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Archiv - 2021

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)Sieht man sich auf amazon.com die Bewertungen der Käufer des hier besprochenen Buches an, fällt der relativ hohe Prozentsatz an Ein-Stern-Urteilen auf. Mehr als 30 Prozent entschieden sich dafür, dem Buch die schlechteste aller möglichen Noten zu geben. Der Großteil davon gibt als Grund nicht etwa den Text an, sondern bemängelt die Herstellung des Buchs an sich. Der Buchblock habe sich vom Einband gelöst, der Buchkern sei aufgebrochen. Warum der Verlag eher eine günstigere Herstellungsweise einkalkuliert haben könnte, ist aber vielleicht ironischerweise an genau diesen Bewertungen abzulesen. Auf amazon.com haben das im April 2021 erschienene Buch 18 Käufer, auf amazon.de um sechs weniger bewertet. Wünschen darf man sich viel, auch teuer produzierte Bücher, aber Verlage müssen die finanziellen Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer absetzbaren Auflage im Auge behalten. Früher oder später werden Fachbücher wie diese vielleicht nur mehr digital angeboten. Der Preis wird dann nicht wesentlich tiefer liegen.
Doch wie kam es zur Entstehung des vorliegenden Werks? Im Jahr 2018 entwickelte man im Verlagshaus Rowman & Littlefield den Plan, die bestehende Enzyklopädie-Reihe mit einer Ausgabe über Stephen Sondheim zu erweitern, und auf der Suche nach einem Autor kam man auf den Theaterkritiker und Musikjournalisten Rick Pender. Er hat von 2004 bis 2016 mehr als 40 Ausgaben des Magazins »The Sondheim Review« als Herausgeber und Chefredakteur betreut und nach dessen Einstellung (ohne Erfolg) versucht, mit »Everything Sondheim« ein Online-Nachfolgemodell zu etablieren. Pender glaubte anfangs, man wolle ihn als Herausgeber verpflichten und ihm die Aufgabe übertragen, die Beiträge aller engagierter Autoren zu einer Einheit zu formen, doch der Verlag machte ihm rasch klar, dass man aufgrund des begrenzten Budgets nur einen Autor verpflichten wolle, nämlich ihn. In seinem Autorenvertrag fand sich unter dem Punkt »geplanter Umfang« folgende Angabe: 300.000 Wörter. Das gedruckte Buch umfasst 638 Seiten, Pender arbeitete daran zwei Jahre.
Nicht unwesentlich bei diesem Projekt ist die Frage, ob Sondheim selbst involviert war. Hier meinte Pender in einem Radiointerview, er habe sich an die drei Mantras Sondheims gehalten (die er auch im Buch beschreibt): 1. »Content Dictates Form.« 2. »Less Is More« und Punkt 3: »God Is in the Details.« Letzterem folgend habe er den Komponisten gebeten, den ausführlichen biografischen Beitrag zu lesen und zu korrigieren. Für weitere Detailfragen stand Sondheim dem Autor per Mail zur Verfügung und antwortete meist innerhalb von 24 Stunden.
Das Nachschlagewerk ist alphabetisch in 133 Einträge gegliedert. Pender hatte ursprünglich mehr als 200 Einzelbeiträge in seinem Konzept vorgesehen, aber, um wieder auf die einleitenden Sätze Bezug zu nehmen: Der Verlag ersuchte um Reduktion (in dem Fall wohl eher nicht auf Sondheims Mantra »Less Is More« anspielend).
