Archiv - 2015
Martin Bruny am Samstag, den
7. November 2015 um 00:58 · gespeichert in Bücher, 2015
Der Autor und Journalist Peter Filichia (1946) ist einer der pointierten Erzähler auf dem Gebiet der amerikanischen Theaterliteratur (»Strippers, Showgirls and Sharks: A Very Opinionated History of the Broadway Musicals That Did Not Win the Tony Award« (2013), »Broadway Musical MVPs: 1960–2010: The Most Valuable Players of the Past Fifty Seasons« (2011)). Nach seiner aktiven Berufslaufbahn als Theaterkritiker bei diversen Zeitungen ist er neben der Tätigkeit als Buchautor nun online als Kolumnenschreiber präsent, so etwa für Kritzerland (kritzerland.com/filichia.htm; wöchentlich), masterworksbroadway.com und Music Theatre International (mtiblog.mtishows.com). Vier Mal wurde er zum Präsidenten der Drama Desk Awards gewählt, darüber hinaus ist er Verfasser vieler Booklets für Cast CDs.
Worum es in seinem neuen Buch geht, erschließt sich aus dessen Untertitel: Broadway’s Never-to-be-forgotten 1963–1964 Season«. 75 Produktionen (Sprech- & Musiktheater) kamen 1963/64 in die Broadway-Theater, die brandneuen Musicalshows hießen: »Hello, Dolly!«, »Funny Girl«, »Here’s Love«, »Anyone Can Whistle«, »110 in the Shade«, »The Girl Who Came to Supper«, »High Spirits«, »The Student Gypsy«, »What Makes Sammy Run?«, »Jennie«, »Fade Out – Fade In«, »Rugantino« und »Cafà© Crown«, dazu gab’s noch Revivals von »West Side Story« und »My Fair Lady«.
Es war die Saison der Stars. Carol Channing in »Hello, Dolly!«, Barbra Streisand in »Funny Girl«, Carol Burnett in »Fade In – Fade Out«. Aber auch das Sprechtheater hatte in diesem Jahr die Großen zu Gast: Richard Burton gab den Hamlet, Sir Alec Guiness spielte Dylan, Albert Finney Luther, Kirk Douglas und Gene Wilder waren die Stars von »Einer flog über das Kuckucksnest«, Paul Newman & Joanne Woodward waren in »Baby Want a Kiss« zu sehen, Robert Redford in »Barefoot in the Park«, Gene Hackman in »Any Wednesday« – und das waren längst nicht alle.
Diese Spielzeit ist wie geschaffen für den Anekdotenspezialisten Filichia. Er bietet Hintergrundinfos zu den großen Flops der Saison und zu den Hits. Im Anhang findet man zu jeder Produktion die Anzahl der Aufführungen, die erreicht wurde, sowohl die für einen Tony Nominierten und mit einem dieser Awards Ausgezeichneten als auch die prominentesten Nichtnominierten werden aufgelistet.
In einem eigenen Kapitel behandelt Filichia die veröffentlichten Tonträger der Shows von 1963/1964. 1983 veröffentlichte das Fachmagazin BILLBOARD eine Auflistung der »Top 20 Original Cast Albums of The Last 20 Years«, beginnend mit 1962. In den Top 5: »Hello, Dolly!« (1964): 90 Wochen in den Charts, erreichte Platz 2; »Funny Girl« (1964): 51 Wochen in den Charts, erreichte Platz 2; weiters in den Top 20: »What Makes Sammy Run?« (1964): 14 Wochen in den Charts, erreichte Platz 28, »The Girl Who Came to Supper« (1963): 14 Wochen in den Charts, erreichte Platz 33 und »110 in the Shade« (1963): 15 Wochen in den Charts, erreichte Platz 37. Auffallend: Elf der 20 erfolgreichsten Cast Records von 1962 bis 1983 stammen von Shows, die in einem engen Zeitraum ihre Broadway-Premiere feierten, nämlich in den zwei Jahren von März 1962 bis März 1964.
