Archiv - 2005
Martin Bruny am Samstag, den
12. März 2005 um 12:06 · gespeichert in Literatur, Musical, Rezensionen, Bücher, 2005
Was zur Bibel für Musicalfans hätte werden können, es entpuppt sich letztlich als Zankapfel: der TheaterMania Guide to Musical Theater Recordings, herausgegegeben von Michael Portantiere, Editor-in-Chief der bekannten Website TheaterMania.com, versehen mit einem Vorwort von Jerry Herman.
Das broschierte Buch bietet auf rund 400 Seiten Kritiken zu mehr als 1000 Cast-CDs der wichtigsten Shows des Broadway und Londoner West End, beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts - eine umfangreiche Aufgabe. Jede Aufnahme wird nach einem Punkteschema von “not recommended” (kein Punkt) bis “Superlative; outstanding” (5 Punkte) bewertet.
Das erste große Minus: es gibt keine exakten Angaben zur Cast, Details zu Komponist, Texter etc. sind lediglich in den Kritiken selbst enthalten, nicht in einem Übersichtsteil zu jeder CD. Letztlich ist dieses Buch tatsächlich eine leserunfreundliche Ansammlung von Kritiken geworden - eine höchst subjektive, und die Empörung unter beispielsweise englischen Musicalfans war groß, als sie für sich aus den Kritiken herausfilterten, dass englische Cast-CDs praktisch immer schlechter “bewertet” werden als die amerikanischen Pendants.
Ganz übel meint man es mit Boublil & Schönberg. Von “Miss Saigon” etwa werden 2 Cast-CDs rezensiert: die Original London Cast von 1989 und die Studio Cast von 1995. Das Urteil des Kritikers: “not recommended”. Zitat: “Like its equally Eurotrashy predecessors “The Phantom of the Opera” and “Les Misà©rables”, “Miss Saigon” followed a crooked path to enourmous popular and financial (but not artistic) success.”
“Les Misà©rables” konnte die Kritiker ein klein bisschen mehr überzeugen. Die Original London Cast (1985) erhielt 2 Punkte, Broadway Cast (1987) ebenfalls 2 Punkte, Complete Symphonic Recording (1988) nur einen Punkt, die London Concert Cast (1995) 2 Punkte.
Favorit der Kritiker, was Boublil/schönberg betrifft, ist eindeutig “Martin Guerre”: 4 Punkte für die London Cast (1996) und 3 Punkte für die Touring Cast.
Andrew Lloyd Webbers “Das Phantom der Oper” kommt auf den 2 bewerteten Aufnahmen nicht über je einen Punkt hinaus. Zur London Cast CD wird vermerkt: “The recording gets one grudging star for its few nice moments, but don’t take that as a recommendation to buy it.”
Man mag sich über die Subjektivität der Rezensenten empören, Fakt ist, dass wir hier Kritiken zu mehr als 1000 Cast-CDs vorliegen haben, und wenn man dieses Büchlein schon zu nichts anderem verwenden mag, so doch vielleicht als höchst inspirierende Ansammlung von Kauftipps. Garniert wird das Ganze durch Listen der 10 persönlichen Lieblingsmusicals von Größen wie Barbara Cook, Kristin Chenoweth, Fred Ebb, Jason Robert Brown und Michael John LaChiusa.
