Frage: Wann ist ein Musical kein Musical? Antwort: Wenn es Andrew Lloyd Webber komponiert hat.
Sir Andrew, Komponist, Produzent, Agent und Manager, geboren 1948 in Westminster (London), ist in der Musicalbranche wohl das Reizwort schlechthin. 7 Tonys hin, 3 Grammys her, in Kritiken, Glossen und manch böser Nebenbemerkung wird auf Andrew Lloyd Webber eingedroschen, was nur geht. Interessanterweise ist das Begriffsrepertoire, das von seinen Kritikern angewendet wird, in der Regel nicht sehr differenziert. Das Ziel, des Komponisten Werk abzuqualifizieren, wird meistens auf kürzestem Wege über plakative Schlagworte und dämliche Metaphern erreicht.
John Snelson geht einen ganz anderen Weg, hat einen ganz anderen Background – ein anderes Ziel. Er möchte dem Phänomen Andrew Lloyd Webber möglichst sachlich auf den Grund gehen. Es steckt eine andere Einstellung hinter seinem Ansatz – die eines Musikwissenschaftlers. Snelson interessiert sich grundsätzlich für das Schaffen von Lloyd Webber und ist dem Künstler gegenüber positiv eingestellt. Was auch immer man an Webber auszusetzen hat, er hat die Art und Weise, wie Musicals heute wahrgenommen werden, grundlegend beeinflusst, seine Erfolge sind evident. “The Phantom of the Opera” ist die am längsten laufende Show am Broadway, gefolgt von – “Cats”. Webbers Erfolg verdient und verlangt es, ernst genommen und seriös analysiert zu werden, exakt das ist Snelsons Anliegen.
Das begriffliche Instrumentarium des Autors ist äußerst vielschichtig, die (musik-)theoretische Basis, auf der sein Werk basiert, ist fundiert. Ausgehend von möglichst vielen Ansatzpunkten seziert er das Werk Lloyd Webbers in sich immer mehr verengenden Kreisen, bis hin zur Analyse von einzelnen Leitmotiven, der einzelnen Note (27 Notenbeispiele sind im Buch enthalten), den Marketingtricks des Künstlers, beispielsweise die Big Ballads im Vorfeld der Premieren in den Charts zu platzieren, auch wenn er dafür zuerst einmal die Nummern völlig umbauen muss (so geschehen bei “No matter what” aus “Whistle Down the Wind”).
Snelson beginnt mit dem biographischen Aspekt und rollt Webbers Lebensgeschichte im Spiegel seiner Werke auf 19 Seiten auf. In einer nächsten Stufe analysiert er die Webberschen Musicals vor dem Hintergrund der Entwicklung der zeitgenössischen Pop- und Rockmusik sowie der Klassik (z. B. “Joseph” – Pop; “Jesus Christ Superstar”, “Evita” – Rock plus zusätzliche Einflüsse von Prokofjew, Schostakowitsch und Strawinsky) und widmet sich danach dem “Phantom der Oper”. Die Analyse dieses Musicals auf 50 Seiten ist das Herzstück von Snelsons Webber-Biografie. Ausgehend vom Stoff, einer Zusammenfassung der von Webber benutzten Quellen, gibt Nelson anhand von zahlreichen Notenbeispielen Einblicke in die Kompositionskunst Webbers, interpretiert dessen musikalische Sprache und analysiert so das Geheimnis der Wirkung der Songs von Andrew Lloyd Webber.
Ein weiteres Kapitel widmet der Autor den zahlreichen Verfilmungen der Webberschen Musicals. Eine Diskussion des Begriffs “Musical-Kanon”, die Einordnung bzw. Stellung der Werke Webbers darin beschließen John Snelsons Analyse. Webber, so Snelson, definiert seit Jahrzehnten auf bemerkenswerte und vielschichtige Art und Weise das Genre “Musical Theatre” immer wieder neu. Er sieht das “Musical Theatre” nicht als isolierte Gattung, sondern eingebunden in ein größeres Netz kultureller Querverbindungen, Einflüsse, die sich als blendende Inspirationen nützen lassen. Auch das ist, nicht zuletzt, eines seiner Erfolgsrezepte. “The Composer must dictate the evening because you are, in the end, the dramatist.” So lautet ein Zitat von Lloyd Webber, das Snelson gleich drei Mal in seinem Buch verwendet, und in der Tat scheint dies ein weiteres zentrales Mosaiksteinchen in der Karriere des “Broadway Master” zu sein. Interessant wäre eine Diskussion zu diesem Thema mit Michael Kunze, der eine ganz andere Meinung vertritt: “Die Musik hat zu dienen, die Musik hat eine dienende Funktion im DramaMusical.« (Michael Kunze, 2005) – aber das ist eine andere Geschichte.
John Snelson: Andrew Lloyd Webber. Yale University Press, New Haven & London 2004. 267 S. ISBN: 0-300-10459-6. 45 $. (Hardcover) [www.yalebooks.com]