Heinz Rudolf Kunze: Werdegang (2021)
»Hör mal, Heinz, ich bin gerade mit Falco auf Tour und habe den Artikel gelesen, den du in der Männer Vogue über ihn veröffentlicht hast. Großartiger Text. Allein schon, was du über den Kommissar geschrieben hast – eine mürbe, ironische Koks-Feier, ein Rap mit einem böhmisch-jiddischen Zungenschlag, hahaha! Und du hast natürlich völlig recht, Falco ist im Moment der einzige Künstler, den wir hierzulande haben, der Bowie das Wasser reichen kann. Genau so will ich das! So einen Tonfall brauche ich von dir.« Mit diesen Worten startete der deutsche Konzertveranstalter Marek Lieberberg 1987 in ein Gespräch mit dem deutschen Rocksänger, Liedermacher und Schriftsteller Heinz Rudolf Kunze. Worum es in dem Telefonat ging? Kunze: »Ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach. Marek fuhr fort: Sagt dir das Musical Les Misà©rables etwas? Ich habe die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung gekauft. Das Ganze wird in Wien stattfinden, im Raimund Theater. Ich mache das zusammen mit Peter Weck. Und du wirst den Text übersetzen! […] Auf zwar wenigen, aber faszinierenden Seiten skizziert Kunze (in Zusammenarbeit mit Oliver Kobold) seine zweite Karriere als Übersetzer. »Marek, es freut mich wahnsinnig, dass du an mich gedacht hast. Aber wieso denkst du denn, dass ich dafür der Richtige sein könnte? Ich habe in meinem Leben nur Lola von den Kinks übersetzt, mehr nicht. Und mit Musicals kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich habe nicht mal ein einziges auch nur gesehen. Das ist mir egal. Ich weiß, dass du das kannst. Höchste Zeit, dass mal ein frischer Wind reinkommt bei den deutschen Musical-Texten. Und du bist der richtige Mann dafür. Ich will einen anderen Zungenschlag, einen anderen Tonfall. Genauer, poetischer, musikalischer. Ich gebe dir drei Monate Probezeit, dann sehen wir weiter.« In den darauffolgenden Passagen schildert Kunze seine Arbeit am Text und in Wien vor Ort in der letzten heißen Phase vor der Premiere der Show 1988: »Der erste große Dialog zwischen Valjean, dem ehemaligen Häftling, und Javert, dem Polizisten, schnürte mir die Kehle zu. Enthüllt wird die Ähnlichkeit der beiden Männer, denn Javert ist selbst im Gefängnis aufgewachsen, als Sohn eines Wärters. Das ist der Grund für die Unerbittlichkeit, mit der er Verbrecher jagt – sie halten die Erinnerung an seine Kindheit wach, die er so gerne hinter sich lassen würde. Im Original lautete sein Geständnis: You know nothing of Javert / I was born inside a jail / I was born with scum like you / I am from the gutter, too! Besonders die Zeile I was born inside a jail kostete mich Nerven. Ich fand und fand keine Entsprechung, die mir gefiel. Erst als ich den Teil fürs Ganze nahm, wurde es Poesie und war nicht mehr nur Dienstleistung: Ich liebe die Zeilen bis heute. Was weißt du schon von Javert? / Gitter brach mein Wiegenlicht / Dreck sah meiner Mutter zu / Ich stamm aus dem Dreck wie du. Während der Proben in Wien holten sie bei solchen Passagen kurz Luft und steckten die Köpfe zusammen: Hos d’ dös g’hert, wos der do gschrieb’n hot?« »Miss Saigon«, Andrew Lloyd Webbers »Joseph« und »Rent« sind Kunzes weitere Karrierestationen als Übersetzer. Mit viel Witz und auch gnadenloser Offenheit skizziert er seine Sicht auf die Musicalbranche. Am Beispiel »Rent«: »An der Qualität des Musicals bestand keine Zweifel. Aber ob das deutsche Publikum wirklich zu einer Konfrontation mit dem richtigen Leben bereit war, noch dazu ohne entlastenden Orchesterschmelz, sondern mit der Wucht einer richtigen Rockband […]« Wir wissen, wie es ausging. »Rent« lief in Düsseldorf 1999 keine drei Monate, in Berlin nur wenig länger. Kunze: »Das deutsche Publikum fand keinen Zugang zu dem Stück und blieb beim Bewährten. Bei Zuckerguss und Utopie.« Aber nicht nur die Musicalpassagen entwickeln einen beeindruckenden Sog. Kunzes Autobiografie ist voller Anekdoten mit deutschen, österreichischen und internationalen Stars. Spannend, oft berührend, eine großartige Biografie, immer im Bestreben, den richtigen Tonfall zu treffen: »Peter Weck kam vorbei […] und wollte sich persönlich vom Fortgang der Proben überzeugen: »Na, Kinder, wos hobt’s Schöns ’mocht? Darf i amoi schaun? Charme, den man nicht lernen, nur haben kann. Das Wien von Sissi und Hans Moser; das Wien, das an der schönen blauen Donau liegt und wo im Prater wieder die Bäume blühen – wenn Peter Weck den Raum betrat, existierte es noch immer. Er setzte sich zwischen Gale Edwards und mich und ließ sich einige Szenen zeigen, erst nach einer Weile traute ich mich, den Kopf zu drehen. Weck liefen die Tränen übers Gesicht. Er weinte vor Glück. Und ich war plötzlich zehn Zentimeter gewachsen.«
Heinz Rudolf Kunze: Werdegang. Reclam, Ditzingen 2021. ISBN 978-3-15-011379-0. $ 19,90 €. www.reclam.de