[The Theatermania Guide to Musical Theater Recordings; Paperback: 416 pages; Publisher: Backstage (December 10, 2004); ISBN: 0823084353]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:19 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Es gibt Bücher, an denen kommt man als am amerikanischen Musical Interessierter nicht wirklich vorbei. “The Art of the American Musical” gehört dazu. Auf 308 Seiten bringen die Herausgeber Jackson R. Bryer und Richard A. Davison Transkriptionen von insgesamt achtzehn Interviews mit einigen der wichtigsten kreativen Köpfe dieser Kunstform: Lynn Ahrens und Stephen Flaherty (”Once on This Island”, “Ragtime”), Jason Robert Brown (”Parade”, “The Last Five Years”), Betty Comden und Adolph Green (”On the Town”, “Bells Are Ringing”), Sheldon Harnick (”She Loves Me”, “Fiddler on the Roof”), John Kander und Fred Ebb (”Cabaret”, “Chicago”, “Kiss of the Spider Woman”), Burton Lane (”Finian’s Rainbow”, “On a Clear Day You Can See Forever”), Arthur Laurents (”West Side Story”, “Gypsy”, “Hallelujah, Baby!”) ,Hal Prince (”The Pajama Game”, “Damn Yankees”), Kathleen Marshall (”Kiss Me Kate”, “Wonderful Town”), Stephen Sondheim (”Company”, “Sweeney Todd”), Susan Stroman (”Crazy for You”, “The Producers”), Charles Strouse (”Bye Bye Birdie”, “Annie”), Tommy Tune (”Nine”, “Me and My Girl”), John Weidman (”Pacific Overtures”, “Assassins”) und George C. Wolfe (”Jelly’s Last Jam”, “Harlem Song”).
Das beherrschende Thema des Buches ist die Frage, wie die verschiedensten kreativen Abteilungen einer Musicalproduktion bei der gemeinsamen Arbeit kooperieren, um das, was man dann als Gesamtwerk “Musical” auf der Bühne sieht, entstehen zu lassen. So lässt sich dieses Buch auch gliedern in Interviews mit Komponisten, Textern, Librettisten, Regisseuren, Choreographen und Produzenten. Viele der Interviewten nehmen im kreativen Entstehungsprozess auch Mehrfachfunktionen ein, Jason Robert Brown beispielsweise ist unter anderem Komponist, Texter und Musikalischer Direktor, die meisten der Befragten haben bereits miteinander gearbeitet oder mit den Großen der Branche, die zwar nicht selbst interviewt werden konnten, aber vielfach Erwähnung finden, wie Leonard Bernstein, Jerome Robbins, Jule Styne, Bob Fosse, Liza Minnelli, Alan Jay Lerner und viele andere.
“The Art of American Musical” ist kein Buch über Musicaldarsteller, sehr wohl ist aber ein “Sequel” zu diesem Werk in Planung, in dem dann die Performer zu Wort kommen sollen.
Bemerkenswert an diesem Interviewband ist die große Bereitschaft aller Beteiligten, wirklich ausführlich zu den clever gestellten Fragen Stellung zu nehmen. Und so kann es schon vorkommen, dass Jason Robert Brown mehr als drei Druckseiten für die Beantwortung einer einzigen Frage Platz bekommt. Als Leser empfinde ich das als Wohltat, in Zeiten, da sogar in Onlinemedien “Platz” Mangelware ist. Man sollte meinen, dass im Internet, wo es nicht drauf ankommt, ob man nun ein bisschen mehr oder weniger scrollt, Content, also Inhalt, beliebig lange sein darf, wenn es das Thema erfordert, allein, genau das Gegenteil wird von allen Fachleuten gepredigt: »”Man” liest nicht lange Texte im Internet.« In Zeitschriften ist meistens auch kein Platz, um wirklich lange, ausführliche Texte abzudrucken, es wird gekürzt, umgestellt und noch mal gekürzt – bleibt also das gute alte Buch.
Die achtzehn Interviews entstanden zwischen 1992 und 2004, alle Beteiligten erhielten vor der Drucklegung noch einmal die Chance, ihre Statements upzudaten. “The Art of American Musical” ist nicht nur ein Lobgesang auf Triumphe, auch die großen Flops werden ausführlich behandelt, so beispielsweise Stephen Sondheims Musical “Bounce”, an dem auch John Weidman und Harold Prince beteiligt waren. So ergibt sich die Analyse eines Flops aus den verschiedenen Ecken des Kreativteams.
Ein Stichwortverzeichnis ist vorhanden, man kann das Buch natürlich auch als Quelle für biographische Zwecke verwenden, jedem Interview sind ein kurzer Lebenslauf und eine Werkübersicht vorangestellt, auch Bildporträts der Befragten fehlen nicht.