Natürlich findet man in Penders Buch ausführliche Darstellungen aller 18 großen Sondheim-Musicals (aber eben nicht einiger kleinerer Werke), man findet Biografien der wichtigsten Darsteller, Regisseure, Designer und weiterer wesentlichen Personen in der künstlerischen Umsetzung von Sondheims Werk (zum Beispiel auch ein Kapitel über Barbra Streisand). Es werden essenzielle Lieder aus den Werken näher beleuchtet, wie etwa »Children Will Listen«, »Not a Day Goes By« oder »Sooner or Later«. Als Hauptquellen benützte Pender die rund 80 Ausgaben der »Sondheim Review« sowie jene Bücher, die bisher über Sondheim erschienen sind, sowie Radio- und Zeitungsinterviews. Für die Songanalysen erarbeitete er Zusammenfassungen der von Mark Eden Horowitz für »The Sondheim Revue« verfassten Reihe »Biography of a Song«. Am Ende jedes Eintrags liefert der Autor stets eine Liste seiner Quellen.
Was der Verlag sich wünschte, war ein Standardwerk. Hauptzielgruppe von Rowman & Littlefield sind bei dieser Enzyklopädie Universitäten und Bibliotheken – ebenfalls ein Grund für die Preisgestaltung. Penders Aufgabe war es also, ein fundiertes und auf seine Richtigkeit überprüftes Werk zu schaffen, das man als erste Anlaufquelle in Sachen Sondheim verwenden kann, und gleichzeitig eine Fülle an weiterführenden Tipps anzubieten. Das ist rundum gelungen.
Neben den Haupteinträgen erarbeitete Pender eine Reihe von, wie er es in einem Interview bezeichnet hat, »Sidebars«. Zum Beispiel eine Liste von Lieblingsfilmen des Komponisten (kompiliert aus Gesprächen mit Sondheim und diversen anderen Quellen). Nicht fehlen darf eine halbe Seite zu den Lieblingsbleistiften Sondheims (Blackwing, und zwar das Modell »slate-gray 602«): »Blackwings are special pencils that Sondheim preferred because of their very soft lead, which makes them not only easy to write with (although extremely smudgy) but also encourages the user to waste time repeatedly sharpening them, since they wear out in minutes.« Auf knapp sechs spannenden Seiten beleuchtet Pender im Spiegel einer Fülle von Zitaten Sondheims ambivalentes Verhältnis zur Oper. Sondheim: »Opera isn’t primarily about storytelling, therefore I get impatient, although part of me knows I shoudn’t.«
Weitere »Sidebars«: »Contributions to Works by Others, »International Productions«, »Juvenile Works«, »Libraries and Archives«, »Lyric Studies«, »Movie Musicals« oder auch »Musical Likes (and Dislikes). In einem eigenen Kapitel wird Sondheims Liebe zu »Puzzles, Games, and Mysteries« untersucht, Weggelegtes in »Unproduced and Abandoned Projects« behandelt. Ein eigenes Kapitel widmet Pender der TV-Serie »Topper«: Nach dem College versuchte sich der junge Sondheim in Hollywood als Drehbuchschreiber. Im Sommer 1953 machte Oscar Hammerstein II ihn auf einer Dinnerparty mit George Oppenheimer bekannt. Der bekannte Drehbuchautor hatte gerade den Auftrag für eine Pilotfolge der Serie »Topper« erhalten und suchte einen »assistant writer«. Für 300 Dollar die Woche arbeitete Sondheim gemeinsam mit Oppenheimer an einigen Folgen der Serie. Auch das eine von vielen spannenden Geschichten, die Pender für seine sehr empfehlenswerte Enzyklopädie eigens recherchiert hat.
Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia. Rowman & Littlefield, Lanham 2021. ISBN 978-1-5381-1586-2. $ 135,00. www.rowman.com