Ein weiteres Kapitel ist einem der bedeutendsten politischen Ereignisse dieser Zeit gewidmet: der Ermordung von John F. Kennedy am 25. November 1963 – und wie man am Broadway darauf reagierte. Das Magazin »Variety« textete flapsig: »All Show Biz Dims in Grief«. Eine kleine Anekdote darf nicht fehlen: »A week after the assassination, Jacqueline Kennedy gave an interview to noted historian Theodore H. White. While musing about the human side of the president, she said, ‚The song he loved most came at the very end of this record, the last side of Camelot, sad Camelot: ‚Don’t let it be forgot, that once there was a spot, for one brief shining moment that was known as Camelot.‘‘ Since then, of course, ‚Camelot‘ has been the unofficial name of the Kennedy administration.« Alle Shows gingen 24 Stunden nach dem Tod des Präsidenten zwar wieder über die Bühne, doch bei etlichen hinterließ das Attentat Spuren. Es wurden Szenen und Texte geändert (im Titelsong der Show »Here’s Love« wurde etwa aus der Textzeile »JFK to U.S. Steel« nun »C.I.A. to U.S. Steel«, was völlig sinnbefreit war, aber der Hektik geschuldet war, in der man Anpassungen dieser Art vornehmen musste) , die für den 23. November geplante TV-Premiere des Films »Singin’ in the Rain« wurde in den Dezember verlegt … Filichia rekonstruiert all die Folgen der Ermordung Kennedys detailliert.
1963/1964 waren Minderheiten ein wichtiges Thema. Dazu bietet der Autor einiges an Material, etwa über eine der Minderheiten, die doch noch ein paar Jährchen auf Akzeptanz warten musste. Filichia zitiert aus der 1964 erschienenen Ausgabe des »Webster’s Dictionary« die Definitionen des Wortes »gay«. Eine Bedeutung im Sinne von »homosexuell« sucht man vergeblich, und viele Broadway-Autoren hielten sich streng an die Webster’s-Definition. Filichia: »Were Broadway’s playwrights unaware of a more sexually charged meaning of ‚gay‘? Of course not. But they knew what the word still meant to much of the theatregoing public.« Ja, 1963 hatte Musical wohl tatsächlich eine andere Zielgruppe? Filichia: »The erroneus belief that musicals were the exclusif province of gays wouldn’t take hold for some years. In 1963–64, musicals were still considered the domain oft he upper middle class (and higher) with decidedly heterosexual inclinations.«
Ein Buch, das viele Musicalfans wohl ganz gern unterm Weihnachtsbaum finden würden.
Peter Filichia: The Great Parade. Broadway’s Astonishing Never-to-be-forgotten 1963–1964 Season. St. Martin’s Press. New York 2015. 290 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-250-05135-6 [www.stmartins.com]
Martin Bruny am Montag, den
7. September 2015 um 00:56 · gespeichert in Bücher, 2015
Dieses Buch weckt schon bei der Danksagung meine Neugier: »My profound thanks to Cameron Mackintosh and Des McAnuff for so clearly demonstrating to me just how deeply prejudice against women in musical theatre can run and for inspiring me to write this book.«
Grace Barnes, die 1965 in Schottland geborene Autorin des Werks »Her Turn on Stage«, hat ihre Erfahrungen mit Mackintosh gemacht, etwa als Resident Director Anfang der 2000er-Jahre bei dem von ihm produzierten Musical »The Witches of Eastwick« im Londoner Theatre Royal Drury Lane. Als Einleitungszitat zum Buch, prominent auf einer eigenen Seite platziert, findet sich folgende nette Erinnerung an Sir Cameron: »â€šThere’s too many bloody women in that building.‘ – Sir Cameron Mackintosh in 2001, referring to the Theatre Royal Drury Lane, where The Witches of Eastwick were playing.«
Barnes ist als Regisseurin und Bühnenschriftstellerin bekannt. Gemeinsam mit Matt Connor (Musik) schrieb sie die Musicals »Nevermore« (2007) und »Crossing« (2013), aber auch Sprechtheaterstücke. In Deutschland, England und Australien war sie im Kreativteam von Shows wie »My Fair Lady«, »Fiddler on the Roof«, »Sunset Boulevard« oder »Martin Guerre«.
Die Rolle von Frauen im Musicalgenre analysiert die Autorin gelassen: »No accusations, no threats; just a truthful exploration of the current state of affairs.« Als Kampfemanze geriert sie sich in ihrem Buch wahrlich nicht, vielmehr als eloquente Insiderin mit einer großen Leidenschaft für das Musicalgenre. Ein paar Zahlen am Beginn: Zwei Drittel der Theaterbesucher am Broadway sind Frauen (8,2 Mio. Frauen vs. 4,4 Mio. Männer; Stand 2011). Diesen Umstand interpretiert sie pointiert: »This is an industry that relies on women and their financial input for support. Remove them from the audience, and the few gay men are left will not guarantee the genre a future.« Barnes hat eine ganze Reihe von Punkten, die sie dem männerdominierten Musicalgenre vorwirft. Der simpelste Vorwurf wäre, dass dem frauendominierten Publikum nur so wenige Frauen auf der kreativen Seite gegenüberstehen. Doch das ist noch ihr harmlosestes Argument.