Fazit: Ein rundum faszinierendes Buch, mit Sorgfalt und Liebe zum Genre editiert.
Jackson R. Bryer; Richard A. Davison: The Art of the American Musical – Conversations with the Creators. Rutgers University Press, New Brunswick 2005, 308 S.; ISBN: 0-8135-3613-8. $ 23,95 (Paperback). http://rutgerspress.rutgers.edu/
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:13 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
“Sag: ‚Viele Versprecher, du Schlampe.’ Jetzt mach schon Junge, ich muss auf die Bühne!” forderte eine große alte Dame des Theaters vor vielen Jahren vom jungen Dramaturgen John von Düffel. »Man sagt nicht ‚viel Glück’, wenn man jemandem viel Glück wünscht!« schimpft sie ihn so laut, dass es jeder im Gardereobentrakt hören kann. Düffel weiß noch nichts von den Do’s und Dont’s am Theater, er hat noch keine Ahnung, warum man auf der Bühne nicht pfeifen darf, warum »Teufel, Teufel, Teufel« als Premierenwunsch dann doch noch um einen Deut besser als »Toi, toi, toi« ist, warum man auf der Bühne nicht isst und keine Hüte und Mäntel tragen darf, sofern sie nicht zum Kostüm gehören. Die ungeschriebenen Theatergesetze – sie sind ihm noch alle fremd. »Bitte nicht pfeifen! – Eine Verteidigung des Aberglaubens auf der Bühne«, verfasst von Dramaturg, Film- und Theaterkritiker John von Düffel, ist ein Artikel in einer Buchneuerscheinung mit dem Titel »Beruf: Schauspieler«, einem faszinierenden Sammelband, herausgegeben vom Intendanten des Thalia Theaters Hamburg, Ulrich Khuon.
Auf Stichwort brechen sie in Tränen aus, schreien und lachen, singen und tanzen, sind wütend oder fröhlich. Darsteller stehen im Rampenlicht und müssen in ihrer Rolle überzeugen: mit ihrer Stimme, ihrer Mimik und Gestik, ihrem ganzen Körper. Mit Haut und Haar schlüpfen sie in ein anderes Ich, auf der Bühne oder vor der Kamera. Der Schauspieler, das zerbrechliche Wesen. Auch das einer von vielen Ansätzen, wie man sich dem Leben vor und hinter der Bühne in diesem Buch nähert: mit einfühlsamen Porträts und Interviews. Zu Wort kommen Newcomer und arrivierte Stars wie Paula Dombrowski, Caroline Ebner, Maren Eggert, Judith Engel, Fritzi Haberlandt, Alexandra Henkel, Dietmar König, Hans Kremer, Stefan Kurt, Susanne Lothar, Michael Maertens, Annette Mayer, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Sylvie Rohrer, Stefanie Stappenbeck, Ulrich Tukur, Susanne Wolff und Martin Wuttke. Interessant dabei ist nicht nur, wie der/die Interviewte antwortet, sondern wie das Frage-Antwort-Spiel von den Autoren des Buches aufbereitet wird. Ganz verschiedene Ansätze haben da die Autoren dieses Buches: Sonja Anders, Eva Behrendt, Klaudia Brunst, Werner Burckhardt, Petra Castell, Robin Detje, John von Düffel, Jürgen Flimm, Gerhard Jörder, Hellmuth Karasek, Andreas Kriegenburg, Brigitte Landes, Frauke Meyer-Gosau, Monika Nellissen, Thomas Oberender, Peter Reszczynski, Hermann Schreiber, C. Bernd Sucher und Egbert Tholl.
