Möchte man sich über Broadway-Musical-Flops informieren, greift man für Produktionen bis 1989 zu Ken Mandelbaums »Not since Carrie – 40 Years of Broadway Musical Flops« (1991). Für den Zeitraum ab 1990 bietet sich »Musical Misfires«, das neue Buch von Mark A. Robinson und Thomas S. Hischak an. Es ist mitten in der Pandemie erschienen, und nur als E-Book, was für ein Werk von Hischak ungewöhnlich ist, gilt er doch als einer der renommiertesten Autoren auf dem Gebiet des Showbusiness mit Werken wie »The Mikado to Matilda: British Musicals on the New York Stage« (2020), »Off-Broadway Musicals Since 1919« (2011) »The Oxford Companion to the American Musical« (2008) oder »The Tin Pan Alley Encyclopedia« (2002), um nur einige zu nennen
151 Flops behandeln die Autoren. Vorangestellt: eine Begriffsklärung, was man heute als Flop bezeichnen kann und warum sich die Autoren darauf geeinigt haben, lieber den Alternativbegriff »Misfires« (in etwa Fehlzündung) zu verwenden. Der Begriff Flop habe sich im Lauf der Zeit gewandelt. Früher bezeichnete man Flops als Shows, die aus den verschiedensten Gründen kein Geld eingespielt haben. Da sollte man nun doch differenzierter argumentieren. Geld einzuspielen wurde ab den 1990ern zunehmend schwieriger. Musicals laufen zu lassen, in der Hoffnung, sie würden sukzessive ihr Publikum finden, ist nicht mehr möglich. Erweist sich eine Show nicht als Instant-Hit, war’s das, egal wie die Produktion bei Kritikern abgeschnitten hat. Das Autorenduo plädiert dafür, gefloppte Shows überlegter zu labeln. Es hat andererseits keine Scheu, Kultshows als Flops einzustufen, von denen man es nicht angenommen hätte. Ein Beispiel? »Sunset Boulevard«.
Robinson und Hischak haben ein recht interessantes Repertoire an Kategorien entwickelt, in die sie die von ihnen besprochenen Musical Misfires ablegen. So etwa »What a Horror« (»Dance of the Vampires«, »American Psycho« …), »Too Unique For Broadway« (»James Joyce’s The Dead«, »Head Over Heels« …), »Is There An Audience For This?« (»The Wild Party«, »Marie Christine« …), »Costly Conclusions« (»Rocky«, »The Scarlet Pimpernel«, »King Kong« …) oder auch: »Disguised as Success«, Shows also, die gemeinhin als Erfolg gelten, aber ihr Geld nie eingespielt haben. In dieser Kategorie angeführt: »Passion«, »Victor/Victoria«, »Young Frankenstein«, »American Idiot«, »SpongeBob SquarePants: The Broadway Musical« und »Sunset Boulevard«. Alle diese Shows mögen Erfolge gewesen sein, was Presse und Preise betrifft, doch letzten Endes: Alles nur Illusion, erfolgreich von Marketingabteilungen erzeugt, denn sie haben nie Gewinn gemacht. Im Fall von »Sunset Boulevard«, das sieben Tony Awards gewonnen hat, überraschend. Die Show ist in London, Los Angeles, New York, Kanada und Australien gelaufen, finanziell aber ohne Erfolg? Das Musical gilt doch geradezu als Musterbeispiel der Erfolgsstorys von Andrew Lloyd Webber. Glenn Close trat als Norma Desmond fast 1000 Mal am Broadway auf. Aber genau das mag auch der Grund der finanziellen Misere gewesen sein. Patti LuPone war ursprünglich vorgesehen, nach ihrem Londoner Erfolg als Norma Desmond auch am Broadway damit anzutreten. Für eine Produktion der Show in Los Angeles hatte man einige Zeit davor allerdings einen echten Kinostar engagiert: Glenn Close. Und die kam so phänomenal gut an, dass man LuPone ausbootete. Für Los Angeles engagierte man als Close-Ersatz Filmstar Faye Dunaway, entschied dann aber kurzfristig, die Produktion doch abzusetzen. Das Resultat: Man musste zwei Diven finanziell abfertigen und eine bezahlen. Horrende Kosten, nicht einzuspielen.
Wie immer lernt man von den Geschichten, die Hischak in seine Bücher einbaut, auch einiges. Ab und an begründen die Autoren den Misserfolg der besprochenen Beispiele fast mit einer Art tiefenpsychologischem Ansatz. Zum Beispiel ein Musical der Kategorie »It’s not where you start …« Die Grundthese für diese Kategorie besagt, dass eine Show zwar am Broadway floppen mag, aber dafür in Hunderten Produktionen amerikaweit oder auch weltweit weiterleben kann. Musterbeispiele: »Parade«, »All Shook up«, »Big Fish«, »The Bridges of Madison County«. Und: »Finding Neverland«. Hier wird der Misserfolg auf die Eskapaden eines Neulings im Musicalbusiness zurückgeführt, der mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen die Broadway-Community vor den Kopf gestoßen hat. »Finding Neverland« feierte 2011 am La Jolla Playhouse Premiere, 2012 in England. Und dann kam er an Bord: Harvey Weinstein, erfolgreich und mittlerweile berüchtigt. Seine Entscheidungen im Kurzdurchlauf: Er tauschte das Kreativteam, und er tauschte Jeremy Jordan gegen den damals durch »Glee« gerade populären Matthew Morrison. Als die Show 2015 am Broadway an den Start ging, waren die Kritiken mau, Tony-Nominierungen blieben aus. Gegen die Tradition, Tony-Jurymitglieder zur Show einzuladen, zog Weinstein beleidigt die Einladungen zurück. Weinsteins Verhalten wäre vielleicht ein gutes Fallbeispiel für eine Neuauflage des Bestsellers »Die Macht der Kränkung« des Psychiaters Reinhard Haller.
Frank Wildhorn kommt natürlich mehrere Male mit seinen Versuchen, am Broadway Erfolge zu landen, im Buch vor. Interessant sind hier die kleinen FunFacts, die Hischak, einstreut. Als »Bonnie & Clyde« 2012 nach nur 36 Vorstellungen abgesetzt wurde (aus Gründen, die ausführlich im Buch besprochen werden), sah es so aus, würde es nicht einmal zu einer Cast CD kommen: »When it looked like no original cast recording was forthcoming, members of the cast, crew, creative staff, and even the ushers pooled their money to pay for a cast recording. Broadway Records was founded to release the recording. Almost immediately productions of Bonnie & Clyde started appearing internationally […]. In the States, the musical has found a home in regional theatres, summer stock, community theatres, and schools. It seems there is an enduring and widespread fascination with Bonnie Parker and Clyde Barrow. This romantic musical about their tragic lives will likely continue to benefit from that fascination.«
Hunderte kleine Geschichten, verpackt in eine Historie der Musical-Flops ab 1989. Sehr empfehlenswert.
Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires. Three Decades of Broadway Musical Heartbreak. Bookbaby Publishers, 2020. (eBook) ISBN 978-1-0983293-1-0. $ 28,27,–. bookbaby.com