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism (2020)

jansen-2021.jpgVorliegendes Buch ist eine Zusammenstellung von Beiträgen, die für ein Symposion erarbeitet wurden, das 2017 in Freiburg stattfand. Etwas allgemeiner formuliert war der Anlass für den Band der Umstand, dass die Geschichte der Kunstform Musical (und der Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist.
Ein paar Bemerkungen zu dieser grundlegenden Problematik am Beispiel Österreich: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. Berücksichtigte man jene Bände nicht, die in Zusammenarbeit mit Theatern (oft in gewisser (finanzieller) Abhängigkeit) erscheinen, es bliebe praktisch nichts übrig. Die letzten beiden Jahrzehnte sind unbeleuchtet. Die Gründe? Zum Beispiel der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden daher immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Symptomatisch der Titel einer aktuellen Diplomarbeit zum Thema: »Wien 1970–2000: eine Musicalmetropole?« (Jasmin Kofler, 2020). Die letzten beiden Jahrzehnte werden gar nicht berücksichtigt, der Rest infrage gestellt. Als Einleitungszitat steht eine Sentenz aus »Schikaneder« – einer Show, die nicht in den Untersuchungszeitraum fällt. Was fehlt, sind Erzählerpersönlichkeiten. Marcel Prawy war ein Botschafter der Oper, Operette und des Musicals. In seiner Nachfolge hat Christoph Wagner Trenkwitz eine Aufarbeitung der Geschichte des Musicals an der Volksoper in Angriff genommen. Sein Buch »Musical an der Wiener Volksoper« behandelt die Geschichte des Hauses bis 2007. Die Geschichte des Musicals am Theater an der Wien wurde von Peter Back-Vega, Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien, bis zum Jahr 2008 in einem Band bearbeitet. – Einzelpersönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren, was Bücher betrifft, nicht mehr der Musicalgeschichte gewidmet haben. Wen wundert es also, dass wir von der Musicalgeschichte anderer Länder, etwa den osteuropäischen, noch weit weniger wissen als von unserer eigenen.
Die Situation im Deutschland ist etwas anders, hier gibt es eine Erzählerpersönlichkeit: Wolfgang Jansen. 2008 veröffentlichte er mit »Cats & Co« seine »Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Raum«, bei Recherchen für einen geplanten Nachfolgeband zur Geschichte des Musicals in der DDR stellte sich ihm eine grundlegende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, die Geschichte des Musicals in der DDR abgelöst vom politischen, gesellschaftlichen System, in dem es sich entwickelte, zu schreiben? Hat das DDR-Musical eine singuläre Stellung oder ist es nur im Rahmen der allgemeinen Entwicklung des Genres im kommunistischen Osteuropa nach 1945 zu verstehen? Aufgrund der Sprachbarrieren war es Jansen nicht möglich, in einem zufriedenstellenden Ausmaß an Datenmaterial zu bekommen. So entstand die Idee zu einem Symposion mit dem Thema: »The development of operettas and musicals after 1945 unter the social and ideological conditions of socialism in the East European countries.« Die Hauptfragestellungen: »Did the uniform (prescribed) worldview lead to identical plays, or are there – in spite of transnational ideology – national specific differences? Were there specific aesthetic phases of national development? What influence did the import of works from abroad, from the fraternal socialist countries, or the capitalistic West have on the national production? Were there any governmental guidelines for authors and composers? When and under what conditions changed the repertoire to the musical? Which social, cultural and political value was measured by the state to the popular musical theatre? Who were the most important authors and composers? Was there a socialist operetta, a socialist musical, and what political, social and ideological issues were negotiated in the form of popular musical theater on stage.«
Beiträge von 14 Forscherinnen und Forscher aus der Sowjetunion, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Deutschland (für die ehemalige DDR) sind im vorliegenden englischsprachigen Band publiziert. Schwerpunktmäßig konzentriert sich das Buch auf Ungarn (83 Seiten) und die DDR (65 Seiten). Der Theaterhistoriker Gyöngyi Heltai etwa berichtet über die Rolle, welche ab den 1960ern dem Budapester Operettentheater im Rahmen der ungarischen Außenpolitik und Kulturdiplomatie zugewiesen wurde – bis in jüngste Gegenwart. Als etwa am 31. Mai 2011 die ungarische EU-Präsidentschaft mit einer offiziellen Schlussveranstaltung ausklang, ging im Bukarester Operettentheater eine zweisprachige Aufführung von Gà©rard Presguvics »Romeo & Julia« über die Bühne. Romeo sang auf Rumänisch, Julia auf Ungarisch. Diplomaten aus 40 Ländern besuchten die Produktion des Budapester Operettentheaters, die die negativen Auswirkungen von ethischen Konflikten zeigen sollte. Derartige Events des Operettentheaters fanden auch in Italien und England statt.
Pavel Bà¡r berichtet von der ersten Musical-Premiere in der Tschechoslowakei: »Finian’s Rainbow« (in einer bearbeiteten Version mit dem neuen Titel »Der wuntertätige Topf«), Anfang März 1948, nur wenige Tage nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948. Es war gleichzeitig die letzte Produktion eines amerikanischen Musicals bis 1963: »Kiss Me, Kate«. Allerdings kamen ab Ende der 1950er-Jahre Werke aus der DDR und Italien zur Aufführung. Zu einem völligen Neubeginn, so Bà¡r, kam es nach der »Samtenen Revolution« vom November 1989: »… the centrally planned economy was transformed into a capitalist system, and the transformation was naturally also reflected in the theatre culture: free private theatre business could return to the theatre system after more than 40 years. The previously unchanging theatre network, which was controlled by the state, started to change. In the summer of 1992, Adam Nà³vak, the first Czechoslovak musical producer, staged the famous Les Misà©rables. Thanks to the co-production with Cameron Mackintosh, this first production introduced Czechoslovak theatre to new qualities and foreign experience […]« Dieses Buch versammelt spannende Analysen, Geschichten, Daten und Fakten. Allein der Anmerkungsapparat vieler Artikel ist ein wertvoller Fundus. Unter musicallexikon.eu finden sich online (»Musicals nach Ländern geordnet«) ergänzende Angaben zum Kapitel DDR. Lesenswert.

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism. Operettas and Musicals in the Eastern European States 1945 to 1990. Waxmann, Münster 2020. ISBN 978-3-8309-4248-1. € 34,90. waxmann.com

Eddie Shapiro: A Wonderful Guy (2021)