Man liest viel von “Angst” in diesem Buch, aber auch viel von Leidenschaft, Begeisterung, Illusionen und Desillusionierung. Sehr kritisch setzt sich beispielsweise die Kulturjournalistin Monika Nellissen in ihrem Beitrag “Alle Kellner sind Schauspieler” mit der Arbeitsmarktsituation auseinander: »Kellnern, sagt Michael Schäfermeyer, Leiter der Schauspielabteilung der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) der Bundesagentur für Arbeit, und meint das nicht zynisch, sei ja noch ein honoriger Beruf. Im Extremfall werden Pornogeschichten gemacht, und sei es nur als Overvoice, um ein paar Euro zu verdienen.” Die Prognosen sind düster. Nach den Hartz-IV-Gesetzen dürfen Schauspieler nur noch dann Arbeitslosengald beziehen, wenn sie innerhalb von zwei Jahren an mindestens 360 Tagen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Davor galt ein Zeitraum von drei Jahren. Etatkürzungen, Theaterfusionierungen und -schließungen … natürlich müssen nicht alle Darsteller als Kellner arbeiten. Aber Statistiken, wieviele es tun, gibt es nicht. Da Realität, dort die Formulierung des Ziels: »Wenn ihr die Menschen erreicht, wenn sie über euch weinen, lachen, wenn ihr sie nachdenklich macht oder ihnen vielleicht sogar eine Lebenshilfestellung gebt, dann erfüllt ihr unseren Beruf. Ihr erfüllt unsere Berufung«, so Boy Gobert, der legendäre Theatermann. Als Intendant, Schauspieler und Regisseur war das Theater sein Leben. Was das Theaterleben so einzigartig macht, den Zauber des Theaters, ihn versucht dieses Buch ein wenig zu entschlüsseln. Wie gehen Schauspieler mit Verrissen um, Lampenfieber, Neid, Ängsten, wie mit Erfolg? Wie hat sich der Beruf in den letzten Jahrzehnten verändert. Fragen, die auf spannende Weise beantwortet werden, und neue, unbeantwortet bleibende Fragen aufwerfen. Ein Fragebogen rundet die Interviews, Portraits ab: »Stören Sie hustende Zuschauer?«, »Wie gehen Sie mit Buhs um?«, »Haben Sie Hemmungen, auf der Bühne nackt zu sein?«, »Spielen Sie gerne in einer Uraufführung«, »Was tun Sie gegen Lampenfieber?«, »Gibt es Kritiker, deren Meinung Ihnen wirklich wichtig ist?«, »’Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze’. Hier irrt Schiller?«, »Sind Sie abergläubisch?« – nur einige der interessanten Fragen.
Insgesamt eine anregende Lektüre, die man allen Darstellern, aber auch Rezensenten und einfach begeisterten Theatergehern ans Herz legen kann.
Ulrich Khuon (Hrsg.): Beruf: Schauspieler – Vom Leben auf und hinter der Bühne. edition Körber-Stiftung, Hamburg 2005, 368 S.; ISBN: 3-89684-045-2. € 18,00 (Hardcover). www.edition-koerber-stiftung.de
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:08 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Frage: Wann ist ein Musical kein Musical? Antwort: Wenn es Andrew Lloyd Webber komponiert hat.
Sir Andrew, Komponist, Produzent, Agent und Manager, geboren 1948 in Westminster (London), ist in der Musicalbranche wohl das Reizwort schlechthin. 7 Tonys hin, 3 Grammys her, in Kritiken, Glossen und manch böser Nebenbemerkung wird auf Andrew Lloyd Webber eingedroschen, was nur geht. Interessanterweise ist das Begriffsrepertoire, das von seinen Kritikern angewendet wird, in der Regel nicht sehr differenziert. Das Ziel, des Komponisten Werk abzuqualifizieren, wird meistens auf kürzestem Wege über plakative Schlagworte und dämliche Metaphern erreicht.
