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Archiv - 2006

Raimund Theater: »Musical Christmas in Vienna 2006«

Fünf Mal wurde das Wiener Raimund Theater im Dezember 2006 in weihnachtliche Stimmung getaucht. »Musical Christmas in Vienna« basiert auf einer Idee und einem Konzept von Caspar Richter, Michael Pinkerton sowie Wolfgang Hülbig. 2003 zauberte dieses Team eine fulminante und opulente Weihnachtsshow auf die Bühne des Theater an der Wien. 27 Darsteller im Chor und als Tänzer, dazu 20 Solisten (Maya Hakvoort, Lukas Perman, Marjan Shaki, Serkan Kaya, etc.) und das Orchester der Vereinigten Bühnen Wien – 90 Minuten perfekter Weihnachtsstimmung, keine Pause (Tickethöchstpreis: 25 Euro).
Kleiner Zeitsprung: 2006, Raimund Theater. Auf der Bühne: fünf Solisten und zwölf Darsteller als Chor & Tänzer (Katarina Bradic, Lorna Dawson, Katharina Anna Klavacs, Iris Morakis, Rita Sereinig, Caroline Sommer, Giuliano Mercoli, Alexander Moitzi, Sean Spyres, àkos Tihanyi, Ingolf Unterrainer und Ronnie Wagner). Dauer: 120 Minuten mit Pause (Tickethöchstpreis: 65 Euro) Nicht, dass Zahlen alleine für sich sprechen, aber »Musical Christmas« im Theater an der Wien war eine bezaubernde, oft verspielt zärtliche und broadwayreife Weihnachtsorgie mit fulminanten Tanzszenen, da hat alles gestimmt. Die abgespeckte Version im Raimund Theater 2006 hatte ihre Highlights, aber auch ihre Probleme.
Lebte die Show in früheren Jahren auch von der Vielfalt der Stars, die auftraten, konzentrierte sich in diesem Jahr alles auf wenige Personen. So interpretierte Carin Filipcic mit »Christmas stays the same« (Wildhorn/Murphy), »Sleigh Ride« (Anderson/Parish), »Christmas Waltz« (Styne/Cahn), »Ka Weihnachten« (Schnack/Muik), »It must have been the Mistletoe« (Konecky/Wilde; Duett mit Caroline Vasicek) und »We need a little Christmas« (Herman) nicht weniger als sechs große Shownummern von insgesamt 26. Filipcic ist eine hervorragende Sängerin, aber bei dieser Weihnachtsshow flüchtete sie zu oft in Lautstärke auf Kosten der Phrasierung, die gewohnte Stimmsicherheit driftete manchmal ins Jenseitige, generell zeigte sie eher die gewohnt routinierte Ulknudel als das bezaubernde Weihnachtsengerl.
Weihnachten ist Gefühlssache. Caroline Vasicek, Dennis Kozeluh, Alexander Goebel und Jesper Tyden – das waren die wahren Weihnachtsengerl von Musical Christmas 2006. Goebel war ein gut gelaunter, charmanter Moderator und charismatischer Interpret. Werner Sobotka, 2006 für die Regie verantwortlich, übernahm etliches aus den Vorjahren, brachte aber auch neue Szenen, und die waren zum Teil wunderbar, beispielsweise die Umsetzung von Chris Reas Hit »Driving home for Christmas« mit Alexander Goebel und Dennis Kozeluh als in einer Bar gestrandete Autofahrer, die darauf warten, dass die Straße vom Schnee befreit wird, um endlich nach Hause zu ihren Lieben fahren zu können. Tolle Idee, grandiose Umsetzung und Interpretation – ein Highlight. Jesper Tyden lieferte mit dem schwedischen Lied »Gabriella’s Song« aus dem Oscar-nominierten Film »Wie im Himmel« die emotionellste Performance, eine packende Ballade, schlicht, aber wirkungsvoll mit dem ganzen Ensemble und dem wie gewohnt grandiosen Orchester der Vereinigten Bühnen Wien unter der Leitung von Caspar Richter in Szene gesetzt; auch mit »Believe« (»Polar Express«) und »Winter Wonderland« (Duett mit Dennis Kozeluh) konnte der Schwede punkten. Caroline Vasicek, liebreizend und mit wunderbarer Gestaltungskraft, bezauberte mit »Christmas Lullaby« (Callaway), »Santa Claus is coming to town« (gemeinsam mit Carmen Wiederstein, Andrà© Bauer und Sean Gerard) und »When Christmas comes to town« (aus dem Film »Polar Express«; gemeinsam mit Jasmina Sakr). Andrà© Bauer lieferte eine solide Performance, schlitterte allerdings ein paar Mal durch die Choreographie (für die Ramesh Nair verantwortlich zeichnete), Jasmina Sakr verscheuchte mit ihrer gepresst blechern klingenden Stimme den »Little Drummer Boy« in die ewigen Jagdgründe. Flop des Abends wurde der potentielle Showstopper zum Ende des ersten Akts: »Hallelujah« von G. F. Händel, in der Kultversion von Quincy Jones – ein auf Gospel getunter Klassiker, bei dem freies Improvisieren erwünscht, Stimmakrobatik gefordert ist und das Publikum vor Begeisterung aufspringen muss. All das gab es nicht, ging nicht. Brav wurde das Liedl gesungen, das Publikum klatschte so gut wie nicht mit. Und dann kommt in den letzten 15 Sekunden Alexander Goebel als personifiziertes Energiebündel voll ansteckender Begeisterung auf die Bühne, und hast du’s nicht gesehen, schafft er es zumindest in seinen 15 Sekunden, einen größeren Teil des Publikums zum Mitklatschen zu animieren. Das ist manchmal der Unterschied zwischen Musicaldarsteller und Entertainer, leider oder Gott sei Dank. Und das war immer das Geheimnis von Musical Christmas: Star-Power.
Auf der Strecke blieben 2006 die meisten der gewohnt schwungvollen Tanzszenen. àkos Tihanyi schaffte mit seinem Tanzpartner Giuliano Mercoli in diesem Jahr nicht die Magie und Präzision auf die Bühne zu zaubern wie in den Vorjahren unter anderem mit Murray Grant. Der Rest der Tänzer blieb bis auf das Riesentalent Alexander Moitzi eher blass. Ein Wunsch von mir ans Christkind Caspar Richter: Bitte kein Bombast-Blaskapellen-Finale mehr von »Oh, Tannenbaum«, das war grausam. Was aus diesem Abend einen magischen Abend hätte machen können, lässt sich leicht in ein paar Namen manifestieren: Susan Rigvava-Dumas, Wietske van Tongeren, Uwe Kröger, Lukas Perman, Marjan Shaki. Star-Power für 2007, lautet die Devise!

