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Archiv - Oktober, 2023

Ute Lemper: »Die Zeitreisende«

lemper2023.jpg»Unzensiert«, ihre erste Autobiografie, hat Ute Lemper 1993 geschrieben. Damals war die Künstlerin 30 Jahre alt. Drei Jahrzehnte später erzählt die heute 60-Jährige in ihrem Buch »Die Zeitreisende«, was seither passiert ist, startet aber wieder: am Beginn. Und so finden sich auf den ersten 160 Seiten des 2023 erschienenen Werks rund 90 Seiten von »Unzensiert« abgedruckt. Somit liegt dieses Mal erneut eine »vollständige« (1963 bis 2023) Autobiografie vor, was aus Marketinggründen nicht unklug ist. Lemper nutzt diese Zeitreise in die Zeilen des 1994 erschienenen Buches aber auch, um eine Metaebene hinzuzufügen und ihre Erinnerungen an die Erinnerungen aus aktueller Sicht zu kommentieren (und zu ergänzen). Da kommt ab und an ein wenig Ironie ins Spiel. So darf beim nochmaligen Eintauchen in die frühen Anfangsjahre natürlich nicht das einjährige »Cats«-Engagement 1983 in Wien fehlen, die Schilderung der Qualen der Proben sowie des darauffolgenden Spielalltags: »Als dann das Stück lief, trat ich ständig mit geschwollenen Handgelenken, Knien und Füßen, chronischer Bronchitis und einer Knochenhautentzündung unter den Fußballen auf. Mein Rücken war steif, die Stimmbänder gerötet, beim Aufwachen am Morgen fühlte ich mich wie eine 60-Jährige. Und so sah ich auch aus.« Lemper 2023 dazu ganz knapp: »Na hallo, so schlecht fühle ich mich aber heute nicht!!« – Nur richtig zitiert, wenn man nicht auf die beiden Ausrufezeichen vergisst. Zwei Ausrufezeichen sind indes immer um mindestens eines zu viel. So meinte F. Scott Fitzgerald einmal: »Cut out all these exclamation points. An exclamation point is like laughing at your own joke.«

Aber andererseits haben wir es bei der Zeitreisenden immerhin mit einer Künstlerin zu tun, die ohne Ghostwriter auskommt. Dass sie ihr erstes Buch selbst geschrieben hat, muss man ihr glauben, denn 2023 hält sie dazu fest: »Der Verlag bittet um eine Autobiografie, wie es vor 30 Jahren geschah. Ich zögere demütig, doch der Zauber des Wortes klingt verlockend. […] 1994 ist schon einmal eine Biografie von mir erschienen. […] Diese Biografie hatte den selbst gewählten Titel ›Unzensiert‹, da sie komplett selbst geschrieben war damals, 1993 in Berlin. Ich lebte noch in meiner Wohnung in Charlottenburg, die ich für die Zeit des ›Blauen Engel‹ angemietet hatte. Mittlerweile war mein damaliger Freund David Tabatsky eingezogen. Ich war im fünften Monat schwanger mit unserem ersten Kind, das dann Max heißen sollte. […] Obwohl der Henschel Verlag mir einen Ghostwriter vorgeschlagen hatte, stand meine Entscheidung fest. Ich wollte mich selbst an die alte Schreibmaschine setzen und tippen. Genug Tipp-Ex hatte ich schon eingekauft! Somit wurde diese Biografie […] ein wildes Gewölbe an Erinnerungen und Poesie. Der Henschel Verlag gab mir grünes Licht für alle bizarren Wortspiele und verrückten, unorthodoxen Satzketten, die niemals vorher erfunden waren. Jedoch sammelte ich präzise Erinnerungen meines Lebens und seiner Verflechtungen mit geschichtlichen Begebenheiten der damaligen Welt im Umbruch zwischen 1985 und 1994.« Ob Ghostwriting beim aktuellen Buch stattgefunden hat, wird nicht thematisiert. Im Impressum finden sich Angaben zu Projektleitung, redaktioneller Mitarbeit, Lektorat und Korrektorat, zumindest eine der Beteiligten arbeitet für eine Firma, die auch Ghostwriting anbietet. Ist die Zeitreise auch »unzensiert« entstanden?

Dass man bei der neuen Autobiografie bisweilen das Gefühl hat, von einem Erzählrausch umfangen zu werden, in dem man ab und an fast die Orientierung verliert, weil Voraussetzungen nicht so deutlich erzählt werden, wie es nötig wäre, weil es Dubletten gibt, unpräzise Formulierungen, die stutzig machen – ist all das eher ein Feature, kein Bug, weil Lemper das so formuliert hat? Man hätte es fixen können. Aber man muss abwägen bei jedem Eingriff: Wie viel an originalem Wortlaut opfere ich, um den Nebel zu klären? Und ist Nebel nicht auch etwas Schönes? Am Ende ist das Lektorat dafür verantwortlich, was im Buch steht. Eiserne Regel.

