal wieder einen wirklichen Treffer landen zu können, eh schon mit der Außerbetriebsetzung der letzten Vampirfluganlage begraben?

2
Thema? Ja. Was mich interessiert, also. Zum Beispiel ein Plot, der erzählt, wie ein paar junge Typen ein Musical schreiben. Als Hunter Bell und Jeff Bowen 2004 den Beschluss gefasst hatten, ein Musical beim New York Musical Theatre Festival einzureichen, hatten sie ein Problem. Sie wussten nicht, worüber sie ein Musical schreiben sollten. Die fliegenden Sekretärinnen und Kindermädchen waren wohl grad aus, fliegende Autos vermutlich etwas zu teuer, und die Idee, einen »Vampir« an einem Seil durch ein Theater zu ziehen, fanden sie wohl ziemlich deppert. So machten sie schlicht und einfach aus nichts eine Show. Im Formular, in dem im Feld »Title of Show« der Name der geplanten Show einzutragen war, trugen sie ein: »[Title of Show]«. Und wie wir alle wissen: Anzufangen ist schon mal die halbe Miete. Wie sie also aus nichts eine Show machten, die es schlussendlich bis zum Broadway brachte und dort gnadenlos floppte, das ist die Geschichte, die hier erzählt wird.
Das mit dem Flop am Broadway hat seine eigenen Gründe. »[Title of Show]« ist ein typisches Off-Broadway Musical, eventuell sogar Off-Off-Broadway, und als es am 2o. Juli 2006 im Vineyard Theatre Premiere feierte, kamen die Leute, weil sie neugierig waren. Im intimen Rahmen funktionierten die zahllosen Insider-Anspielungen auf den Musicalbetrieb bestens, die melodiösen Pop-Nummern hatten Power und boten diverse musikalische Anspielungen (etwa auf Stephen Sondheims »Into the Woods«). Das Ganze auf Broadway aufzublasen: schlechte Idee. Zehn Wochen spielte man mit tollem Erfolg Off-Broadway und genau für diese Dimension ist diese Show maßgeschneidert, also auch für das Theater in der Drachengasse.

3
Drachengasse. Mein Lieblingstheater, was sehenswerte Musicals betrifft. Intimer Rahmen, die Darsteller spielen keinen Meter von den Zuschauern entfernt, und sie können spielen. Da das hier keine Kritik sein soll (die folgt in musicals im Dezember), lass ich das mal so pauschal formuliert stehen. Aber hier sind schon mal drei weitere Gründe, warum man »[Title of Show]« gesehen haben sollte:

a
Das Theater in der Drachengasse entdecken, falls man es noch nicht kennt, ist einer.

b
Ein weiterer: »[Title of Show]« wurde vom Vienna Theatre Project in Szene gesetzt, einer kleinen Gruppe von Leuten rund um Joanna Godwin-Seidl (Regie) und Birgit Zach (Musikalische Leitung), die englischsprachige Stücke in Wien produzieren, unter anderem auch Musicals, großteils ohne/mit wenig finanzielle(r) Hilfe. Die Musicals werden professionell und nicht mit dieser geschleckten Disney-Arschfreundlichkeit aufbereitet, sondern mit, na sagen wir: Herz. So was kann man dann auch mal mit einem Besuch unterstützen. Und jetzt hier der Megadeal: Kaufen Sie sich statt einer Kategorie-I-Karte einer VBW-Produktion doch mal eine etwas billigere, und schon ist der Besuch der Drachengasse querfinanziert. Und wer weiß, wo Sie dann besser unterhalten wurden.

c
Noch ein Grund: Oliver Watton entdecken. Es gibt Darsteller, die eine besondere Gabe haben. Er gehört dazu.

[Title of Show]: 4. Oktober und 6. bis 11. Oktober im Theater Drachengasse
Nähere Details: –> hier