Schubert Theater: »Kurt Weill: Berlin – Paris – New York«

»Kurt Weill: Berlin – Paris – New York«, das war der Titel eines Abends mit Songs von Kurt Weill, der am 18. Dezember 2006 im Wiener Schubert-Theater über die Bühne ging.
Das Schubert-Theater werden vermutlich nicht einmal viele Wiener kennen. Es liegt an der Währinger Straße, Nummer 46, in einem Hinterhof im Alsergrund, ein Wiener Off-Theater, das erst im Frühjahr 2006 aus dem ehemaligen Schubert-Kino gestaltet wurde, nicht weit entfernt vom Geburtshaus Franz Schuberts in der Nußdorferstraße, einer Pilgerstätte für Fans des Komponisten.
72 Sitzplätze sind im Schubert-Theater vorhanden, die Bühne ist winzig, die Sitze sehr bequem, man kann sich wohlfühlen im Schubert-Theater.
Es war ein charmanter Abend. Drei ältere Herrschaften, an der Klarinette Adolf Guckler, am Bass Johannes Katzenbeißer und Peter Hellinger am Schlagzeug, gaben gemeinsam mit dem jungen Bela Fischer (Klavier, Musikalische Leitung) eine routiniert zusammen musizierende Jazzband. Manchmal ein bisschen uneins in der Interpretation ihrer Einsätze, aber stets so, dass die Variante, die gerade gespielt wurde, auch eine mögliche gewesen wäre – im Rahmen dieses Abends durchaus eine charmante Note.
Im Stil einer Nummernrevue gaben Frederike Faust (Gesang) und Gregor Hellinger (Moderation) insgesamt 17 Songs von Kurt Weill. Die geschickte Auswahl der Lieder skizzierte das Schaffen Kurt Weils chronologisch, den Zeitraum von 1928 bis 1949 abdeckend, beginnend mit der »Dreigroschenoper« (»Mackie Messer«, »Seeräuber Jenny«), »Maria Galante« (»Je ne t’aime pas«, »Le Grand Lusticru«), »Knickerbocker Holiday« (»September Song«), »Railroads on Parade« (»Mile after Mile«), »Lady in the Dark« (»The Saga of Jenny«, »My Ship«), »One Touch of Venus« (»My Week«, »How much I love you«), »Street Scene« (»We’ll go away together«, »Lonely House«), »Love Life« (»Mr. Right«, »Is it Him or is it Me?«), »Lost in the Stars« (»Lost in the Stars«) sowie zum Abschluss noch einmal die »Dreigroschenoper« (»Barbara Song«) und »Happy End« (»Surabaya Johnny«).
Songs von Kurt Weill kann man auf verschiedenste Weise interpretieren. Einen »Mackie Messer« hab ich schon dreckig, vulgär, schreiend, weinend, fluchend, zynisch und noch auf viele andere Arten gehört. Frederike Fausts Interpretation hat mich persönlich ein wenig Schärfe vermissen lassen, zu sehr war der Fokus auf »schönen« Gesang ausgerichtet, aber das ist letztlich enttäuschte Erwartungshaltung. Je mehr sich das Programm in Richtung »Musical« bewegte und Songs aus Werken gesungen wurden, die man heutzutage kaum zu hören und sehen bekommt wie »Street Scene« (1947) oder »Love Life« (1948), umso glaubhafter und überzeugender wirkte die Performance der Mezzospranistin auf mich. Gregor Hellinger als barkeepender Moderator beziehungsweise moderierender Barkeeper an manchen Stellen akustisch auch in den ersten Reihen nicht mehr wirklich zu verstehen, war im Konzept der Show sehr schlüssig in den Ablauf eingebaut, kam sehr sympathisch über die Rampe und so wurde aus der Nummernrevue eine Art Biographical, im Rahmen dessen man auch skizzenhaft Einzelheiten über das Schaffen Kurt Weills erfuhr.
Die Bühne war clever gestaltet, die Lichtregie dezent. Eine kleine Leinwand, auf die Stimmungsbilder und Filmchen projiziert wurden, eine angedeutete Theke, ein Barhocker und eine Couch, das war die Szenerie, in der Frederike Faust und Gregor Hellinger auf engstem Raum agierten: wenig zur Verfügung stehender Raum – optimal ausgenützt. Für die Regie verantwortlich war Simon Meusburger, der mit »Kurt Weill: Berlin – Paris – New York« eine ansprechende Show mit ganz eigenem Flair inszeniert hat. In den besten Momenten wusste Frederike Faust die Zuschauer zu fesseln und eine Nachtclub-artige Stimmung in den Saal zu zaubern. Begeisterter Applaus, gut gelaunt machten sich die Besucher auf den Weg durchs weihnachtliche Wien nach Hause.

Gabriel Baryllis Honigmond am Butterbrot

“Butterbrot”, das ist der Titel eines Romans von Gabriel Barylli, den ich als Hörspielversion des ORF sicher hundert Mal oder öfter gehört habe - manchmal sogar ganz. Es war das finale grande vieler Tage, ein treuer Begleiter auf dem Weg in Morpheus’ Arme. Mit automatischer Abschaltfunktion habe ich es in meinem Kassettenrekorder laufen lassen und bin dabei immer, manchmal nach ein paar Minuten, manchmal nach ein paar Viertelstunden, friedlich eingeschlafen.
“Honigmond” (derzeit in den Wiener Kammerspielen zu sehen) hätte, wenn es nicht als Theaterstück produziert worden wäre, ein legitimer Nachfolger vom “Butterbrot” werden können. Wenn man die Augen schließt, versäumt man nichts. Fast um nichts geht es auch in dem Stück:

“Sex and the City in Wien Zentrum. Drei junge Frauen. Drei verschiedene Arten, mit dem Problem “Männer” umzugehen.
Linda hat mehrere Lover gleichzeitig, Christine, geschieden, legt keinen Wert mehr auf männliche Befriedigung, Barbara glaubt an das Glück in der Ehe. Doch in kürzester Zeit wird das Leben der drei durcheinandergewirbelt. Bis nichts mehr ist, wie es war. “

Sagen wir mal fast nichts. Eva Marold, der Ex-Musicalstar mit dem Abo auf Hurenrollen (”Mozart”, “Jekyll & Hyde”, “Barbarella” und was weiß ich noch wie viele Flitscherl), gibt eine durchaus überzeugende Femme fastfatale im ersten Teil des Theaterstücks. Im teuren Pelz macht sie gute Figur, aus- und anziehen kann sie sich sehr bühnenwirksam - und die Attitude eines Männervamps konnte sie immer schon mit passender Mimik und Gestik glaubhaft über die Bühne bringen. Wenns dann daran geht, eine vom genervten Lover gedisste Schwangere darzustellen, die so ihre Zweifel hat, ob sie ihr Kind auch wirklich will, versagt bei Marold plötzlich fast alles. Die Mimik ist völlig unpassend, die Gestik unglaubhaft, die Stimmführung unsicher, da wird geschauspielt ein bisschen wie in einer Laienaufführung. Schade drum.
So weit kommt es bei Ruth Brauer erst gar nicht. Sie ist durchgehend nicht wirklich “echt”. Sie agiert, als wäre die kleine Bühne der Wiener Kammerspiele im Burgtheater angesiedelt. Zu große Gesten, zu laut serviert, zu gespielt die ganze Darbietung, ein merkwürdiger Tonfall, Outrieren als gelebtes Bühnenprinzip, das kommt leider nicht gut.
Der Star der Aufführung ist Elke Winkens. Sie ist die glaubwürdigste “Schauspielerin” auf der Bühne, die der verkörperten Rolle auch tatsächlich durchgehend Authentizität verleihen kann, sei es als betrogene Ehefrau oder als Mannervamp auf den Spuren Marolds. Das hat was.
Ganz im Gegenteil zum Stück selbst. Gabriel Barylli hat mit “Honigmond” eine halbe Lachnummer getextet, und halbe Lachnummern sind nie wirklich was richtig Feines. So mancher Mann hat sich während der Vorstellung im Saal umgesehen, vielleicht um zu checken, ob es angebracht ist, über die Witze zu lachen, die Barylli den drei Damen auf der Bühne ins Mündchen gelegt hat. Witze über Männer. Aber eben auch Witze, die längst nicht so scharf sind, wie sie sein müssten, um Männer dazu zu bringen, erst gar nicht in Versuchung zu kommen, auch mitzulachen.
Die Bühne ist aus vielerlei Hellem. Viel Plastik, viel Modernes, wie man sich das eben so vorstellt in einer hippen Frauen-WG. Wenns dann zu einem romatischen Frauenabend kommt, an dem frau sich austauscht, werden Kerzen auf die Bühne gestellt, in hippem Plexiglasmantel. Fast sieht die Deko so aus, als wäre sie schnell aus den Restbeständen der Paperbox vom Graben zusammengekauft. Die Paperbox am Graben ist nämlich geschlossen worden. Da hat jetzt eine dieser hippen Modeketten eine Filiale eröffnet. Spätestens am Ende des Stückes, wenn ein kitschiger Mond auf der Bühne aufgeht, habe ich mich auf die Hörspielfassung und auf all das, was ich dann nicht sehen werde, gefreut.

Gabriel Barylli: Honigmond

Kammerspiele Wien
Premiere: 30. November 2006
Spieldauer: ca. 1 Stunde 45 Minuten, eine Pause
Regie: Gabriel Barylli
Bühne: Rolf Langenfass
Kostüme: Michel Mayer

Christine Kowalsky: Ruth Brauer-Kvam
Linda Rosenbaum: Eva Maria Marold
Barbara Wenger: Elke Winkens

Wiener Kammeroper: »A Good Man« – die Seele ist ein weites Land

David Durham/© Christian Husar

Musicals in der Wiener Kammeroper sind in den letzten Jahren immer sehenswert gewesen. Musicals in der Wiener Kammeroper, betonen wir mal das “Wiener”, haben in den letzten Jahren auch die Kritiker in der Mehrzahl für gut befunden, sehen wir mal von den üblichen Verdächtigen ab, die im Standard und der Presse nebenbei auch Musicals besprechen. Dass Musicals in Wien gute Kritiken bekommen, ist keine Selbstverständlichkeit. Musicals und Wien, das passt nicht, da ist zu viel Unmut da. Wiener Kritiker und Musicals, das ist wie Rapid gegen Austria. Da fliegen die Wuchteln so tief, dass dem Rasenwart vom Happel-Stadion die Arbeitslosigkeit droht. Kein Mensch kann nachvollziehen, warum das so ist, aber wer kann schon rational begründen, wie es Hans Krankl in die Charts geschafft hat oder Herbert Prohaska zum Kommentator beim ORF. Kaum begibt man sich ein paar Kilometer außerhalb Wiens, wird sogar eine Nonsens-Show wie “Carmen Cubana” als “fast broadwayreif” abgefeiert, während in der Bundeshauptstadt fast nur Ramsch auf der Bühne vor sich hinmusicalt - so die einschlägige Meinung der Musicalmähdrescher. Das ist zwar unverständlich, aber eben nicht zu ändern.

