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Archiv - 2024

Aleksei Grinenko: »Seriously Mad«

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Dieses Buch ist der Versuch des Autors Aleksei Grinenko, zu untersuchen, wie sich die Entwicklung des Forschungsstands der Wissenschaft zum Thema Geisteskrankheiten/Wahnsinn (Grinenko verwendet den Begriff »madness«, aber in feiner Unterscheidung zu etwa »cognitive/mental disability«. Es ist ein stimmiges Balancieren der Begrifflichkeiten durch Kontext und Zeit, das er in seinem Werk entwickelt) anhand der Geschichte des Musicalgenres nachvollziehen lässt. Konkret geht es unter anderem darum, wie sich Fortschritte in der Mainstream-Psychiatrie in Texten, die für ein Broadway-Publikum geschrieben wurden, spiegeln. Grinenko bezieht sich in seinen Analysen in erster Linie auf die Entwicklung der Forschung in den USA, auf die Broadway-Produktionen der besprochenen Musicals und zum Teil auch auf deren Originalinszenierungen.

Der Autor hat einen interessanten biografischen Background. So arbeitet er seit Dezember 2022 in New York als Private Client Group Specialist bei Yieldstreet, einem Unternehmen, das als Plattform für alternative Investments (Kunst, Immobilien, Rechtswesen) gilt. Daneben ist er Adjunct Professor an der New York University, wo er auf Cloud-based Learning Management Systems (wie Brightspace) spezialisiert ist. Seit Beginn der 2010er-Jahre verfasst er wissenschaftliche Artikel und Kritiken, gibt theaterwissenschaftliche Kurse am New Yorker City Collge, derzeit ist er an der Tisch School of Arts tätig, spezialisiert auf »Theatre and Performance: History, Theory, and Criticism«, »Madness Studies/Disability Studies«, »Music Theatre«, »Feminist and Queer Theatre« und »Russian Theatre«. 2009 bis 2019 war er Producer und Consultant bei der New Musical Territory Theatre Company. In diese Zeit fällt seine Übersetzung des Musicals »Next to Normal“ ins Russische. Als Produzent brachte er die ersten Aufführungen von »West Side Story und »Next to Normal« in Weißrussland auf die Bühne (ausgezeichnet mit einem Belarus National Theatre Award).

Grinenko ist ein Spezialist im Sezieren von Bühnenmomenten in Bezug auf dahinterstehende psychologische Motivation, beeinflusst zum Beispiel von Susan McClarys Schriften bezüglich »Wahnsinnsszenen« in der Oper. Die singende Verrückte, so McClary, verleiht nicht nur den Symptomen des Wahnsinns eine Stimme, sondern musikalisiert auch ihre subjektiven Gefühle, indem sie im Raum der affektiven Begegnung zwischen Darstellerin und Publikum agiert. So vermittelt die Musik ein Gefühl von Tiefe und gewährt den Zuschauer:innen das Erlebnis, das Innere der Figur zu belauschen. Grinenko analysierte 2012 in seinem Artikel »Follies Embodied: A Kleinian Perspective« für »Studies in Musical Theatre« (6/3, 2012, 319) Bernadette Peters’ Interpretation des Songs »Losing My Mind« in Eric Schaeffers »Follies«-Revival von 2011: »In ›Losing My Mind‹ Sally confesses to standing ›in the middle of the floor, not going left, not going right‹ – a behaviour indicative of severe psychic pain. The emphasis of Bernadette Peters’ performance in this torch song is revelatory. Each time her Sally reaches these lines, she nearly brings the song to a halt, as though she has come up against a physical wall. She stands still a moment and then begins to push her way through the lyrics angrily fighting a palpable sense of inner immobility. Although ›Losing My Mind,‹ as performed by Peters, retains its face vale as a song about unrequited love, it comes forth more prominently as a close examination of inner rage colliding against the paralysis of depression.«
2019 dissertierte Grinenko mit seiner Arbeit »Madness and the Broadway Musical, 1940s–2000s« am CUNY Graduate Center. Sie ist die Grundlage für das hier besprochene Buch.