shapiro.jpgLange hat sich Eddie Shapiro Zeit gelassen für den Nachfolgeband der 2014 erschienenen Interviewsammlung »Nothing Like A Dame – Conversations with the Great Women of Musical Theater«. Scherzhaft erzählt er in Interviews gerne, dass die Arbeit an diesen beiden Büchern so lange gedauert habe, weil es so schwierig gewesen sei, Termine mit den Darstellern zu vereinbaren. Und dann so zeitaufwendig, die jeweils mehrere Sessions umfassenden und bis zu 14 Stunden dauernden Gespräche, die bei den Künstlern zu Hause stattfanden, zu verarbeiten. Die Arbeit an »A Wonderful Guy – Conversations with the Great Men of Musical Theater« begann Shapiro 2016, seit ein paar Wochen ist der Band am Markt, und als Leser hat man diesmal mit der Zusammenstellung der Interviewpartner ein noch größeres Problem als schon 2014 bei den Damen. Natürlich ist die Riege der 19 Männer, die hier in Interviewform porträtiert werden, herausragend: Joel Grey (89), John Cullum (91), Len Cariou (81), Ben Vereen (74), Michael Rupert (69), Terrence Mann (69), Howard McGillin (67), Brian Stokes Mitchell (63), Marc Kudisch (54), Michael Cerveris (60), Norm Lewis (57), Will Chase (50), Christopher Sieber (52), Norbert Leo Butz (54), Christian Borle (47), Raàºl Esparza (50), Gavin Creel (45), Cheyenne Jackson (45) und Jonathan Groff (36). Wer könnte sich da beschweren? Nichtsdestotrotz beträgt, um es ein wenig plump auf eine Zahl runterzubrechen, ihr Durchschnittsalter 61 Jahre. Der Autor spricht dies im Vorwort auch direkt an: »The primary prerequisite was that all the men in this book have a robust and ongoing career in musicals. Theater had to be the thing for which they are best known. There are fantastic performers who have done extraordinary work in musicals, but Broadway isn’t their primary residence (Hugh Jackman, Alan Cumming, Neil Patrick Harris). There are other greats who contributed more significantly as creators than performers (Tommy Tune, Lin-Manuel Miranda, Harvey Fierstein). And there are excellent working actors who may not yet have had the opportunity to shine as leading men, or to do quite as many shows (I love you, Ben Platt, but the list of shows we’d be able to discuss is a short one – at least as of this writing).« Ja, so kann man das sehen. Einen Mangel an Fragen, die man Ben Platt stellen könnte, würde man aber dann doch eher dem Autor anlasten wollen Und sind Jonathan Groff und Cheyenne Jackson tatsächlich noch vor allem aufgrund ihrer Karriere am Theater bekannt? Natürlich muss man berücksichtigen, dass eine Reihe an Broadwaystars kein Interesse hatte, interviewt zu werden (etwa Nathan Lane). Wie auch immer: Um auch einen Blick auf die ganz junge Generation zu bieten, hätte es nicht geschadet, etwa Wesley Taylor, Jeremy Jordan oder Jay Armstrong Johnson ins Gespräch zu holen.
Doch bleiben wir bei Jonathan Groff. Hat man das Interview mit ihm gelesen, ist es klar, warum er von Shapiro gewählt wurde und warum er am Cover abgebildet ist. Er mag zwar TV-Hitshows haben und ja, eine Rolle im programmierten Blockbuster »Matrix 4« (läuft ab Dezember 2021 in den Kinos), doch: »… his heart, says Groff, belongs to the theater. Even when I was doing the TV show, Boss, in Chicago, he tells me excitedly, I hired Sutton Foster’s understudy to teach me the tap dance from Anything Goes, which he performed at a benefit. In my world, in my mind, and in my heart, I am always thinking about theater.«
Sehr anschaulich beschreibt Shapiro in seinen Intro-Texten zu den Interviews die jeweiligen Settings, in denen die Gespräche stattgefunden haben (und wann sie geführt wurden), er bietet einen kurzen Überblick über das Schaffen seiner Gesprächspartner und ist dann bemüht, Highlights, aber auch persönliche Krisen anhand ihrer Arbeit herauszuarbeiten, indem er kurze Fragen stellt und hofft, dass die Leute etwas zu sagen haben und ins Reden kommen. Perfekt vorbereitet ging der Autor in seine Gespräche, eine bemerkenswerte Empathie ist aus seinen Fragestellungen abzulesen.
»A Wonderful Guy« ist voller wundervoller Geschichten. Etwa wenn Raàºl Esparza über seine Arbeit mit Stephen Sondheim an einem Song (aus »Sunday in the Park with George«) erzählt: »He was so specific with his notes and nothing seemed to be right. But I began to realize that everything he was working on with us was like opening a series of doors into the play. One idea after another after another was being released by tiny things, like, When these two notes happen in the orchestra, you’re changing brushes. It’s a new color. When this diminuendo occurs between them, it’s their whole relationship in one breath. They begin to sing loudly to each other and then they fade away. It’s not finished yet. The second time you say the word look it means something different and beautiful because you’re talking about change, and you’re talking about the passage of time.«
Offenheit zeichnet die Gespräche durch die Bank aus. Existenzielle Probleme werden schonungslos thematisiert. Etwa von Norbert Leo Butz, der 2001 zwei Broadway-Shows nacheinander hatte, die nach wenigen Wochen schließen mussten (»Thou Shalt Not« und »The Last Five Years«), der sich noch dazu zu jener Zeit in Scheidung befand und doch nur zögernd, nachdem er eine Audition abgelehnt hatte, eine Rolle in »Wicked« übernahm. Schon allein worauf er sein Engagement zurückführt, ist kurios: »And frankly, I think I got it because Kristin is so tiny and I’m only five seven. It would be hard to cast somebody who’s six foot two next to Kristin. So I did it.« Seine nüchterne Einschätzung dieser Erfahrung: »Personally, obviously, I was going through hell. But in the process I was really unhappy. They had such a difficult time trying to figure out what the play was and what it was about. The supporting roles got lost in the shuffle. I remember feeling hamstrung and like it wasn’t good enough material to work on. I was wanting more and I was wanting to make more of an impression on the play and to make it deeper. One of the producers joked to me, Who cares? It’s all about the girls, but I realized he was right. And the creative team had some differences of opinion about the way that it should go. So as an actor, it wasn’t completely fulfilling. But I was so grateful to have a paycheck. It just saved my butt. I kept thinking I was going to be fired any week. People were getting fired left and right from [the tryout in] San Francisco. I was so grateful when they kept me for New York.«
Shapiro ist schon an Band 3 der Buchserie dran. Geplanter Titel: »It Takes A Woman«. Darauf kann man sich freuen.