Genug über Wir-mögen-keine-Musicals-Kritiker, wir sind ja eigentlich in der Wiener Kammeroper und erleben die Uraufführung der Show “A Good Man”. Die Handlung des neuen Musicals von Ray Leslee (Musik) und Philip S. Goodman (Buch & Texte) ist im Mississippi des Jahres 1946 angesiedelt. Albert, ein schwarzer Farmpächter, hat es nicht leicht im Leben. Das, was er aus dem Boden, den er bestellt, erntet, ist auf dem Markt immer weniger wert. Er wohnt in einem Haus, das ihm nicht gehört, und hat eine Familie, die er durchfüttern muss. Trotz aller Widrigkeiten liebt Albert sein Leben und das Land, das er bestellt. Als seine Frau Louella nach zehn Jahren noch einmal schwanger wird, möchte er ein Zeichen setzen, er möchte “sein” Haus weiß streichen. Schlechte Idee. Erstens wird ihm vom weißen Landbesitzer John Tittle (überzeugend gespielt von Charles Hensley) erklärt, dass das Haus, in dem Albert wohnt, mit Sicherheit nicht Alberts Eigentum ist. Das um die Ohren geknallt zu bekommen, ist schon mal Erniedrigung genug für einen Tag. Doch John Tittle ist an und für sich nicht das größte Problem. Es sind die “eigenen Leute” und die Nachbarn, die Albert das Leben zur Hölle machen ab dem Tag, an dem bekannt wird, dass ein Schwarzer sein Haus weiß streichen will.

Ein Spiel mit Symbolhaftem, das ist es, was das Kreativteam mit “A Good Man” auf die Bühne gestellt hat. Symbolhaftes finden wir im Text, in der Musik, im Bühnenbild. Man kann, wenn man es so empfindet, manches als allzu klischeehaft gepinselt bezeichnen - wenn man das so empfindet -, ich meine aber, dass man sich auch auf diese Symbolsprache einlassen kann. “A Good Man” lebt von einer auf schwarz und weiß reduzierten Farben- und Set-Design-Sprache, nur dass schwarz und weiß sehr bunt daherkommen. Schwarz und weiß, das kommt im Set Design praktisch nicht vor. Wir haben tiefblau und rot, wir haben dunkle Gelbtöne, der Rest des Spektrums ist ausgeblendet. Es ist eine recht aggressive, reduzierte, gefühlsintensive Farbensprache, in der das um noch eine Stufe reduziertere Set Design knallig, fast comicartig, zur Wirkung kommt. Da reicht dann schon die Andeutung eines Hauses, da reicht eine aus Pappe ausgeschnittene Kuh oder ein aus Pappe ausgeschnittenes Auto, ein kitschiger Mond projiziert auf eine vor Blau nur so glühende Leinwand. Fast möchte man meinen, die Dialoge seien dann noch um eine Stufe reduzierter, reduziert auf die brutalen archaischen Grundzüge des Rassismus und darauf, wie Rassismus alles innerhalb einer Gesellschaft, einer Dorfgemeinschaft, einer Familie, einer Ehe prägt.

Alle handelnden Personen in “A Good Man” haben sich in die Strukturen einer rassistischen Gesellschaft eingefügt. Die einfache, plakative Sprache dieses Stückes hat ihre poetischen Momente, aber es ist kein Platz, um über das Problem Rassismus an sich zu philosophieren, um Gefühle miteinander auszudiskutieren. Die Auswirkungen des Rassismus bekommen wir als Zuschauer vor allem durch drastische Effekte, Gefühlsausbrüche vermittelt. Die Ebene der echten Gefühle ist großteils in die Songs und in das nonverbale Spektrum des Schauspielens verlagert. Keines der Lieder ist beispielsweise im Sinne eines Michael Kunze handlungsfördernd, die Songs in “A Good Man” offenbaren vor allem die Gefühle der handelnden Personen.
Wenn David Durham in der Rolle des Albert von einem weißen Haus singt (”White House”, 1. Akt), mit all seiner Stimm- und Darstellungskraft, dann wird innerhalb dieses Songs das Fenster aufgestoßen zu all dem, was in ihm vorgeht. All das Plakative, Beengte, Reduzierte des Set Designs, der Farbensprache weicht dann der unendlichen Weite dessen, was David Durham mit seiner Stimme auszudrücken vermag - gemeinsam mit der Band unter der Leitung von Michael Schnack und der Kunst von Richard Österreicher an der Mundharmonika zeichnet Durham seine Seelenlandschaft, seine Träume von einer besseren Welt in den Zuschauersaal. Man sollte nie den Zauber einer Mundharmonika unterschätzen, und im Score von “A Good Man” spielt dieses Instrument eine gewichtige Rolle. Richard Österreicher wird mit Recht als Meister des Mundharmonikaspiels bezeichnet. Mit seinen Phrasierungen setzt er wichtige Stimmungsakzente. Die Band (Klavier: Michael Schnack, Gitarre: Franz Scharf, E-Bass: Stephan Först, Drums: Oliver Gattringer, Mundharmonika: Richard Österreicher) liefert den perfekten Soundtrack zu Blues, R’n'B, Spirituals, zu Jazz, zu Balladen mit Gospeltouch. Auf diesem Soundteppich kann eine Ausnahmekünstlerin wie Carole Alston als Granny ihr Solo “Prayer”, eines der stilleren Highlights der Show, präsentieren, Stephen Shivers als Priester Tom feiert eine Dreiminuten-Gospelmesse, Amber Schoop (Louella), Lerato Sebele (Lettie), Alvin Le-Bas (Hardway), Cedric Hayman (Augustus) und Quentin Gray (Cooter) vervollständigen das stimmkräftige Ensemble.

Mit “A Good Man” hat die Wiener Kammeroper auch 2006 einen Erfolg gelandet, und, wenn man sich was wünschen darf, so wäre auch mal ein Musical von Jason Robert Brown oder William Finn eine Überlegung wert.

“A Good Man”

Kreativteam:
Musik: Ray Leslee
Buch & Texte: Philip S. Goodman
Basierend auf einer Novelle von Jefferson Young
Musikalische Leitung: Michael Schnack
Inszenierung: Esther Muschol
Ausstattung: Thomas Goerge
Lichtdesign: Lukas Kaltenbäck
Spielleitung und Inspizienz: Wladimir Koshinow
Korrepetition: Sabri Tulug Tirpan
Regiehospitanz: Uta Meyer, Olivia Rode
Technische Leitung: Herbert Herl
Bühnenmeister: Peter Nagele
Beleuchtung und Ton: Gregor Neuwirth
Dekorationswerkstätte: Manfred Regner
Kostümwerkstätte: Christina Pfeifhofer, Gundula Michel
Maske: Elisabeth Stanitz

Cast:
Louella: Amber Schoop
Lettie: Lerato Sebele
Albert: David Durham
Cooter: Quintin Gray
Granny: Carole Alston
Preacher Tom: Stephen Shivers
Augustus: Cedric Hayman
Hardway: Alvin Le Bass
John Tittle: Charlie Hensley

Band:
Klavier: Michael Schnack
Gitarre: Franz Scharf
E-Bass: Stephan Först
Drums: Oliver Gattringer
Mundharmonika: Richard Österreicher

Songs:
Mule Song (Albert)
Long Brown Woman (Augustus, Co.)
White House (Albert)
New Orleans (Louella, Albert)
Pictures (Cooter, Lettie, Granny)
Figurin’ Paint (Company)
Take Me Home (Preacher Tom, Co.)
Prayer (Granny)
I Got A Right (Albert)
Independence Day (Men)
One Man (Lettie)
How The Happy Girl Got Lost (Louella)
A Babe in Jesus’ Arms (Preacher Tom)
Lay-By (Albert)
Rain Man (Cooter, Lettie)
Celebration (Preacher Tom, Co.)
Night Moves (Albert, Louella, Cooter)
The Numbers Game (Hardway)
Raggedy Man (Albert)
Wheel Come Round (Albert)

Aufführungstermine:
Weitere Vorstellungen: 23., 24*., 25., 28., 30. November 2006;
02., 05., 07., 09., 12., 14*., 16., 19*., 21. Dezember 2006
* Theater der Jugend (geschlossene Vorstellung)
Beginn: 19.30 Uhr

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Musical-Lounge-Konzert der VBW am Wiener Rathausplatz

Am 26. Oktober 2006 gaben die Vereinigten Bühnen Wien am Wiener Rathausplatz ein rund einstündiges Konzert mit den aktuellen Stars des Musicalunternehmens Susan Rigvava-Dumas, Uwe Kröger, Maya Hakvoort, Matà© Kamarà¡s, Marjan Shaki und Wietske van Tongeren. Stilistisch war die Show zweigeteilt in einen von Moderator Alexander Goebel als “Musical-Lounge” bezeichneten Teil und einen Teil, in dem es Songs aus “Chicago”, “Rebecca”, “Hair”, “Grease” und der “Rocky Horror Show” in der klassischen Variante zu hören gab.
Innovativ war der “Musical Lounge”-Teil. Herbert Pichler, bekannt unter anderem als Dirigent des “Dancing Stars”-Orchesters, demonstrierte da die hohe Kunst des Arrangierens. Songs aus “Romeo & Julia”, “Elisabeth”, “Mozart!” und “Tanz der Vampire”, inszeniert als eine Mischung aus Jazz, Swing, Big-Band-Snippets, Chill-Out und was nicht noch alles. Ein Konzept, das man gerne mal auch in CD-Qualität hören würde.