John Snelson geht einen ganz anderen Weg, hat einen ganz anderen Background – ein anderes Ziel. Er möchte dem Phänomen Andrew Lloyd Webber möglichst sachlich auf den Grund gehen. Es steckt eine andere Einstellung hinter seinem Ansatz – die eines Musikwissenschaftlers. Snelson interessiert sich grundsätzlich für das Schaffen von Lloyd Webber und ist dem Künstler gegenüber positiv eingestellt. Was auch immer man an Webber auszusetzen hat, er hat die Art und Weise, wie Musicals heute wahrgenommen werden, grundlegend beeinflusst, seine Erfolge sind evident. “The Phantom of the Opera” ist die am längsten laufende Show am Broadway, gefolgt von – “Cats”. Webbers Erfolg verdient und verlangt es, ernst genommen und seriös analysiert zu werden, exakt das ist Snelsons Anliegen.
Das begriffliche Instrumentarium des Autors ist äußerst vielschichtig, die (musik-)theoretische Basis, auf der sein Werk basiert, ist fundiert. Ausgehend von möglichst vielen Ansatzpunkten seziert er das Werk Lloyd Webbers in sich immer mehr verengenden Kreisen, bis hin zur Analyse von einzelnen Leitmotiven, der einzelnen Note (27 Notenbeispiele sind im Buch enthalten), den Marketingtricks des Künstlers, beispielsweise die Big Ballads im Vorfeld der Premieren in den Charts zu platzieren, auch wenn er dafür zuerst einmal die Nummern völlig umbauen muss (so geschehen bei “No matter what” aus “Whistle Down the Wind”).
Snelson beginnt mit dem biographischen Aspekt und rollt Webbers Lebensgeschichte im Spiegel seiner Werke auf 19 Seiten auf. In einer nächsten Stufe analysiert er die Webberschen Musicals vor dem Hintergrund der Entwicklung der zeitgenössischen Pop- und Rockmusik sowie der Klassik (z. B. “Joseph” – Pop; “Jesus Christ Superstar”, “Evita” – Rock plus zusätzliche Einflüsse von Prokofjew, Schostakowitsch und Strawinsky) und widmet sich danach dem “Phantom der Oper”. Die Analyse dieses Musicals auf 50 Seiten ist das Herzstück von Snelsons Webber-Biografie. Ausgehend vom Stoff, einer Zusammenfassung der von Webber benutzten Quellen, gibt Nelson anhand von zahlreichen Notenbeispielen Einblicke in die Kompositionskunst Webbers, interpretiert dessen musikalische Sprache und analysiert so das Geheimnis der Wirkung der Songs von Andrew Lloyd Webber.
Ein weiteres Kapitel widmet der Autor den zahlreichen Verfilmungen der Webberschen Musicals. Eine Diskussion des Begriffs “Musical-Kanon”, die Einordnung bzw. Stellung der Werke Webbers darin beschließen John Snelsons Analyse. Webber, so Snelson, definiert seit Jahrzehnten auf bemerkenswerte und vielschichtige Art und Weise das Genre “Musical Theatre” immer wieder neu. Er sieht das “Musical Theatre” nicht als isolierte Gattung, sondern eingebunden in ein größeres Netz kultureller Querverbindungen, Einflüsse, die sich als blendende Inspirationen nützen lassen. Auch das ist, nicht zuletzt, eines seiner Erfolgsrezepte. “The Composer must dictate the evening because you are, in the end, the dramatist.” So lautet ein Zitat von Lloyd Webber, das Snelson gleich drei Mal in seinem Buch verwendet, und in der Tat scheint dies ein weiteres zentrales Mosaiksteinchen in der Karriere des “Broadway Master” zu sein. Interessant wäre eine Diskussion zu diesem Thema mit Michael Kunze, der eine ganz andere Meinung vertritt: “Die Musik hat zu dienen, die Musik hat eine dienende Funktion im DramaMusical.« (Michael Kunze, 2005) – aber das ist eine andere Geschichte.