Eddie Shapiro: A Wonderful Guy. Conversations with the Great Men of Musical Theater. Oxford University Press, New York 2021. ISBN 978-01-909298-9-3. $ 39,95. global.oup.com

Stephen Purdy: Flop Musicals of the Twenty-First Century (2020)

flop.jpgAus nichts lernt man mehr als aus Fehlern. Stephen Purdy, Mitglied der Musical Theatre Faculty am Marymount Manhattan College in New York City, bietet unter dem Motto »How they happened, when they happened (and what we’ve learned)« eine ganze Reihe von Fehleranalysen, in diesem Fall auf dem Gebiet des Musicals. Die untersuchten Shows: »Spider-Man: Turn Off the Dark«, »Lestat«, »Urban Cowboy«, »The Pirate Queen«, »Rocky«, »King Kong«, »Escape to Margaritaville«, »Glory Days«, »Bullets Over Broadway« und »Dance of the Vampires«. Der Autor geht wie ein Detektiv an die Sache ran: «In this book, I don’t intend to offer a wholesale take on how the shows could have been fixed. If the most astute minds of the theatre couldn’t figure out how to have made these shows run on Broadway, then I certainly cannot. Instead, here I am keen to reveal what the ill-fortune of these shows may be able to teach us by discovering what went wrong along the way.« 13 Seiten der insgesamt 108 sind »Dance of the Vampires« gewidmet. Zum Einstieg formuliert Purdy eine recht blumige Beschreibung der VBW-Produktion: »With Tanz der Vampire (…) Austrian and German audiences got what they craved in the Wagnerian operatic sense, which, to wit, was through-composed, other-worldly, and possessed a certain mythical grandeur. With this in mind, to comprehend the true reality of the scope of the changes made to the production for the Broadway outing, one must recognize the specificities of the style that appeared in the German production, which one might classify in an era obsessed with labeling something like grand pop-opera. But when you give ’em what they want, you may be richly rewarded. Tanz der Vampire surely was. The stagecraft alone, that is to say the physical production, was likely enough to bring those who might find that the story was exasperating into the theatre to have a look. Big-budget sets and effects were aplenty and abundant enough to rival the visuals of the great European opera houses. Side by side with other operatic conventions like quintets that brought to mind those of the great opera makers of the 19th century and lovers whose togetherness was imperiled by other-worldly shenanigans, the show was a brazen example of the intertwining of musical theatre and operatic sensibilities – vampire style.«
Purdys flott geschriebene Einschätzung basiert auf bekannten Fakten, ist aber leicht unterfüttert mit Gerüchten, etwa in Bezug auf das tragische Ende von Steve Barton: »Steve Barton, the actor who had been promised the role for New York, was found dead the day after the announcement was made public that Crawford would play the role in what was rumored (although not substantiated) to be a suicide.«
Bahnbrechend neue Erkenntnisse darf man sich in diesem Buch generell nicht erwarten, aber eine gut geschriebene Zusammenschau wesentlicher Meilensteine zu einem gelungenen Musical-Misserfolg.

Stephen Purdy: Flop Musicals of the Twenty-First Century. How They Happened, When They Happened (And What We’ve Learned). Routledge, New York 2020. 108 S.; (Hardcover) ISBN 978-036717331. $ 150,–. routledge.com

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals (2020)

broadway2010.jpgMit diesem Band hat Dan Dietz seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« weiter ausgebaut – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2010er-Jahren geschlossen vor. Wer alle zehn Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5620 Seiten zu einem Preis von rund 1440 US-Dollar.
In diesem Band behandelt Dietz 240 Shows, die am Broadway vom 1.1.2010 bis 31.12.2019 Premiere hatten. Eine kleine Unschärfe zieht sich durch die Buchreihe: Inkludiert sind neben Musicals auch verwandte Genres. Für die 2010er-Jahre sind erfasst: »sixty-one book musicals with new music; twenty-nine book musicals with mostly preexisting music; seven operas; two plays with incidental music; four dance musicals; thirty-six shows that fall under such categories as revues, concerts, comedy stands, and the always helpful ‚miscellaneous‘ category (such as the In Residence on Broadway series); eight magic shows; eighteen imports; fifty-two revivals and return engagements; and twenty-three pre-Broadway closings«.
Wie auch in den anderen Bändern versucht Dietz Trends zu isolieren. So war in der 2010er-Dekade die Rückkehr des Book Musicals mit neu komponierter Musik festzustellen. Gab es in den zehn Jahren davor nur 37 Premieren dieser Art, zählte Dietz in den 2010er-Jahren 61. Kleiner Haken dabei: Bei etlichen davon handelt es sich um Musicals, die auf Filmen der 1980er- und 1990er-Jahre basieren. Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er-Jahren liest sich die Zahlenfolge der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37-61.
Die Zahl der Revivals und Wiederaufnahmen ist gesunken, in diese Kategorie fallen 52 Shows (in den zehn Jahren davor waren es 58). So viel zu den Good News. Ein negativer Trend ist die Verdoppelung der Zahl der Musicals mit recycelten Songs, im Wesentlichen also Jukebox-Musicals (15 in den 2000er-Jahren, 29 in den 2010er-Jahren).
Ein interessantes Addendum bietet Dietz, das in die Periode der Corona-Pandemie verweist. Elf Musicals, die in den 2010er-Jahren Premiere feierten, fielen 2020 in die Phase des Broadway-Lockdowns. Sie waren mit Stichtag 15. März nicht abgespielt und warten offiziell darauf, den Spielbetrieb wiederaufnehmen zu können (in Klammer das Premierenjahr/die Zahl der bisherigen Aufführungen): »Ain’t Too Proud: The Life and Times of the Temptations« (2019/407), »Aladdin« (2014/2506), »The Book of Mormon« (2011/3748), »Come from Away« (2017/1251), »Dear Evan Hansen« (2016/1363), »Hadestown« (2019/376), »Hamilton« (2015/1919), »Jagged Little Pill« (2019/112), »Mean Girls« (2019/804), »Moulin Rouge!« (2019/262) und »Tina: The Tina Turner Musical« (2019/143).
Ein üppiger Band, detailreich wie immer mit allen relevanten Statistikangaben zu den angeführten Shows und interessanten Charakterisierungen und Einordnungen in die Musicalhistorie. Eigentlich unentbehrlich.