Die Songs:

Intro
All that Jazz (Hakvoort)
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Musical-Lounge
Herrscher der Welt (Perman, Kamaras)
Wie wird man seinen Schatten los? (Kamaras)
Gold von den Sternen (Hakvoort)
Totale Finsternis (Shaki, Perman)
Die Schatten werden länger (Perman, Kamaras)
Der letzte Tanz (Kamaras)
Ich gehör nur mir (Hakvoort)
—————————————
Rebecca (Rigvava-Dumas, van Tongeren)
Mein Gott, warum (Kröger)
Hilf mir durch die Nacht (Kröger, van Tongeren)
You’re the one that I want (Shaki, Kamaras)
Let the sunshine (Shaki, Hakvoort, Perman, Kamaras)
The Time Warp (Shaki, Hakvoort, Perman, Kamaras, Goebel)

Wer eine Dernià¨re besucht, hat viel zu erzählen

Die Dernià¨re von “Romeo & Julia” im Wiener Raimund Theater war eine lehrreiche Erfahrung, was aktuelle Verhaltensweisen im Theater anlangt. Man kann, wenn man möchte, einige Typen von Theaterbesuchern isolieren:

1) Die internen Mobilkommunizierer
Hat man das Pech, nicht zwei Plätze nebeneinander bekommen zu haben, um während des Stückes LAUT an den GANZ LEISEN Stellen der Show miteinander zu quasseln, KEIN PROBLEM, wozu gibt es Mobile Devices. Schicken wir uns doch einfach SMS, SO OFT es nur geht. Kein Problem, dass das Handydisplay vielleicht ein bißchen grellhell sein könnte. Die Leute hinter mir? Na die seh ich ja nicht, und wenn die was stört, puh. Die neben mir, jo mei. Und die vor mir sehen tatsächlich nichts. Es gibt nun einige Unterarten dieser Spezies. Beispielsweise die Klammerer. Sie halten das Handy die ganze Show über in der Hand und testen alle paar Minuten, ob nicht doch eine SMS gerade neu angekommen ist. Eine andere Spezies geht es gemächlicher an und lässt das Handy lässig am Schoß liegen, bis denn das Display zu strahlen beginnt. Eine dritte Spezies macht es ein klein wenig unauffälliger. Sie verstaut das Handy in der Handtasche und nimmt es alle paar Minuten heraus, um wichtige Botschaften zu senden beziehungsweise zu empfangen. Was wird eigentlich intern kommuniziert? Fragen Sie lieber nicht!

2) Die Gerührten
Die Gerührten sind bei einer bestimmten Stelle emotional so mitgenommen vom dargebotenen Stück, dass ihnen das Wasser buchstäblich hochsteigt und sie aufschnupfen müssen. Nichts Schlimmes daran, das passiert schon mal. Schlecht aber, wenn man von der Handlung derart fasziniert ist, dass man auf so nette Erfindungen wie das faltbare Taschentuch, wahlweise aus Stoff oder Papier, vergisst. Noch schlimmer, wenn man beispielsweise schon nach fünf Minuten so “mitgenommen” ist und dann fortwährend alle exakt 17,5 Sekunden laute Geräusche von sich gibt, die die Betroffene selbst gar nicht mitbekommt, weil sie derart fasziniert an den Lippen von Romeo, Mercutio oder einem anderen Darsteller hängt. Diese Geräusche wandern wahlweise in den linken oder rechten Gehörgang, und ich darf dem geneigten Leser im Vertrauen mitteilen: Nach 60 Minuten löst das mitunter tatsächlich nicht nur Anzeichen von Aggression aus, sondern ist auch mit körperlichen Schmerzen verbunden. Man kann das erst nachvollziehen, wenn man es erlebt hat. Natürlich könnte man der Gerührten ein Taschentuch anbieten, aber wer weiß, vielleicht würde sie dann völlig die Fassung verlieren, und wer will das schon riskieren? Probieren kann man es damit, bei jedem Aufschnupfer etwas gekünstelt zusammenzuzucken und die Verursacherin des Geräusches mal kurz zu fixieren. Ja, manchmal funktioniert das, meistens dann, wenn das angebetete Bühnengeschöpf auf der Bühne gerade den letzten Ton ausgeröchelt hat und bereits in der Kantine ein Bierchen süffelt. Meistens wartet dann die Aufschnupferin auf eine Szene, die sie nicht interessiert, vorzugsweise eine ganz leise, wunderschöne Ballade, und holt dann eine knisternde Packung Taschentücher heraus, um das gewisse Bedürfnis LAUT zu stillen.

3) Die Kreischer
Zugegeben, das kann man fast nicht mehr als Minderheit bezeichnen, aber dennoch, eine merkwürdige Gattung. Wenn man sie in der Pause beobachtet, sind sie durchschnittliche kleine junge oder auch große und alte oder wie auch immer weibliche Wesen, und, ja, auch männliche, wie man zuerst aufgrund des Kreischgeräusches gar nicht vermutet hätte. In Fankkreisen gelten jene Mitglieder der Gruppe als besonders ambitioniert, die einen Gehörsturz schon im ersten Akt auslösen können, sagt man. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin sehr für gute Stimmung im Theater, für Ausgelassenheit, aber ich würde, wenn möglich, gerne das Theater halbwegs als gesunder Mensch verlassen. Und wenn es dann noch möglich wäre, würde ich gerne die Lieder ganz hören. Wenn beispielsweise Lukas Perman “Ohne sie” im Dialekt singt, kann ich weder schrilles und glucksendes LAUTES Lachen noch Kreischen ganz nachvollziehen. Ganz allgemein bevorzuge ich persönlich Applaus, um mein Wohlgefallen zu äußern, und manchmal ein lautes “Bravo”. Durchgängiges schrilles Kreischen, nunja, ich kann schon die Musiker im Orchestergraben verstehen, die sich da die Ohren zuhalten müssen, weil sie sonst einfach nicht weitermachen könnten.

4) Die Mitdirigierer
Eine weitere Spezies sind die Mitdirigierer. Sie sind nicht etwa wie die Sanitäter für Notfälle anwesend, sollte dem Dirigent ob des Gekreisches der Kragen oder wahlweise auch das Trommelfell platzen, sie machen das, wie soll man es bezeichnen, aus Spaß an der Freud. Flink zuckt das Händchen, manchmal auch beide Händchen, und so schnell hast du nicht geschaut, werden Einsätze und neue, fantasievolle Tempi in die Luft gezeichnet, da ist Caspar Richter mit Gedanken noch ganz woanders. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich lenkt dieses halbspastische Gehabe ETWAS ab.

5) Die lautlosen Karpfen
Wenden wir uns ganz kurz noch einer letzten Gattung zu (nicht, dass es nicht noch viel mehr davon geben würde, aber davon vielleicht ein anderes Mal mehr). Stellen Sie sich vor, sie genießen ein Musical, es wird gerade eine wunderschöne Ballade gegeben, und Sie hören den Sitznachbarn leicht glucksen. Sie gucken nach dem dritten Glucksen vorsichtig hinüber und sehen eine gerade atemberaubende Anstrengung ihres Sitznachbarn, die Ballade tonlos mitzusingen. Es ist diese Anstrengung mit einem Anspannen und Entspannen enorm vieler Gesichtsmuskel verbunden - und sieht einfach ziemlich lächerlich aus. Es hilft alles nicht, Sie müssen einfach ab diesem Zeitpunkt ab und an rübersehen, um das faszinierende Muskelspiel zu beobachten - und ein klein wenig auch deswegen, weil man ja nicht sicher sein kann, ob es nicht doch ein Anfall sein könnte, und dann würde ja der oben erwähnte Sanitäter gerade recht kommen.