John Snelson: Andrew Lloyd Webber. Yale University Press, New Haven & London 2004. 267 S. ISBN: 0-300-10459-6. 45 $. (Hardcover) [www.yalebooks.com]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:07 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Für viele ist es DAS Cast-Album der letzten Jahre schlechthin, am Broadway ist es mit wöchentlich 15.000 zahlenden Besuchern eine der derzeit erfolgreichsten Shows, seit 2005 feiert eine Tourproduktion in den USA Zuschauerrekorde, und im Herbst 2006 steht die West End-Premiere an, kurz: “Wicked”, Stephen Schwartzs Zaubermärchenmusical, das Prequel zum legendären Musical “Der Zauberer von Oz”, das die Geschichte der bösen Hexe Elphaba und ihrer Rivalin, der guten Hexe Glinda, erzählt (basierend auf einem Bestseller von Gregory Maguire), ist drauf und dran, vom Broadway aus die Welt zu erobern. Und während man von den meisten Musicals Tassen, Anhänger etc. vor Ort im Theater kaufen kann, manchmal auch Plüschtiere, Libretti oder anderes nettes Zeugs, gibt es von “Wicked” eine ganz spezielle, wertvolle Erinnerung: “Wicked: The Grimmerie” nennt sich ein Buch, das im Großformat (23 x 31 cm), und zwar äußerst aufwendig, produziert wurde. Falls Sie so wie ich auch zu jener Sorte Mensch gehören, die bei einem neuen Buch zuerst mal das Cover streichelt, an den Seiten riecht und die Qualität der Verarbeitung und des Papiers prüft – das haptische Vergnügen bei diesem Buch ist unbeschreiblich, das muss man schon selbst erleben.
In der Broadway-Show “Wicked” ist “The Grimmerie” ein altes Buch mit Zaubersprüchen, das Elphaba verwendet, und auch das bei Hyperion erschienene “Grimmerie” ist ganz auf altes Zauberbuch gestylt. Das beginnt schon beim Cover, das als vergilbter Prachteinband designt und luxuriös mit Schaumstofffüllung verarbeitet wurde. Der Innenteil des Buches ist durchgehend vierfärbig auf qualitativ hochwertigem Papier gedruckt, und was das Layout, die Grafiken und die Bilder betrifft, so waren hier Vollprofis am Werk, die fast keine Wünsche offen ließen. Sicher, ein paar Fans hätten sich eine ungekürzte Version des Librettos gewünscht, aber was sonst alles geboten wird, ist beeindruckend, denn außen hui, heißt in diesem Fall nicht innen pfui. Eine informativ bebilderte Entstehungsgeschichte des Musicals, Artikel zu den ersten Workshops, den Try-outs, der Broadway-Version und der Tourproduktion, Interviews mit den Machern der Show, Stephen Schwartz, Marc Platt, Joe Mantello, Gregory Maguire, Winnie Holzman, ausführliche bebilderte Biographien der Cast (sowohl der Broadway-Show als auch der Tourproduktion), ein kleines verspieltes Quiz, “Bist du eher Glinda oder eher Elphaba?”, ausführliche Beschreibungen und Interpretationen jedes Songs durch Stephen Schwartz, ein Wörterbuch der Sprache von Oz, eine genaue Dokumentation, wie die Darstellerin der Elphaba jeden Abend vor der Show grün eingefärbt wird, faksimilierte Original-Notenblätter sowie Entwürfe von Kostümen, Bühnenbild, technischen Details … die Fülle an Informationen, optisch blendend umgesetzt, ist überwältigend. Für Fans der Show ein Muss, und auch für all jene, die ein bisschen hinter die Kulissen dieses Erfolgsmusicals schauen wollen.
David Cote/Joan Marcus: Wicked: The Grimmerie – A behind-the-scenes look at the Hit Broadway Musical. Hyperion, New York 2005, 192 S. ISBN: 1-4013-0820-1. 40 $. (Hardcover) [www.hyperionbooks.com]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:06 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Richard O’Briens Musical “The Rocky Horror Show” wurde 1973 an der experimentellen “Theatre Upstairs”-Bühne des Londoner Royal Court Theatres uraufgeführt und im selben Jahr zum “Best Musical” gekürt. Am 21. Oktober 1974 begannen unter der Regie von Jim Sharman und Autor Richard O’Brien die Dreharbeiten zur “Rocky Horror Picture Show”. Den Großteil der Rollen übernahm die Londoner Originalbesetzung: Tim Curry als Frank N. Furter, Richard O’Brien als Riff Raff und Patricia Quinn als Magenta. Susan Sarandon und Barry Bostwick verkörperten Janet und Brad.