Eine gewichtigere These: In den letzten beiden Jahrzehnten, so die Autorin, gehe der Trend da hin, Frauen aus dem Rampenlicht zu verdrängen. Schrieben früher Musicalautoren Glanzrollen für weibliche Stars (Julie Andrews/My Fair Lady; Patti LuPone/Evita, Angela Lansbury/Mame; Chita Rivera/West Side Story; Barbra Streisand/Funny Girl etc.), waren früher also Frauen die Stars der Shows, so dominieren nun die Jungs. Die Valjeans, Mormonen, die Boys der Four Seasons, Newsboys, Boxer, Dragqueens, Balletttänzer und Bodyguards oder die Show an sich. Frage: »Are male writers and producers deliberately removing women from Center stage and demoting them to ensemble roles, or is this simply a reflection of the changing style of the genre?«
Weitere Beobachtungen. Beispiel: »Les Misà©rables«. In einem Interview, das Barnes mit Anneke Harrison führte, meinte diese: »The students are all great characters, they’ve all got names, they were all very well researched from the book, and that’s fantastic. They’ve all got very individual looks, and they’re all young, beautiful, idealistic young men. But the women are not named. It’s Crone One, Crone Two. Whore One, Whore Two.«
Oder: 2011, Premiere des Broadway-Revivals von »On a clear day«. Ben Brantley (»The New York Times«) schreibt in seiner Kritik: »The big difference is that Daisy is now David, a gay florist with commitment issues« … und geht dann darauf ein, was dieser Umstand für die musikalische Umsetzung bedeutet. Er beurteilt das vorgenommene Gender Switching in keiner Weise, David Rooney vom »Hollywood Reporter« lobt sogar die Idee: »Respect to Michael Mayer …« Und Barnes fragt: »Respect for what exactly? Getting rid of another leading lady? (…) What would Brantley and Rooney’s reaction be to (…) Patti LuPone announcing her intention to play Jean Valjean with a lesbian subtext?«
In dem hochinteressanten Kapitel »He’s No Good, but I’m no Good Without Him« beschäftigt sich die Autorin mit Musicals, in denen die weibliche Hauptrolle aus der Perspektive des männlichen Protagonisten dargestellt wird. Dazu zählt auch »Next to Normal«. Barnes: »Let’s be honest here: It is a male view of a female depression, and the writers appear to be stuck in theories from the 1950s in terms of the causes and treatment of mental illness among women. (…) It may claim to be Diana’s story, but it is told from her husbands’s point of view. A female lyricist would perhaps have led us to a deeper understanding of the sufferings of the female patient rather than focusing our attention on how her husband copes.« Ein Song aus der Show bringt die Problematik auf den Punkt: »Superboy and the Invisible Girl« – genau der Umstand sei, so Barnes, für die Musicalbranche kennzeichnend.
Was zeichnet dieses Buch aus? 1) Es wurde von einer Frau geschrieben, die von der Praxis kommt und aus der Praxis schreibt. Sie braucht keine 2000 Querverweise auf 4000 Werke der Sekundärliteratur. Der Anhangteil zu jedem der acht Kapitel ist überschaubar. 2) Für ihr Buch führte sie ausführliche Interviews mit Damen wie Susan Stroman, Rebekka Luker, Geraldine Turner, Rebecca Caine und anderen. 3) Barnes hat alles andere als eine feministische Suada abgeliefert. Ihre Analysen sind pointiert formuliert, knackig und haben einen ganz eigenen Humor. So meint sie etwa zu »Wicked«: »Can Glinda and Elphaba really claim to being empowering role models when they are fulfilling every sterotype – the cute one is good, the ugly one bad – and they spend most of the show fighting for the same boy?« 200 Seiten Musicalgeschichte aus einer ganz eigenen Perspektive. Nicht nur für FeministInnen.