Natürlich ist es nicht häufig der Fall, dass sich all die angeführten Verhaltensweisen in ein und derselben Person vereinigen, aber das Leben ist hart, und so kann es schon vorkommen, dass man neben sich einen mitdirigierenden Mobilkommunizierer hat, der Mark Seibert-Fan ist und dem, aufgrund eines fehlenden Taschentuchs oder mangelnder Gelegenheit neben SMS und Dirigentenverpflichtung, der - Pardon! - Rotz Gefahr läuft, einfach, nunja, rauszutropfen, während er in völliger Hingerissenheit “Ich bin schuldlos” mitgluckst. Manchmal ist das Leben tatsächlich hammerhart.

Ich verstehe das ja. Es ist in Zeiten wie unseren schwer, mal 67 Minuten am Stück still zu sitzen. Ich habe dafür wirklich das allergrößte Verständnis und schlage vor, Walk-around-Vorstellungen in den Spielplan zu implementieren. Für diese speziellen Aufführungen gibt es keine fixen Sitzplätze, man muss nämlich auch gar nicht sitzen. An verschiedenen Hotspots werden Erfrischungen und kleine Häppchen gereicht, im ersten Rang ist Rauchen erlaubt, im 2. “Mensch ärgere dich nicht” und ausgewählte Rollenspiele. Die Darsteller bekommen für diese ganz speziellen Abende nur die halbe Gage, weil das Publikum sowieso zu 50 Prozent mit sich selbst, seinen Kommunikations- und sonstigen Bedürfnissen beschäftigt ist.

Nun wie auch immer, die Dernià¨re von “Romeo & Julia” war dennoch wunderschön und ich bin schon gespannt, wer beim nächsten Mal neben mir sitzen wird.

Wiener Metropol: »Hedwig And The Angry Inch«

»Hedwig And The Angry Inch«, ein Musical von John Cameron Mitchell (Text) und Stephen Trask (Music/Lyrics), feierte am 23. März 2006 im Wiener Metropol seine österreichische Erstaufführung. Aber reden wir mal nicht von der Premiere. Überspringen wir ein paar Aufführungen und schauen wir uns einen der letzten Abende an. Wir kommen im Metropol an, gelegen in einem etwas abgefuckten Viertel Wiens, gehen durch einen dunklen Hof, ein paar Stufen rauf zum Eingang des Metropol – und betreten eine Art Club. Das Licht ist angenehm gedimmt, Platz finden hier, wenns voll ist, so um die 400 Leute. An diesem Abend ist es nicht voll, bei weitem nicht. Piekfein ist es hier auch nicht, der Raum strahlt eine gemütliche Atmosphäre aus. Die Bühne dominiert den Saal, das zweitwichtigste ist die Bar – eine Riesenbar, eher schmuddelig. Sie nimmt den gesamten hinteren Bereich des Saals ein. Vor der Bühne stehen runde kleine Tischchen mit je einer kleinen billigen elektrischen Lampe. Das ist die Kulisse für »Hedwig«.
Am Abend der Premiere war das Metropol rappelvoll, jetzt sitzen vielleicht 50 bis 60 Leute an den Tischchen, die Sessel auf den »Rängen« links und rechts sind weggeräumt worden. Und auch wenn das mangelnde Interesse der Wiener an der Show eine Schande ist, eine perfektere Kulisse für »Hedwig And The Angry Inch« kann man sich schwer vorstellen. Denn Hedwig ist genau das gewöhnt. Spärlich erscheinendes Publikum, kleine Clubs, in denen sie Abend für Abend ihre Story erzählt. Eben noch in einer billigen Kneipe in Sonstwo ist sie nun im Rahmen ihrer Welttournee in Wien gelandet. »Ladies and Gentlemen, ob Sie es wollen oder nicht: HEDWIG«, so lautet der erste Satz der Show.
Dann ist sie da: Hedwig betritt den Saal vom Eingangstor aus, stolziert wie ein Pfau, der sein buntes Gefieder zeigt (herrlich durchdacht die Kostüme von Torsten Fischer), durch den Zuschauerraum in gleißendem Licht auf die Bühne, und ab geht die Post: »Hedwig And The Angry Inch«, das »Neo-Glam-Post-Punk-Rock-Musical«. Hedwigs Band (Schlagzeug: Markus Adamer; Bass: Matthias Petereit; Gitarre: Harry Peller; Gitarre & Keyboard: Bernhard Wagner) spielt hart, das Sounddesign ist auf rough bis knackig und auf jeden Fall laut getuned, das passt. Die vier Musiker sind nicht einfach als Band auf der Bühne, jeder einzelne ist Mitspieler im theatralischen Sinne. Nicht so einfach, eine Show lang »angry« dreinzuschauen, aber die Burschen, ganz auf Punkrocker gestylt, schaffen das locker. Die Songs klingen schmutzig, nicht ganz so schräg wie in der Musicalverfilmung, dafür einer Spur treibender.
Andreas Bieber, ursprünglich vom Schauspiel kommend, gestaltet Hedwig von der ersten Sekunde an überzeugend. Beeindruckend die Konsequenz, mit der er sich in die schrille und oft (peinlich) berührende Bühnenfigur Hedwig verwandelt. Enorme Konzentration, perfekte Körperspannung, ausdrucksstark in Mimik und Gestik. Als Zuschauer ist man keine Sekunde mit Andreas Bieber, dem Musicalstar, der auch schon »Joseph« war und ja, okay, auch mal Barbarellas Lustroboter, konfrontiert. Von der ersten Sekunde an erlebt man Hedwig, und das zeigt den wahren Schauspieler, der es sichtlich genießt, nicht süß und lieblich sein zu müssen, sondern mal den ganzen Facettenreichtum seines Könnens zeigen zu können. Die Songs, einige wie »Wicked Little Town« oder »Wig in a Box« haben längst den Status von Evergreens erreicht, interpretiert Bieber mit Spielfreude und gewohnt perfekter und klarer Intonation.
Aber wer ist Hedwig? Welche Geschichte erzählt sie uns? Im Ost-Berlin der späten Achtziger lebt Hansel. Er will weg, am besten in den Westen. Die Chance kommt, als ein GI sich in den androgynen Knaben verliebt. Der will ihn mitnehmen, aber erst nach einer Geschlechtsumwandlung. Doch die Operation, die aus Hansel Hedwig machen soll, geht schief. Ein Inch (2,54 cm) vom alten Geschlecht bleibt übrig. Ein Jahr später sieht Hedwig im Fernsehen den Mauerfall vom 9. November 1989 – mittellos und von ihrem »Sugar Daddy« verlassen in einem Trailerpark in Kansas. Als schrille Drag Queen tingelt Hedwig durch die amerikanische Provinz und erzählt dem Publikum in wilden, komischen und zornigen Liedern ihre verrückte Geschichte. Bei einem der Jobs, mit denen sie sich über Wasser hält, lernt sie einen Jungen namens Tommy Speck kennen, dem sie alles über Musik und Entertainment beibringt – mit dem Ergebnis, dass dieser als »Tommy Gnosis« mit von ihr verfassten Songs zum Rock-Superstar aufsteigt, während Hedwig erneut verbittert und allein zurückbleibt. Der Zufall will es, dass gleichzeitig mit ihrem Auftritt im Metropol nur ein paar hundert Meter weiter in der Wiener Stadthalle Tommy Gnosis gastiert.
Hedwigs Geschichte ist eine Story rund um enttäuschte Liebe, Sehnsüchte, die Suche nach Identität, also rund um die klassischen Themen des Musiktheaters und des Theaters schlechthin. Autor & Performer John Cameron Mitchell hat mit seinem Werk eines der »natürlichsten« Musicals überhaupt geschaffen. Wenn in Musicals Darsteller manchmal zu singen beginnen, ohne dass man nun konkret wüsste, wieso, so nimmt man das als Zuschauer halt hin, schließlich weiß man, wofür man Eintrittsgeld bezahlt hat (im besten Fall). Bei Hedwig ist das Verhältnis Text–Musik ein völlig anderes. Die Musik unterstützt immer die erzählte Geschichte. Es hat immer einen Grund, warum ein Song kommt. Torsten Fischer, Regisseur der Show, sieht bei diesem Aspekt Parallelen beispielsweise zum Werk Friedrich Schillers: Wenn die Prosasprache, etwa im Drama »Die Jungfrau von Orleans« in jener Szene, in der sich die Protagonistin verliebt, nicht mehr ausreicht, spricht sie in Reimen, um auszudrücken, wie groß ihre Gefühle sind. In dem Moment, wo die Geschichte mit der herkömmlichen Sprache nicht mehr weiterzuerzählen ist, wird die Sprache erweitert. Angewandt auf »Hedwig«: Es kommt immer dann eine Gesangsnummer, wenn Hedwig von ihren Emotionen übermannt wird und das Lied fast explosionsartig aus ihr herausbricht. Gesungen wird nur dann, wenn die Spannung einen ihrer vielen Höhepunkte erreicht hat und Hedwig nicht mehr anders kann, wenn Sprache versagt und eine Symbiose mit der Musik eingehen muss, um die ganze Gefühlsdimension zum Ausdruck zu bringen – auf direkteste Art und Weise.
»Hedwig And The Angry Inch« feierte seine Uraufführung 1994 im New Yorker Gay Rock Club Squeezebox, kam 1998 an den Off-Broadway, wo es zwei Jahre lang für Furore und Fankult sorgte. Die Hed-Heads wurden zur Legende. Hedwig wurde zum Kultstück. Mit ein Grund für den Erfolg ist das Konzept der Show. John Cameron Mitchell kombiniert das Gedankengut Platons mit einem Touch von «Rocky Horror«, Drag & Trash. In Platons Schrift »Symposion« findet sich der berühmte Mythos von den Menschen als geteilten Doppelwesen, die ihre verlorene Hälfte in sehnsüchtiger Liebe suchen. Sie hatten zwei Köpfe, zwei Gesichter, konnten sich aber nicht sehen. Die Götter fanden diese Wesen zu stark und zu stolz und trennten sie. Da konnten sich diese nun getrennten Doppelwesen zum ersten Mal sehen – und in dem Moment entstand die Liebe. Liebe zwischen Mann und Frau, die Suche nach einer Identität, Berlin als Symbol der Trennung von Ost-West, Arm und Reich, politischer Freiheit – all das sind die Themen, die aus «Hedwig« ein Musical mit Inhalt machen. Die witzige, trashige Geschichte bietet dem Zuschauer enorm viel Freiraum für die unterschiedlichsten Interpretationen, jeder nimmt das mit aus der Show, was er hineininterpretiert oder herausliest. Als besonders gelungen ist die deutsche Übersetzung von Gerd Köster und Herbert Schäfer zu bezeichnen. Neben Andreas Bieber brilliert die stimmgewaltige Anke Fiedler als bärtiger Yitzak, Freund, Faktotum und Zielscheibe für Hedwigs Spott. Wenn Hedwig sich am Ende der Show in Tommy Gnosis verwandelt, der Raum sich verklärt, alle Zuschauer ihre Hände heben und wie in Trance zu »Midnight Radio« mitschwingen, dann vereint sicher der Zauber von Hartmut Litzingers Lichtdesign mit Andreas Biebers Showtalent – das sind jene raren Momente, wo man tatsächlich alles um sich vergisst und sich ganz eins fühlen darf mit der Musik.