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2020. 532 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-2632-5. $ 140,–.rowman.com

Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires (2020)

misfires.jpgMöchte man sich über Broadway-Musical-Flops informieren, greift man für Produktionen bis 1989 zu Ken Mandelbaums »Not since Carrie – 40 Years of Broadway Musical Flops« (1991). Für den Zeitraum ab 1990 bietet sich »Musical Misfires«, das neue Buch von Mark A. Robinson und Thomas S. Hischak an. Es ist mitten in der Pandemie erschienen, und nur als E-Book, was für ein Werk von Hischak ungewöhnlich ist, gilt er doch als einer der renommiertesten Autoren auf dem Gebiet des Showbusiness mit Werken wie »The Mikado to Matilda: British Musicals on the New York Stage« (2020), »Off-Broadway Musicals Since 1919« (2011) »The Oxford Companion to the American Musical« (2008) oder »The Tin Pan Alley Encyclopedia« (2002), um nur einige zu nennen
151 Flops behandeln die Autoren. Vorangestellt: eine Begriffsklärung, was man heute als Flop bezeichnen kann und warum sich die Autoren darauf geeinigt haben, lieber den Alternativbegriff »Misfires« (in etwa Fehlzündung) zu verwenden. Der Begriff Flop habe sich im Lauf der Zeit gewandelt. Früher bezeichnete man Flops als Shows, die aus den verschiedensten Gründen kein Geld eingespielt haben. Da sollte man nun doch differenzierter argumentieren. Geld einzuspielen wurde ab den 1990ern zunehmend schwieriger. Musicals laufen zu lassen, in der Hoffnung, sie würden sukzessive ihr Publikum finden, ist nicht mehr möglich. Erweist sich eine Show nicht als Instant-Hit, war’s das, egal wie die Produktion bei Kritikern abgeschnitten hat. Das Autorenduo plädiert dafür, gefloppte Shows überlegter zu labeln. Es hat andererseits keine Scheu, Kultshows als Flops einzustufen, von denen man es nicht angenommen hätte. Ein Beispiel? »Sunset Boulevard«.
Robinson und Hischak haben ein recht interessantes Repertoire an Kategorien entwickelt, in die sie die von ihnen besprochenen Musical Misfires ablegen. So etwa »What a Horror« (»Dance of the Vampires«, »American Psycho« …), »Too Unique For Broadway« (»James Joyce’s The Dead«, »Head Over Heels« …), »Is There An Audience For This?« (»The Wild Party«, »Marie Christine« …), »Costly Conclusions« (»Rocky«, »The Scarlet Pimpernel«, »King Kong« …) oder auch: »Disguised as Success«, Shows also, die gemeinhin als Erfolg gelten, aber ihr Geld nie eingespielt haben. In dieser Kategorie angeführt: »Passion«, »Victor/Victoria«, »Young Frankenstein«, »American Idiot«, »SpongeBob SquarePants: The Broadway Musical« und »Sunset Boulevard«. Alle diese Shows mögen Erfolge gewesen sein, was Presse und Preise betrifft, doch letzten Endes: Alles nur Illusion, erfolgreich von Marketingabteilungen erzeugt, denn sie haben nie Gewinn gemacht. Im Fall von »Sunset Boulevard«, das sieben Tony Awards gewonnen hat, überraschend. Die Show ist in London, Los Angeles, New York, Kanada und Australien gelaufen, finanziell aber ohne Erfolg? Das Musical gilt doch geradezu als Musterbeispiel der Erfolgsstorys von Andrew Lloyd Webber. Glenn Close trat als Norma Desmond fast 1000 Mal am Broadway auf. Aber genau