Die Zeitreise Ute Lempers lässt sich auf vielerlei Arten lesen. Manche Magazine haben sich die Liebe, die Beziehungen Lempers herausgepickt, wohl angefixt von der Passage: »Ich hatte viele Liebhaber gehabt, eigentlich in jeder Arbeitssituation, in jeder Bühnenproduktion, bei jeglichen Dreharbeiten zu einem Film. Warum auch nicht? Wenn ich jemanden attraktiv fand, wollte ich ihn ganz und gar erleben.“
Man kann ihr Buch aber auch als Beschreibung all der Krater lesen, die das Fortschreiten des Alters an und in uns zurücklässt. Erläuterungen ihrer Blessuren, ihrer Leiden füllen viele Seiten des Buchs. Seelische Leiden, körperliche Leiden. »Meine fünf Bandscheibenvorfälle zwischen Lenden- und Halswirbeln drücken auf die Nervenwurzeln und ich möchte an die Decke springen aufgrund der stechenden Schmerzen, die mir durch das rechte Bein in den Fuß fahren. Diese Verletzungen sind akkumulativ, aber die meisten darf ich dem Musical ›Chicago‹ in die Schuhe schieben. Hier wollte die Choreografin im Bob-Fosse-Stil viele Whiplash-Bewegungen. Ich warf 25 Mal während der Show meinen Kopf in den Nacken, als ob es kein Morgen gäbe. Wo war meine Vorsicht oder mein Selbstschutz?«

Seelisches Leid fügten Lemper Kritiker zu, die ihre Performance in der Berliner Produktion des »Blauen Engel« (1992) verrissen. »Manchmal schauten mich Kollegen seltsam an und wunderten sich, wie ich diese Demütigung ausgehalten hatte. Man gönnte mir nicht meinen Lebensmut.« Wie verhielten sich ihre Eltern in dieser belastenden Situation, konnten sie ihre Tochter trösten? »Meine Mutter verneinte gelegentlich die Verwandtschaft mit mir. Als sie an der Sparkasse von Münster auf ihren Nachnamen angesprochen wurde, sprach sie schnell abweisend ›Nein, nein, die Ute kenne ich nicht, sie ist nicht verwandt mit unserer Familie‹, während sie die wöchentlichen hundert Mark abholte. Wie sollten sie mit diesem Stigma umgehen, gestand sie mir. Ich schaute sie mit großen Augen traurig berührt an und murmelte fragend … warum?«

Spannend sind Einblicke in den »geschäftlichen Alltag« einer Künstlerin. »Zu Beginn der Zusammenarbeit mit meinem damaligen Management war eine Abmachung getroffen, und zwar fifty : fifty, eine glatte Teilung des Einkommens nach allen Produktionsausgaben. Üblich in der Branche sind 25 % für das Management, 75 % für den Künstler. Doch ich akzeptierte dankbar die Hilfe und war erleichtert für die Unterstützung.«
An einigen Stellen wird die Zeitreise zum Netflix-Thriller, etwa wenn Lemper erstmals schildert, was bei ihrem viel beachteten Auftritt im Sommer 1990 bei dem von Roger Waters veranstalteten »The Wall«-Konzert am Berliner Potsdamer Platz tatsächlich passiert ist. »1990 hörte ich die vielen missgünstigen Kommentare aus meinem Heimatland über die Tatsache, dass ich bei dem […] Konzert die einzige engagierte Deutsche war. Neidische, höhnische Kommentare, die ich beschämt versuchte zu ignorieren. […] Ich sang mein tolles Lied ›Mama loves her Baby‹ im Duett mit Roger Waters, und dann plötzlich, mit einem Schlag, war alles still und duster, Licht und Ton versagten und ein massiver Stromausfall unterbrach den Fluss der Show. […] Ich wunderte mich still in meiner Angst vor Deutschland, ob es sich hier um Sabotage handelte.« Dann, bei ihrem zweiten Song: »Ich stand frei und ungeschützt auf der Plattform, als mir wie aus dem Nichts plötzlich ein dickes Seil mit Knoten in den Körper schlug. Es kam von einem hohen Kran neben mir und jemand musste es mit voller Kraft in meine Richtung gezielt auf mich geschwungen haben. Es traf meinen Oberkörper und donnerte mich in Richtung einer Stahlsäule. […] Wer hatte dieses Seil in meine Richtung katapultiert? [… Alles schien] in eine Richtung zu deuten, die etwas mit mir und meinem Heimatland zu tun hatte. Antworten sollte ich nie bekommen.« Die durch den Stromausfall verlorenen Minuten wurden neu gefilmt. »Keiner kennt den Verlauf meiner Geschichte an diesem Abend.«

Ute Lemper hält es bei ihrer Zeitreise in etwa wie Christoph Waltz, der von US-Komiker Zach Galifianakis für die Talkshow »Between Two Ferns« einmal gefragt wurde: »Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor?« und – etwas verkürzt – so geantwortet hat: »Das geht Sie gar nichts an. Diese Geschichten von Schauspielern und ihrer Vorbereitung – total überbewertet. Zauberer würden es auch nicht wagen, Ihnen zu erzählen, wie ihre Tricks funktionieren.« Ein bisschen Zauber steckt dahinter, was und wie Lemper hier von und über ihr Leben erzählt. Bühnennebel gehört zum Business. Verklärung ist Teil der Magie. Ganz große Kunst ist beispielweise die Schilderung eines Telefonats 1987 mit der 87-jährigen Marlene Dietrich oder die ebenfalls ausführlich geschilderte aufreibende Arbeit in Produktionen von »Chicago«. Ute Lempers Leben – ein lesenswerter Roman sozusagen.

Ute Lemper: Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen. Gräfe und Unzer Verlag, München 2023. ISBN 978-3-8338-8917-2. EUR 26,–. www.gu.de