»Hedwig And The Angry Inch«
Text: John Cameron Mitchell
Musik/Lyrics: Stephen Trask
Deutsche Übersetzung: Gerd Köster & Herbert Schäfer
Premiere: 23. März 2006
Darsteller: Andreas Bieber & Anke Fiedler
Musikalische Leitung, Gitarre: Harry Peller
Schlagzeug: Markus Adamer
Bass: Matthias Petereit
Gitarre & Keyboard: Bernhard Wagner
Inszenierung: Torsten Fischer
Raum: Herbert Schäfer
Leitung Bühneneinrichtung: Hannes Peyer
Lichtdesign: Hartmut Litzinger
Licht: Roman Grimps & Joe Albrecht
Ton: Andreas Früchtl & Rossen Stoimenov
Kostüme: Torsten Fischer
Kostümbetreuung: Sonie Wenig, Nina Korecky, Miriam Schädel & Anne Weinberger
Maskendesign & Durchführung: Urs Preinfalk & Alexandra Steininger
Regieassistenz: Paul Prangenberg
Regiehospitanz: Olivia Rode
Produktionsleitung: Inge Sowinetz
Technische Leitung: Roman Grimps
Inspizienz: Caro Welzs & Andreas Trinbacher

Bret Easton Ellis in Wien - das Leben eine Charade

Theater Rabenhof, Wien 2006 (Foto: © Martin Bruny)
Bret Easton Ellis war in der Stadt. Im Theater Rabenhof gab der umstrittene Kultautor (”American Psycho”) am Donnerstag, den 16. März 2006, einen Leseabend, um seinen neuesten Roman “Lunar Park” in angenehmem Ambiente zu promoten.
Theater Rabenhof, Wien 2006 (Foto: © Martin Bruny)
Wieso hat Ellis diesen Abend eigentlich nicht alleine bestritten - aus seinem Roman zu lesen, ein paar Fragen zu beantworten, das hätte völlig gereicht. So aber steuerten die Veranstalter den Schauspieler Heinz Weixelbraun (”Kommissar Rex”) bei, der Passagen aus der deutschen Übersetzung von “Lunar Park” etwas sehr outrierend zum Besten gab. Sein Tonfall, der wohl eher bei einem, keine Ahnung, altmodischen Detektivroman angebracht gewesen wäre, war unangenehm, die Aussprache der wenigen verbliebenen Anglizismen war meistens daneben. Immer wieder sah sich Weixelbraun genötigt, Worte rauszubrüllen - passend war das nicht, vor allem, wenn man davor/danach Bret Easton Ellis beim Vortragen erleben durfte. Das war unaufgesetzte Coolness, ein Lachen über sich selbst, unterhaltend, ohne bemüht zu klingen.
Ach ja, einen Moderator gab es auch, Claus Philipp. Zu verkrampft, zu uninteressante Fragen, das meiste davon konnte man schon am Tag davor in diversen Interviews lesen, doch selbst auf langweilige Fragen reagierte Ellis sympathisch, witzig, clever wechselnd vom angenehmen Gesprächspartner zum unangreifbaren Kultautor, der seinem Interviewgegenüber dann doch manchmal sehr direkt zu spüren gab, wie langweilig er die eine oder andere Frage fand.
Bret Easton Ellis, Wien 2006 (Foto: © Martin Bruny)
So verbindlich Ellis sich gab, so angreifbar er sich machte, man sollte nie vergessen, dass man es hier nicht mit irgendeinem Proll zu tun hat, der Heimatromane schreibt und jeden Schmarrn beantwortet. Naja, jeden Schmarrn beantworten - vielleicht doch. Bei der anschließenden Signierstunde konfrontierte ich den Autor mit der Frage, ob er in Erwägung ziehen würde, das Buch zu einem Musical zu schreiben. Ellis darauf: “Ja, würde ich in Erwägung ziehen.” Und wovon würde das Musical dann handeln? Die kurze Antwort ist als MP3 downloadbar - zu mehr kam es nicht, weil Brets Verlegerin herbeistürmte und das vermeintliche Interview beendete, weil, nein, nein, Herr Ellis gibt heute keine Interviews mehr. Ellis darauf zum vermeintlichen Interviewer: “Don’t worry.” Ein bisschen entspannter sollte man schon sein, wenn man Bücher von Bret Easton Ellis verlegt.
Bret Easton Ellis, Wien 2006 (Foto: © Martin Bruny)
Am Beginn des Leseabends stand die Frage: “Wer ist Bret Easton Ellis?” Der Moderator meinte, einige Journalistenkollegen hätten ihm genau diese Frage vor der Show gestellt. Nun, während der Veranstaltung hat man viel über das Konstrukt Bret Easton Ellis erfahren, Biographisches, Banales (bezugnehmend auf das Namedropping-Faible des Autors wurde er nach den Herstellern jener Kleidungsstücke gefragt, die er grade am Leib trug, und mit Wonne gab er darauf Antwort) - viel hat man auch über die Art und Weise erfahren, wie Ellis sich selbst im Literaturbetrieb sieht, was er liest, was er gerne schreiben würde, war er fast geschrieben hätte - immer aber blieb da die Frage, ob man tatsächlich etwas über Bret Easton Ellis, den realen Autor erfahren hat, oder über ein Konstrukt, das von Ellis geschaffen wurde, die Hauptrolle in seinem neuen Buch spielt und wie sein Double durch die Welt läuft. Aber vielleicht ist auch diese Charade-artige realunwirkliche Existenz eines der Erfolgsrezepte des Autors.
Bret Easton Ellis, Wien 2006 (Foto: © Martin Bruny)

“Once on this Island” (Konservatorium Wien)

Vom 27. Januar bis 2. Februar 2006 stand das Konservatorium Wien ganz im Zeichen karibischer Rhythmen. Als deutschsprachige Erstaufführung (deutsche Übersetzung: Johannes Glück) wurde “Once On This Island” gegeben – ein Tanzmusical, basierend auf dem Roman “My love, my love: Or The Peasant Girl” von Rosa Guy. 1990 feierten Lynn Ahrens und Stephen Flaherty (”Lucky Stiff”, “Ragtime”, “Seussical”, “A Man Of No Importance”) mit dieser karibischen Musicalversion von Hans Christian Andersens Märchen von der kleinen Seejungfrau ihren ersten großen Broadway-Erfolg (8 Tony-Nominierungen, 1 Drama Desk Award-Nominierung und der Theatre World Award für die Darstellerin LaChanze). Im New Yorker Booth Theatre stand die Show vom 2. Oktober 1990 bis 1. Dezember 1991 am Spielplan und brachte es auf insgesamt 19 Previews und 469 reguläre Aufführungen.