Mainstream- und Experimentalbühnen fungierten und fungieren als wichtige kreative Orte für die Ausarbeitung von Ideen über den menschlichen Verstand, Emotionen und den Körper. In diesen kulturellen Räumen für die Artikulation und das Nachdenken über die Art und Weise, wie man fühlen, denken oder handeln soll, versuchen Autoren mithilfe theatralischer Darstellungen des Wahnsinns zur Diskussion zu stellen, was als normal gilt und was als pathologisch. Auch in Musicals wurden und werden immer wieder maßgebliche medizinische Modelle von Geisteskrankheit und -gesundheit dargestellt, womit ihre Autoren gleichzeitig auch den historischen Wandel von allgemein verbreiteten Annahmen über menschliche Subjektivitäten beeinflussen.

Die Frage, wie Geisteskrankheiten entstehen, birgt für die Forschung nach wie vor viele Rätsel. Grinenko stellt in seinem Buch die These auf, dass in Musicals zu bestimmten, historisch für die Forschung wichtigen Zeitpunkten auf die Vorherrschaft bestimmter Theorien reagiert wurde, womit gleichzeitig eine Art der Beeinflussung entstehen konnte. Wobei es ihm wichtig ist, zu betonen, dass es im Lauf der Zeit nie einen Zeitpunkt gab, zu dem sich alle Theaterautor:innen auf ein bestimmtes Modell geeinigt hätten. »But following the work of historians of madness and mental health, I delineate cultural moments, or, to borrow Ian Hacking’s notion, ›ecological niches,‹ characterized by a groundswell of ideas, images, sounds, and narratives catalyzing around shared clinical and artistic emphases and strategies in envisioning and accounting for mental distress. During such periods, certain facets of madness appear to eclipse others, lingering at the center of public discourses long enough to signal an ascendant trend in mainstream culture and, for my purposes, the Broadway musical.«

Auf einer anderen Ebene entwickelt der Autor eine weitere These. So argumentiert er, dass das Bühnenmusical seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das symbolische Kapital der psychoanalytischen Erkenntnisse benützt habe, um die Ernsthaftigkeit des Genres zu untermauern. Sowohl die Psychoanalyse als auch das Musical erlebten in den 1940er- und 1950er-Jahren ihr »goldenes Zeitalter«. In dieser Zeit wurde verstärkt die »psychologische Tiefe« als Instrument eingesetzt, um das Profil von Broadway-Musicals zu schärfen. Bis heute dient der Begriff »psychologische Tiefe« dazu, Musicals eine Art von »Intellektualität« zuzuschreiben. Was wiederum nicht nur für das Schreiben von Musicals gilt, sondern auch Kritiker für ihr Handwerk verwenden, das Beurteilen von Bühnenwerken.