Am 24. März 1975 feierte der Film in den USA Premiere. Als “Kitsch-Schund” von den Kritikern verrissen, blieb der Erfolg zunächst aus. Die “Rocky Horror Picture Show” drohte in der Versenkung zu verschwinden. Dank einer äußerst hartnäckigen Fangemeinde, einigen neu geschnittenen Szenen und eines geänderten Marketingkonzeptes wurde der Film sechs Monate später doch noch als Midnight-Movie zum Kinoerfolg.
In seinem großformatigen (24 x 30 cm) Bildband “Rocky Horror” zeigt Starfotograf Mick Rock auf 272 Seiten über 300 Fotos, die er während der Dreharbeiten zur “Rocky Horror Picture Show” aufgenommen hat.
Mick Rock, geboren 1948, ist bekannt als “der Mann, der die 70er fotografierte” – die Welt des “Glam Rock”, berühmt für ihr Glitzer-Make-up, bizarre Kostüme und theatralische Bühnenshows. Im Laufe seiner Karriere fotografierte er Stars wie David Bowie, Alice Cooper, Roxy Music, Lou Reeds, Iggy Pop, Queen, Sex Pistols, Ramones, Talking Heads, Blondie bis hin zu Kate Moss, Michael Stipe und den Chemical Brothers.
Der durchwegs zweisprachige Bildband, ergänzt durch Erinnerungen an diese Zeit und einige Anekdoten des Rockfotografen, ein Vorwort von Richard O’Brien sowie Zitate vieler Beteiligter ist ein Mix von porträtartigen, wunderschönen Großaufnahmen und stimmungsvollen Schnappschüssen, eine Mischung aus gestochen scharfen Bildern und atmosphärisch dichten “Zufallstreffern” – wobei man mit dem Begriff “Zufallstreffer” leicht in Versuchung kommen könnte, das Genie Mick Rock zu unterschätzen. Er wusste schon genau, wann er auf den Auslöser drücken musste, um ein Zeitdokument zu knipsen: “Ich konnte knipsen, was auch immer mir gerade ins Auge fiel und meine Fantasie anregte”, so Mick Rock. Als “Special Photographer” war er nah am Drehgeschehen. Seine Fotos zeigen beispielsweise, wie Tim Curry als Frank N. Furter während der Drehpause im Swimmingpool planscht, wie sich Richard O’Brien in Riff Raff verwandelt oder wie die illustre Gesellschaft die Erschaffung des Liebesmonsters “Rocky” zelebriert.
“Rocky Horror” ist ein Buch geworden, das mit jedem Durchblättern gewinnt, immer wieder entdeckt man Details, an denen man hängen bleibt: Gesten, ein für immer festgehaltener Gesichtsausdruck, das laszive Spiel mit der Kamera – ein voyeuristischer Kunstgenuss der besonderen Art. Jedes Bild erzählt seine eigene Geschichte, die man sich selbst erschließen, für sich selbst auf eine bestimmte Art und Weise erfinden muss. So gesehen kann es durchaus vorkommen, dass man nach hastigem erstem Durchblättern noch viele weitere Stunden mit diesem Buch verbringt.
Mick Rock: Rocky Horror – Das Buch zum Kultfilm. Mit einem Vorwort von Richard O’Brien. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2005, 272 S. ISBN: 3-89602-666-6 2005. 39,90 €. (Hardcover) [www.schwarzkopf-schwarzkopf.de]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:06 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2005
US-Autor John Kenneth Muir ist ein Vielschreiber. Seit 1997 publiziert der Filmspezialist pro Jahr durchschnittlich zwei Bücher. Dem Horrorfilm gilt seine Leidenschaft. Er schrieb Biographien über Wes Craven, Tobe Hooper und Sam Raimi sowie zu diversen Spezialthemen den Horror- und Science-Fiction-Film betreffend. Nur ein Schelm würde nun eine Überleitung vom Horrorfilm zum Filmmusical wagen. Aber was soll’s.