“Once On This Island” läuft auf zwei Handlungsebenen ab. Auf der kleinen karibischen Insel “Juwel der Antillen” tobt ein Sturm. Geschichtenerzähler versuchen ein verängstigtes Kind mit einem Märchen zu beruhigen (Handlungsebene 1) – sie erzählen von Ti Moune, einem armen Bauernmädchen, das Daniel, einem Jungen der Upperclass, nach einem Autounfall das Leben rettet und sich rettungslos in ihn verliebt. (Handlungsebene 2) In der strengen Zweiklassengesellschaft dieser Insel der Dritten Welt haben die beiden keine Chance, aber hey, wir sind ja mitten drin in einem Märchen. Auftritt: die Götter der Erde, des Wassers, der Liebe und des Todes. Sie lenken das Schicksal der jungen Liebenden und senden Ti Moune auf eine Reise, die die Kraft ihrer Liebe auf die Probe stellt. Am Ende bleibt es dabei, die beiden haben tatsächlich keine Chance. Daniel heiratet Andrea, ein Mädchen seiner eigenen Gesellschaftsschicht. Kein schmalziges Happyend, vielmehr ein sinnlich-poetisch-verklärendes: Die Götter verwandeln Ti Moune in einen Baum, der fortan über die Nachkommen Daniels wacht. Das kleine verängstigte Mädchen schläft friedlich ein.

Ahrens/Flaherty haben es mit ihrem Musical geschafft, eine kleine karibische Soundmärchenwelt zu kreieren, in die man nur zu gerne eintaucht. Story und Musik finden einen direkten Weg ins Herz der Zuschauer, die bilderreiche, poetische Sprache ist primär darauf ausgerichtet, Emotionen auszulösen. Text, Rhythmik, Licht und Performance verbinden sich zu einem karibischen Rauscherlebnis, musicalische Ekstase erster Güte.

Das große Plus der Produktion des Konservatoriums Wien: Mit großem Aufwand wurde aus den vorhandenen Mitteln ein perfektes Umfeld für dieses Musicalmärchen geschaffen wurde. Hier haben Sam Madwar (Bühnenbild), Barbara Jan (Licht), Doris Richter (Kostüme) sowie Wilhelm Galli und Karin Neuhold (Maske), Wolfgang Groller (Regie) und Ricarda Regina Ludigkeit (Choreografie) Großartiges vollbracht. Die Bühne strahlt, die Ausstattung und Requisiten sind funktionell und blendend durchdacht. Thomas Faltin (Gitarre), Vera Rausch (Reed), Günther Schiebeck (Bass), Laurinho Bandeira (Percussion) und Peter Uwira (Keyboard, Musikalische Leitung) liefern den Sound, auf dem die Darsteller wie auf Wolken tanzen.
Auf der Bühne zu erleben: Studenten des 2. und 3. Jahrgangs des Konservatoriums Wien: Oliver Arno, Rainer Bräuer, Irena Flury, Andrea Frohn, Donja Golpashin, Elisabeth Heller, Otto Jaus, Peter Kratochvil, Birgit Radeschnig, Nicole Radeschnig, Richard Schmetterer, Elisabeth Sikora, Daniela Sukop, Bernhard Viktorin und Nadine Zeintl. Ein kunterbunter Haufen Talent in völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Nehmen wir Oliver Arno als Beispiel. Er hat im Sommer 2005 bei den Thuner Seespielen in Schönberg/Boublils “Miss Saigon” die Rolle des “Chris” (Zweitbesetzung) verkörpert, im Sommer 2006 wird er in der Schweizer Neuinszenierung von Levay/Kunzes “Elisabeth” als Zweitbesetzung Rudolf zu sehen sein. Im Internet ist er unter www.oliver-arno.com vertreten. Arno ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich heutzutage professionell an den Job eines Musicaldarstellers herantastet. Sein Solo “Andere Frauen” als Daniel in “Once On This Island” liefert er mit seinem angenehmen Broadway-Bariton sehr gefühlvoll.
Jedes der jungen Talente spielt in “Once On This Island” mehrere Rollen, die Hauptrollen wurden doppelt besetzt, was die Vielseitigkeit zusätzlich auf die Probe stellt. Ein Teil des Charmes der Aufführungen von Musicalstudenten ist das zu fühlende Spannungsfeld zwischen noch Amateur oder “in Ausbildung befindlich” und bereits vorhandenem bzw. ausgeprägtem Professionalismus: Man merkt, wie die Darsteller ihre Grenzen testen, ihre Rollengestaltung manchmal selbstbewusst, manchmal noch unsicher von einer zur anderen Vorstellung verändern. Bei manch einem ist erkennbar, dass es noch einiges auf dem Gebiet der Stimmbildung oder des Tanzes zu lernen gilt, aber was beeindruckt, ist die Spielfreude und die Gesamtleistung des Ensembles, da wäre es fast unfair, beispielsweise eine Nadine Zeintl oder eine Irena Flury hervorzuheben, die die Rolle der Ti Moune sehr ausdrucksstark geben, oder eine Elisabeth Heller, die als “Mama” clever besetzt ist – Peter Kratochvil als “Tonton”, Rainer Bräuer als Armand und Richard Schmetterer als Papa Ge, Gott des Todes, nicht zu vergessen. Otto Jaus sollte man einmal eine etwas größere Rolle anvertrauen, könnte auch ganz schön spannend sein. Bernhard Viktorin überzeugt tänzerisch. Eine eindrucksvolle Vorstellung des jungen Ensembles!

“The Little Matchgirl” – Premiere für die erste “Ronacher Mobile”-Show in Wien

In einer berühmten Szene des zum Kultfilm avancierten “Club der toten Dichter” lässt Lehrer John Keating (gespielt von Robin Williams) seine Schüler einzeln auf das Lehrerpult klettern, damit diese sich die Welt, mag sie auch in jenem Moment auf die des Schulzimmers begrenzt sein, mal von oben ansehen – aus einer anderen Perspektive. Exakt das, die Bereitschaft, sich eine andere Perspektive zu gönnen, wird bei den Besuchern der Produktion “The Little Matchgirl” vorausgesetzt. Kathrin Zechner, Intendantin der Vereinigten Bühnen Wien: “Ich möchte meinem Publikum eine neue Facette, die die große Bandbreite des Genres Musical zu bieten hat, näher bringen. Speziell bei den Produktionen für “Ronacher Mobile” liegt mir daran, auch andere Farben – Avantgarde und nicht nur Mainstream – dieser vielfältigen Musiktheaterform zu zeigen.”

“The Little Matchgirl” – frei nach dem Märchen »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« von Hans Christian Andersen – wurde im Sommer 2005 im Betty Nansen Theater in Kopenhagen uraufgeführt. Im Februar 2006 zeigten die Vereinigten Bühnen Wien das Stück mit der englischen 3-Mann-Formation The Tiger Lillies, Mitgliedern des Orchesters der VBW sowie den Schauspielern Laetitia Angot und Bob Goody als deutschsprachige Erstaufführung.

Bei “The Little Matchgirl” handelt es sich um die erste einer Reihe von Produktionen, die die Vereinigten Bühnen Wien mit dem Label “Ronacher Mobile” versehen haben. Um ihren Ruf als ernstzunehmende Player in der deutschsprachigen Musicallandschaft nach der Umwidmung des Theaters an der Wien in ein (selten bespieltes) Opernhaus und während der Renovierung des Ronacher (bis Ende 2007) nicht zu verlieren, möchte man mit der “Ronacher Mobile”-Serie größere und kleinere Produktionen an unterschiedlichen Spielorten zeigen, beispielsweise im Fall von “The Little Matchgirl” im Odeon Theater in der schönen Wiener Leopoldstadt, dem 2. Wiener Gemeindebezirk.

Die Londoner Kultband The Tiger Lillies (Adrian Stout (Kontrabass, singende Säge), Adrian Huge (Schlagzeug) und Martyn Jacques (Akkordeon, Vocals)) verbindet auf ganz eigene Art theatralische und musikalische Aufführung. Der Versuch, ihre Shows mit einem Label zu versehen, ist rettungslos zum Scheitern verurteilt. So mag es durchaus sein, dass die Erwartungshaltung einiger Besucher der “Ronacher Mobile”-Show gar sehr enttäuscht wurde – wenn sie sich eine Musicalproduktion erwartet hatten, denn ein Musical ist “The Little Matchgirl” nicht. “Musical Theatre”, mit diesem schwammigen Begriff könnte man sich in die gefahrfreie Leo-Zone in Zeiten des Definitionsnotstands retten, aber auch das trifft es nicht richtig.