das mag auch der Grund der finanziellen Misere gewesen sein. Patti LuPone war ursprünglich vorgesehen, nach ihrem Londoner Erfolg als Norma Desmond auch am Broadway damit anzutreten. Für eine Produktion der Show in Los Angeles hatte man einige Zeit davor allerdings einen echten Kinostar engagiert: Glenn Close. Und die kam so phänomenal gut an, dass man LuPone ausbootete. Für Los Angeles engagierte man als Close-Ersatz Filmstar Faye Dunaway, entschied dann aber kurzfristig, die Produktion doch abzusetzen. Das Resultat: Man musste zwei Diven finanziell abfertigen und eine bezahlen. Horrende Kosten, nicht einzuspielen.
Wie immer lernt man von den Geschichten, die Hischak in seine Bücher einbaut, auch einiges. Ab und an begründen die Autoren den Misserfolg der besprochenen Beispiele fast mit einer Art tiefenpsychologischem Ansatz. Zum Beispiel ein Musical der Kategorie »It’s not where you start …« Die Grundthese für diese Kategorie besagt, dass eine Show zwar am Broadway floppen mag, aber dafür in Hunderten Produktionen amerikaweit oder auch weltweit weiterleben kann. Musterbeispiele: »Parade«, »All Shook up«, »Big Fish«, »The Bridges of Madison County«. Und: »Finding Neverland«. Hier wird der Misserfolg auf die Eskapaden eines Neulings im Musicalbusiness zurückgeführt, der mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen die Broadway-Community vor den Kopf gestoßen hat. »Finding Neverland« feierte 2011 am La Jolla Playhouse Premiere, 2012 in England. Und dann kam er an Bord: Harvey Weinstein, erfolgreich und mittlerweile berüchtigt. Seine Entscheidungen im Kurzdurchlauf: Er tauschte das Kreativteam, und er tauschte Jeremy Jordan gegen den damals durch »Glee« gerade populären Matthew Morrison. Als die Show 2015 am Broadway an den Start ging, waren die Kritiken mau, Tony-Nominierungen blieben aus. Gegen die Tradition, Tony-Jurymitglieder zur Show einzuladen, zog Weinstein beleidigt die Einladungen zurück. Weinsteins Verhalten wäre vielleicht ein gutes Fallbeispiel für eine Neuauflage des Bestsellers »Die Macht der Kränkung« des Psychiaters Reinhard Haller.
Frank Wildhorn kommt natürlich mehrere Male mit seinen Versuchen, am Broadway Erfolge zu landen, im Buch vor. Interessant sind hier die kleinen FunFacts, die Hischak, einstreut. Als »Bonnie & Clyde« 2012 nach nur 36 Vorstellungen abgesetzt wurde (aus Gründen, die ausführlich im Buch besprochen werden), sah es so aus, würde es nicht einmal zu einer Cast CD kommen: »When it looked like no original cast recording was forthcoming, members of the cast, crew, creative staff, and even the ushers pooled their money to pay for a cast recording. Broadway Records was founded to release the recording. Almost immediately productions of Bonnie & Clyde started appearing internationally […]. In the States, the musical has found a home in regional theatres, summer stock, community theatres, and schools. It seems there is an enduring and widespread fascination with Bonnie Parker and Clyde Barrow. This romantic musical about their tragic lives will likely continue to benefit from that fascination.«
Hunderte kleine Geschichten, verpackt in eine Historie der Musical-Flops ab 1989. Sehr empfehlenswert.

Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires. Three Decades of Broadway Musical Heartbreak. Bookbaby Publishers, 2020. (eBook) ISBN 978-1-0983293-1-0. $ 28,27,–. bookbaby.com

Wolfgang Jansen: Willi Kollo (2020)

kollo.jpgWolfgang Jansens Biografie des Autors und Komponisten Willi Kollo birgt einige Wahrheiten, die abgesehen vom Thema, um das es eigentlich in dem vorliegenden Buch geht, ganz allgemein gelten. Wahrheit, damit sind Journalisten, Autoren oder auch Experten nicht selten konfrontiert, wird oft als Bedrohung aufgefasst. Jemand, der nach Wahrheit oder auch nur kritischer Distanz strebt, wird bisweilen mit Entschiedenheit bekämpft und/oder diskreditiert.
Die wichtigste Passage in Wolfgang Jansens Buch findet sich auf den Seiten 332 und 333: »Ein gutes Image des Produkts und des Komponisten oder Autors ist bei der erfolgreichen, langfristigen Platzierung von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dabei folgen die Beteiligten dem Grundsatz: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Insofern ist die Neigung verbreitet, Misserfolge, die zwangsläufig immer wieder in künstlerischen Prozessen auftreten, nach einigen Jahren zu übergehen oder umzudeuten. Wahrheit ist dabei im Zweifelsfall keine Kategorie, der man sich verpflichtet fühlt. Und kommen Lebensbeschreibungen auf den Markt, dann haben diese die Erfolge des Porträtierten darzustellen. Sachliche, distanzierte oder gar wissenschaftlich-kritische Biografien mögen bei historischen Persönlichkeiten oder Politikern angemessen erscheinen, im Sektor der populären Kultur gelten sie als kontraproduktiv.«
Willi Kollo (1904–1988), das eigentliche Thema des Buches, dient Jansen als Spiegel, um die Folgen des Aufschwungs, die das Theater ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionierten, zu illustrieren. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand eine Infrastruktur, die dem Theaterleben eine bis dahin unvorstellbare gesellschaftliche Breite verlieh. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1869 konnte jeder Staatsbürger ohne Einschränkung eine Spielstätte errichten. Die Zahl der Bühnen nahm sprunghaft zu, ein neuer Markt entstand, Bedarf nach Schauspielern, Sängern, Musikern etc. Ab 1900 kam es zur Gründung angesehener, privatfinanzierter Theaterschulen. Der Markt für dramatische Werke explodierte, neue Gattungen eroberten den Markt. Operette, Varietà©, Revue, Extravaganza, Feerie, Cafà©-concert, Kabarett. Eine komplette neue Branche entstand: Direktoren, Agenten, Verleger, eine neuer Typ von Darsteller und Komponist. Dynamisiert wurde diese Entwicklung durch die Erfindung der Schallpatte in den 1890er-Jahren und die Filmindustrie, den Rundfunk und das Fernsehen.
Willi Kollo war der Sohn des Operettenkomponisten Walter Kollo. Er begann seine Karriere in den 1920er-Jahren als Liedautor, bald schon komponierte er Schlager, Stücke für Revuen, das Kabarett, die Operettenbühne. Er trat als Interpret auf, nahm als Sänger Schallplatten auf, komponierte für den Film. Kollo war Theater- und Filmproduzent eigener Werke, Regisseur und musikalischer Leiter an selbst gegründeten Theatern, leitete einen Musik- und Bühnenverlag, und es gibt auch einen direkten Musicalbezug: 1959 brachte Kollo in einem kleinen Saal im ersten Stock der ehemaligen Vorderfront des Berliner Großraumvarietà©s Scala das Werk »Wer hat Angst vor dem starken Mann?« heraus und bezeichnete es als »Musical«. Über dem Eingang des Theaters war ein Schild mit der Aufschrift »Berlins erstes Musical-Theater« angebracht. Musical in Deutschland hatte damals, so Jansen, das Image von Modernität, Jugend und Zukunft. Kollo bewarb sein Stück als Musical das »nicht nur ins Ohr eingehen und erheitern, sondern auch politisieren solle«. Die Produktion floppte, nach sechs Wochen holte Kollo ein Kabarettgastspiel ins Haus.
Es gibt viele verschiedene Herangehensweisen, die Biografie eines Menschen in Buchform aufzubereiten. Will man am Markt reüssieren, bietet sich etwa der Anekdoten-Bildband an oder gleich der Bildband mit einigen Anekdoten. Wolfgang Jansens Biografie kommt ganz ohne Bilder aus. Abbildungen reißen in die Kalkulation von Buchprojekten oft ein großes Loch. Sich dagegen zu entscheiden, ist legitim, wenn und in diesem Fall: da der Text die nötige Qualität hat. Das Buch ist, obgleich leicht und spannend zu lesen, ein Fachbuch mit exakter Zitierung, akribisch zusammengestelltem Quellenverzeichnis, transkribierten Dokumenten am Ende jedes Kapitels, Literaturliste, Werkverzeichnis, Discografie und Register.
Um jetzt aber den Bogen zu schließen und zum Thema Wahrheit zurückzukehren. Dieses Buch beruht auf Arbeiten, die großteils in den Jahren von 1991 bis 1994 durchgeführt wurden. 1994 war ein Buchverlag gefunden, der Vertrag unterschrieben. Als der Autor sein Manuskript zur Freigabe an die Familie Willi Kollos schickte, war die Reaktion »ablehnend, heftig und kompromisslos. Ohne ein Gespräch zu suchen, ließ man mich durch eine angesehene Rechtsanwaltskanzlei wissen, dass man die Publikation des Textes verhindern werde«. Der Alptraum für einen Autor und einen Verlag. Die Angelegenheit landete vor Gericht, zwei Jahre später wurde der Text »im Namen des Volkes« zur Publikation freigegeben. Da machte der Verlag einen Rückzieher. Erst 1997 erfuhr Jansen, was die Familie am Text gestört hatte. Er war, um das Ganze abzukürzen: zu »wahr« und verschwieg nicht die Zeit des Nationalsozialismus. Jansen: »Lieber verzichtet man also auf jede Biografie, als widerstandslos zuzusehen, wie ein Buch erscheint, das nicht der Verwertungsmaximierung dient. Offensichtlich war meine erste Textfassung in diesem Sinne nicht marktgeschmeidig genug.« 2020 liegt der Text nun endlich in Buchform vor. Das Resümee kommt diesmal aus der Bibel: »Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbieten.« (5. Mose 25, 4) Wahrheit setzt sich am Ende durch.

Wolfgang Jansen: Willi Kollo. Autor und Komponist für Operette, Revue, Kabarett, Film und Fernsehen. 1904–1988. Waxmann, Münster 2020. 394 Seiten. (Softcover) ISBN 978-3-8309-3995-5. € 39,90. waxmann.com