Grace Barnes: Her Turn On Stage. The Role of Women in Musical Theatre. McFarland & Company, Inc., Publishers. Jefferson 2015. 210 S.; (Softcover) ISBN 978-0-7864-9861-1 [www.mcfarlandpub.com]
Martin Bruny am Montag, den
20. Juli 2015 um 03:00 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2015
Am 12. Dezember 2015 jährt sich zum 100. Mal Frank Sinatras Geburtstag. Aus diesem Anlass erscheinen diverse Neuauflagen seiner Platten als CDs, Konzerte als DVDs und natürlich Bildbände und Biografien.
Das vorliegende Buch sticht heraus. Vor allem durch seinen Verfasser, Johannes Kunz. Er hat nicht nur den Salzburger Jazz-Herbst gegründet und ihn von 1996 bis 2012 geleitet hat, sondern war von 1986 bis 1994 ORF-Fernseh-Informationsintendant und von 1973 bis 1980 Pressesprecher des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky. Diese Verbindung von Jazz, Showbusiness und Politik im Berufsleben des Buchautors lässt ihn eine ganz eigene und hochinteressante Erzählperspektive bei seiner Sinatra-Biografie wählen. Er achtet darauf, die Karriere des Entertainers im Kontext von Politik und Gesellschaft zusammenzufassen und zu analysieren. Herausgekommen ist ein Stück spannende Lektüre, stets auch im Spiegel von Pressemeldungen geschrieben. Etwa wenn Kunz Sinatras Hollywoodstreifen wie die Verfilmung des Musicals »Higher and Higher« (Richard Rodgers & Lorenz Hart) aus dem Jahr 1943 behandelt oder einen der wohl wichtigsten Faktoren der Karrriere Sinatras herausarbeitet: Song Choice. 1946 »Ol’ Man River« (im Film »Till The Clouds Roll By« und viele Jahre bei Konzerten) zu singen, war unter anderem ein Statement. Kunz: »Der Song stammt aus dem Musical ‚Show Boat‘ und passte zur damaligen politischen Einstellung Sinatras. Denn Kern und Hammerstein griffen ein Tabuthema auf: In ‚Show Boat‘, basierend auf dem gleichnamigen Roman der amerikanischen Schriftstellerin Edna Ferber, tritt ein gemischtrassiges Künstlerpaar auf, während die Rassengesetze im Süden der USA ‚Mischehen‘ untersagten. Und im Evergreen ‚Ol’ Man River‘ bedient sich der Heizer Joe des afroamerikanischen Idioms. Farbige wurden nicht mehr als Clowns dargestellt, ganz im Gegenteil. (…) Frank Sinatra kannte den Rassismus aus nächster Nähe. Viele afroamerikanische Künstler mit denen er arbeitete, waren mit der Segregation konfrontiert. Zwar jubelte ihnen das weiße Publikum zu, doch mussten sie auf Tourneen durch den amerikanischen Süden in schlechten, ausschließlich Afroamerikanern vorbehaltenen Hotels nächtigen. Dazu kamen verbale Demütigungen und oft auch Gewalttaten.« Die Kritiker konnte Sinatra mit seiner Version übrigens nicht überzeugen. Kunz: »(Sie) vermerkten negativ, dass er dieses Klagelied der Afroamerikaner über die Unterdrückung durch die Weißen in kitschiger Aufmachung auf einem weißen Podest in einem weißen Smokig mit weißen Schuhen interpretiert habe. ‚Life‘ sprach sogar von der ‚schlimmsten Leinwandzumutung‘ des Jahres.«
»Guys and Dolls« und »High Society« widmet sich Kunz ebenso wie der Bedeutung Sinatras als Interpret des »Great American Sonkbook«. Sein Fazit: »Als Frank Sinatra geboren wurde, tobte der Erste Weltkrieg, als er zum Schallplattenstar wurde, begann der Zweite Weltkrieg, und als er starb, lebten sechs Milliarden Menschen auf der Erde, der Kommunismus war implodiert, China eine neue Supermacht und das digitale Zeitalter längst ausgebrochen. In mehr als sechzig Jahren, in denen Sinatra mehrere Generationen als Sänger begleitet hat, lieferte er den Soundtrack zum Leben seiner Zeitgenossen.«
50 Seiten umfasst der Anhang. Eine Kurzbiografie, eine Diskografie (Auswahl) und eine Filmografie sowie eine Bibliografie und ein Register sind mit dabei. Und natürlich gibt es auch einen 22-seitigen Bildteil. Gelungen und lesenswert.
Johannes Kunz: Frank Sinatra und seine Zeit. LangenMüller, München 2015. 272 S., (Hardcover) ISBN 978-3-7844-3384-4. EUR 22,00