Schauplatz: das Odeon – 1845 bis 1848 Wiens größter Tanzsaal. Im monumentalen Bau vergnügten sich im Vormärz an manchen Abenden bis zu 10.000 Menschen. In diesen Tanzsaal hineingestellt befindet sich eine steil aufsteigende Tribüne mit Sitzplätzen für ca. 300 Besucher. Große Teile der Wände sind mit schwarzen Tüchern verhüllt, so erscheint der Saal kleiner, aber die wahren Dimensionen sind schon allein an der Höhe des Raums zu erahnen. Die “Bühne” wirkt wie ein Puppentheater, in der Tat ist es eine von Regisseur Dan Jemmet speziell entwickelte Guckkastenbühne, unterteilt in sechs Ebenen, die sich wie bei einer russischen Babuschka-Puppe ineinander fügen und nach hinten immer kleiner werden. Links der Bühne werden später die Tiger Lillies musizieren und singen, rechts Musiker der Vereinigten Bühnen Wien. Einen Tisch sehen wir noch, einen Kleiderständer und einen Kühlschrank. Erzählt wird im Folgenden die Geschichte des Mädchens mit den Schwefelhölzern:

An einem kalten, dunklen Sylvesterabend versucht ein armes kleines Mädchen, ohne was auf dem Kopf und mit bloßen Füßen, auf der Straße Zündhölzer zu verkaufen. Als sie das Haus verließ, hatte sie noch zwei viel zu große Pantoffeln, aber die verliert sie: Einen kann sie nicht mehr finden, den anderen stiehlt ihr ein Junge. Das kleine Mädchen geht weiter. Rot und blau gefroren, die Flocken fallen in ihr langes schönes Haar. Nach Hause traut sie sich nicht aus Angst vor ihrem Vater, denn sie hat noch kein einziges Zündholz verkauft. Verzweifelt versucht sich das kleine Mädchen aufzuwärmen, indem es anfängt, die Zünderhölzchen anzuzünden. Mit jedem Aufflammen erscheint ein neues fantastisches Bild vor ihr, das aber sofort verschwindet, wenn die Flamme erlischt. Das erste Bild zeigt einen heißen Eisenofen, das nächste einen voll gedeckten Tisch, auf dem eine gestopfte Gans thront, als Drittes zeigt sich ein schön geschmückter Christbaum, mit Kerzenschmuck und Glitzerschein. Als dieses Schwefelhölzchen verlischt, steigen die Christbaumlichter immer höher auf. Dann sieht sie eine Sternschnuppe fallen. Das kleine Zündholzmädchen erinnert sich an ihre Großmutter – der einzige Mensch, der sie je geliebt hat. Die hat ihr erzählt, wenn eine Sternschnuppe fällt, geht eine Seele hinauf zu Gott. Wieder zündet sie ein Hölzchen an. In dessen Schein sieht sie ihre alte Großmutter. »Oh, bitte, nimm mich mit dir«, weint die Kleine und zündet gleich das ganze Päckchen Streichhölzer an, um ihre Großmutter weiter hier zu halten. Die Großmutter nimmt sie wirklich mit sich in den Himmel, und am Neujahrsmorgen findet man den kleinen gefrorenen Körper, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Martyn Jaques, musikalischer Mastermind der Tiger Lillies, verarbeitete das Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern in einen zwölf Lieder umfassenden Songzyklus, der als szenisches Konzert geboten wird, wobei die Darbietung auf zwei Ebenen abläuft. Einerseits wird das Märchen vom “Little Matchgirl” szenisch aufgeführt, wobei Laetitia Angot und Bob Goody auf allen sechs Bühnen eine Vielzahl an Rollen verkörpern, mal Geschwister, mal Tochter und Vater, oder auch Enkelin und Großmutter. Auf einer anderen Ebene wird die Aufführung des Theaterstücks “The Little Matchgirl” erzählt. Wir sehen einen alten Mann (Bob Goody), der mit nichts anderem beschäftigt zu sein scheint, als die Vielzahl an Bühnenvorhängen aufzuziehen und wieder zu schließen. Jedes Mal, wenn er meint, etwas Zeit für einen Whiskey zu haben, ist einer der zwölf Songs aus, und er muss einen Vorhang schließen und jenen für die nächste Szene aufziehen, um dann gleich auch noch in die Rolle eines der Protagonisten dieser Szenen, und zugleich in die andere Ebene der Show, zu schlüpfen. Die szenische Darstellung auf beiden Handlungsebenen erfolgt stumm, die Tiger Lillies und die Musiker der Vereinigten Bühnen Wien liefern wie anno dazumal in der Stummfilmzeit den Soundtrack zum Geschehen. Martyn Jaques singt in beeindruckendem unverwechselbarem Falsett zwölf Lieder getränkt in Melancholie, Traurigkeit, Verlorenheit. Es ist eine Art poetisches Wehklagen, das, unterminiert von latenter Ironie, herbem Zynismus, manifestiert in der Mimik des Sängers, oft so gefangen nimmt, dass aus den zwei evidenten Handlungsebenen eine dritte wird, denn man kann “The Little Matchgirl” auch einfach als Konzert der Tiger Lillies genießen. Adrian Huge, den David Byrne von den Talking Heads als “James Joyce am Schlagzeug” bezeichnet hat, Adrian Stout am Kontrabass und der singenden Säge sowie Martyn Jacques liefern eine Show, die gerade aufgrund ihrer kleinen Gesten fesselt. Und so ist der Tanz der Augenbrauen Jaques’ oft dermaßen faszinierend, dass man vom Rest des Geschehens völlig abdriftet.
Zirkus, viktorianische Music Hall, Jahrmarkt, Kurt Weill, Blues, Tom Waits, Kabarett, Oper, Zigeunermusik, ironisch-bösartiges bis bedrohlich-düsteres Varietà© – all das und noch viel mehr sind die Ingredienzien und Gefühlsschichten, die die Tiger Lillies mit “The Little Matchgirl” zu einem fesselnden Stück “Musical Theatre” komponiert haben (herrlich arrangiert von Christian Kolonovits). Sehr stark die Bildersprache, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. Das Outfit der Band, Zylinder auf dem Kopf, durch und durch in roten Samt gehüllt – automatisch denkt man an Charles Dickens, an London, Nebel, fühlt sich ins viktorianische England zurückversetzt. Und auch auf der Bühne wirkt die Handlung ausschließlich über ihre starke Symbolsprache. Ein Schuh, in grellem weißen Licht, auf den Bühnenschnee fällt, güldenes Haar, das vom Vater/Mann/Bruder über alle 6 Bühnen geschleift wird, ein Kleid, mit dem sich der alte Mann in die Großmutter verwandelt, das Spiel mit dem Feuer, mit den Zündhölzern, mit dem Geräusch der Zündhölzer beim Entflammen. All das wird dann zum überwältigenden Schauspiel für alle Sinne, wenn man bereit ist dafür, bereit, die “übliche” Perspektive des Theaters zu verlassen. Am Ende steigt das “Little Matchgirl” nackt in einen Kühlschrank, begleitet vom wehklagenden Falsett Martyn Jacques’. “Your body lies frozen in the early morning cold/ Because no matches you sold” – was für ein Finale!

The Little Matchgirl in englischer Sprache nach H. C. Andersens “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern”
Musik/Texte: Martyn Jacques
Arrangiert von: Christian Kolonovits
Gespielt von: The Tiger Lillies (Martyn Jacques: Gesang/Akkordeon, Adrian Huge: Percussion, Adrian Stout: Kontrabass/singende Säge) sowie Mitgliedern des Orchesters der Vereinigten Bühnen Wien (Andrea Hahn-Bucz: Geige, Cordelia Kirchmayr: Bratsche, Alexander Rauscher: Cello)
Darsteller: Bob Goody, Laetitia Angot
Regie: Dan Jemmett
Bühne: Richard Bird
Kostüme: Sylvie Martin-Hyszka
Lichtdesign: Arnaud Jung
Produktion: polimniA & Bureau Dix
Koproduktion: Hans Christian Andersen Foundation DK, Theatre de la Ville/Paris, Grand Theatre de la Ville/Luxembourg, Ortigia Festival/Sizilien, Change Performing Arts, Vereinigte Bühnen Wien
Technische Leitung: Andreas Dix, für Wien: Peter Bouchier
Technische Koordination: Ulf Grabner
Künstlerische Produktionsbetreuung: Julia Sengstschmid
Inspizient: Xavier Carreà©, Christoph Kahlcke
Beleuchtung: Marco Ponticello
Ton: Claus Bühler

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