Grinenko gliedert sein Buch in drei Großkapitel (»Madness in the Mind«, »Madness in the Society« und »Madness in the Brain«). In Teil eins konzentriert er sich auf die Shows »Very Warm for May« (1939), »Lady in the Dark« (1941), »Oklahoma!« (1943) und »The Day before Spring« (1945) (erwähnt und auch besprochen werden nebenbei in jedem Kapitel viele weitere). »Historians and critics single out this decade as a paradigm-shifting period during which creative teams begin to develop more sophisticated modes of characterization, moving the art form from types to individuals and from musical comedy to musical drama. At the core of the emotional and mental suffering assigned to the deep, tragically tinged character model in these shows is inner conflict, a foundational theatrical concept made clinically relevant and culturally chic through psychoanalysis.« Teil zwei behandelt »Anyone Can Whistle« (1964), »Man of La Mancha« (1965), »Dear World« (1969), »Prettybelle« (1971), »King of Hearts« (1978), »Sweeney Todd« (1979) und »Ain’t Supposed to Die a Natural Death« (1971). Und Teil drei: »Charlie and Algernon« (1980) sowie das Herzstück dieses Buchs »Next to Normal« (2009). Weiters geht es hier um »Passion« (1994), »Jekyll & Hyde« (1997), »A New Brain« (off-Broadway, 1998), »The Light in the Piazza« (2005) und »Be More Chill« (Broadway, 2019). Wie viele Details Grinenko beim Sezieren von »Next to Normal« sichtbar macht, ist erstaunlich und reicht von genauen und packenden Song- und Szenenanalysen über die Decodierung des Marketings der Show bis zu einer Einordnung der Vorgehensweise der Autoren bei ihrer Auswahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Erarbeitung der Show – immer im Rahmen des Konzepts des Buchs. Und wie schon bei der faszinierenden oben erwähnten Beschreibung von Bernadette Peters’ Auftritt in »Follies« widmet sich der Autor auch den Performances der Darsteller von »Next to Normal«. »The collective character of the psychomachia in ›Next to Normal‹ draws distinctions and builds alliances. By involving Gabe, a figure of the unconscious, in the visual and aural composition of three different minds on stage and by leaving interrelations among these interior proceedings largely open to interpretation, the musical proposes that there is an infinity of divergent ways in which the psyche can spin the same set of shared or witnessed life experiences. Yet by staging the daily convergences of these three minds within a unified realm of fantasy, the musical also hints at the notion of the family itself possessing an unconscious, a connective tissue of mutuality that holds these people together, despite the divisive idiosyncrasies of discreet subjectivities.« »In this musical, the grooves left by the acts of madness in the social fabric of the world lead to new definitions of one’s self-worth and well-being, to which the light of the final song brings visibility and respect. In the closing verses, the characters shed their shame about depression and, addressing the world, come out as emotionally and mentally wounded. Standing in the dazzling sunbeams of the projectors, they embrace the full spectrum of their feelings and invite the audience to ›open up‹ and join forces in the ›fight‹ against the stigmatization of madness, illness, and, yes, unhappiness in American culture.« 283 Seiten hat das Buch, 80 davon beinhalten Anmerkungen zum Text, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Stichwortregister. Ganz große Leseempfehlung.

Aleksei Grinenko: Seriously Mad. Mental Distress and the Broadway Musical. University of Michigan Press, Ann Arbor 2023. ISBN 978-0-472-07644-4. $ 85,00. press.umich.edu

Volksoper Wien: »tick, tick… BOOM!«

volksoper2023.jpgMinuten vor Showbeginn. Bühnennebel wabert in den Saal, aus den Boxen hört man leise Songs von Prince, Billy Joel. Die Musik wird lauter – Nirvana. Wie ein Rockkonzert ist der Beginn von Jonathan Larsons Musical »tick, tick… BOOM!« inszeniert. Am Ende schenkt der von der Presse als »schärfster Drummer der Republik« apostrophierte Mario Stübler nach einer fantastischen Performance seine Sticks zwei Zuschauer:innen.

Ein Déjà-vu. Wie ihr Vorgänger Robert Meyer setzte auch Lotte de Beer, aktuelle Direktorin der Volksoper, in ihrer ersten Spielzeit keine Musicalneuproduktion auf den Spielplan. Meyer startete den Reigen seiner Neuinszenierungen im Rahmen des Volksopernüblichen (»Guys and Dolls«, 2009). Anders de Beer. Es ging ein Raunen durch die Musicalszene, als sie »tick, tick…« ankündigte. Die Show solle Türen öffnen für junges Publikum. Der Werbe-Claim: »ein Musicalhit, bekannt durch die Netflix-Verfilmung«. Bekannt sollte die Show in Wien seit 2013 sein, da fand die ÖEA im Theater Drachengasse, produziert vom Vienna Theatre Project, statt. Meyer setzte ab 2011 mit einer Serie von Sondheim-Shows das Haus ein wenig näher an die Jetztzeit, de Beer geht weiter. Larsons Werk ist topaktuell, bietet Identifikationspotenzial, insbesondere für die Generation Prekär. »Eigentlich machen alle, die wir kennen, ganz was anderes, als sie eigentlich wollen.« »Wie gehts deinen Eltern?« – »Wie immer. Machen sich Sorgen, dass ich wieder bei ihnen einziehe oder verhunger.« – Sätze aus der Show, die heutige Probleme beschreiben.