Mit “Singing a New Tune” zeichnet Muir die Geschichte des englischsprachigen Filmmusicals von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart in dicken Strichen auf die Filmleinwand. Er tut dies im Stile eines Anekdotenerzählers. “Namedropping” ist ein beliebtes Stilmittel amerikanischer Autoren: Zu einem Thema werden fünf, sechs, sieben Leute, möglichst prominent, als Zitatäußerer herangezogen – das können in Muirs Fall Kritiker sein, Filmproduzenten, Regisseure, Schauspieler … Aus ihren Statements konstruiert der Autor wie ein Puzzle die Geschichte des Filmmusicals. Die Frage, die sich bei diesem Buch grundsätzlich stellt: Was ist ein Filmmusical? Muir tut sich da relativ leicht. Alles, was Songs hat, passt rein, egal ob Animationsfilm, Drama oder Komödie. “South Park – Bigger, Longer & Uncut”, ganz klar, ein Filmmusical. Die Disney-Zeichentrickfilme? Klar, Filmmusicals. “From Justin to Kelly”, das gefloppte Promotion-Vehikel für die “American Idol”-Teilnehmer Justin Guarini und Kelly Clarkson – na logo, ein Filmmusical.
96 von 360 Seiten sind dem Zeitraum bis 1996 gewidmet, rund 180 Seiten dem Filmmusical ab 1996, und an die 70 Seiten umfasst der Anhang (u. a. mit etwas genaueren Cast- & Creative-Team-Angaben zu den besprochenen Filmen ab 1996, einem Stichwortregister und einem Verzeichnis der verwendeten Quellen). Im Hauptteil seines Buches widmet sich der Autor sehr ausführlich den Filmmusicals “Evita” (1996), “Everyone says I love you” (1997), “Velvet Goldmine” (1998), “Love’s Labour’s Lost” (2000) “Dancer in the Dark” (2000) “Moulin Rouge” (2001), “Hedwig and the Angry Inch” (2001), “Chicago” (2002), “Camp” (2003), “De-Lovely” (2004) und “The Phantom of the Opera” (2004). Da er im Zusammenstellen von interessanten Zitaten, Interviewausschnitten und Statements von an den Produktionen Beteiligten ein gutes Händchen hat, ist “Singing a New Tune” alles in allem ein leicht zu lesender, unterhaltsamer Führer durch die Geschichte des Filmmusicals. Man bekommt Lust, sich die alten und neuen Klassiker mal wieder anzusehen. Viel Neues hat Muir für den Zeitraum bis 1996 nicht zu bieten, zumindest nicht für Musicalkenner, dafür zeichnet er für die Neuzeit des Filmmusicals ein paar recht interessante Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten. Ein bisschen ärgerlich sind die peinlichen Fehler, die Muir durchgerutscht sind. So wird Meat Loaf als Komponist der “Rocky Horror Show” abgefeiert (Richard O’Brien wird sich freuen), “Hopelessly devoted to you” wird als Song der Bühnenversion von “Grease” zitiert, und bei “Strictly Ballroom” werden Namen von Schauspielern mit jenen der Filmfiguren verwechselt, um mal nur ein paar Fehler aufzuzählen. Aber vielleicht ist das ja auch als Zusatznutzen konzipiert, nach dem Motto: Wer findet die meisten Fehler?
John Kenneth Muir: Singing a New Tune – The Rebirth of the Modern Film Musical from Evita to De-Lovely and Beyond. Applause Theatre & Cinema Books, New York 2005. 360 S. ISBN: 1-55783-610-8. 24,95 $. (Hardcover) [www.applausepub.com]