Auf der Bühne als Musicalkomponist Jon: Jakob Semotan, ein Künstler, an dem man in Wien als am Musiktheater Interessierter nicht vorbeikommt. An der Volksoper ist er Solist in Musical, Operette – und Oper. Am Abend nach der Hauptprobe von »tick, tick…« stand er als Papageno in der »Zauberflöte« auf der Bühne, im Wiener Theater Bronski & Grünberg channelt er seit April Tom Waits auf Wienerisch in der Show »Thomas Wartet«. Begonnen hat er in der Kindercompany des Wiener Performing Center. Seine Range verleiht den Songs Larsons einen spannnden Vibe. Durch die Premiere kämpfte er sich mit Bronchitis und erhielt Lobeshymnen. So stark ist er. Als Michael an seiner Seite: Oliver Liebl, ehemaliges Ensemblemitglied am Musiktheater Linz, seit 2014 fix an der Volksoper. Und als Susan: Juliette Khalil, ebenfalls vom Konservatorium, seit 2015 in Musical und Operette an der Volksoper zu sehen.

Programmiert ist die Produktion unter dem Stichwort »Zugabe«, außerhalb des »normalen« Programms. Als Aufführungstermine werden Daten genutzt, an denen das Orchester Auswärtstermine hat. Gespielt wird vor 1200 Zuschauern im großen Saal (deutsche Dialoge, die Songs auf Englisch). All in geht de Beer nicht, nur die Vorderbühne wird bespielt. In der Mitte beherrscht ein drehbarer (was die Darsteller besorgen) multifunktionaler Koloss (Bühnenbild: Agnes Hasun) von einem Pfeiler die Szene (und blockiert die Sicht für die Zuschauer ganz rechts und links vorne). Er ist Kiosk, Diner, man kann ihn erklettern, und schon sind wir auf einem Hausdach. Links und rechts Sitzgelegenheiten für diverse Innenraumszenen. Im Hintergrund auf jeder Seite zwei Musiker:innen in Kojen. Viel an Platz, um sich zu bewegen, bleibt nicht. Doch Choreografin Tara Randell (an der Volksoper auch als Darstellerin aktiv) hat fabelhafte Arbeit geleistet. Die kleinen Tanzschritte und Moves wirken stets natürlich, reich an Stilistik, Gesten, mit Humor, Ironie und Pfiff, elegant und spritzig. Die Show ist von einer Körperlichkeit geprägt, die die Freundschaft von Jon, Susan und Michael unterstreicht. Der leichte Alltagstonfall, der ab und an einfließt in den Sprechszenen, unterstreicht zusätzlich die Vertrautheit.

„Das Stück ist energisch, witzig, lebensbejahend und schnell“, meinte Regisseur Fréderic Buhr vor der Premiere. Bisweilen hat er um einen Tick zu sehr aufs Tempo gedrückt. Zum Highlight der Show (praktisch ein Showstopper bei der Premiere) wurde die Szene »Why«, in der Michael Jon mit einem markerschütternden Schrei klarmacht, dass es Menschen gibt, mit denen es das Schicksal immer noch schlechter meint. Diese Momente sind perfekt inszeniert, eindrucksvoll interpretiert. Juliette Khalil ist gnadenlos mitleidlos als Jons Agentin, am Punkt als seine Freundin. Einzig ihre Interpretation von »Come to Your Senses« ist hinterfragbar, zu sehr fightet sie sich durch – dennoch ein spannender Zugang. Lotte de Beer sollte mit dieser Öffnung Richtung Zukunft all in gehen.