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Martin Bruny am Mittwoch, den
27. März 2024 um 15:55 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2024
Dieses Buch ist der Versuch des Autors Aleksei Grinenko, zu untersuchen, wie sich die Entwicklung des Forschungsstands der Wissenschaft zum Thema Geisteskrankheiten/Wahnsinn (Grinenko verwendet den Begriff »madness«, aber in feiner Unterscheidung zu etwa »cognitive/mental disability«. Es ist ein stimmiges Balancieren der Begrifflichkeiten durch Kontext und Zeit, das er in seinem Werk entwickelt) anhand der Geschichte des Musicalgenres nachvollziehen lässt. Konkret geht es unter anderem darum, wie sich Fortschritte in der Mainstream-Psychiatrie in Texten, die für ein Broadway-Publikum geschrieben wurden, spiegeln. Grinenko bezieht sich in seinen Analysen in erster Linie auf die Entwicklung der Forschung in den USA, auf die Broadway-Produktionen der besprochenen Musicals und zum Teil auch auf deren Originalinszenierungen.
Der Autor hat einen interessanten biografischen Background. So arbeitet er seit Dezember 2022 in New York als Private Client Group Specialist bei Yieldstreet, einem Unternehmen, das als Plattform für alternative Investments (Kunst, Immobilien, Rechtswesen) gilt. Daneben ist er Adjunct Professor an der New York University, wo er auf Cloud-based Learning Management Systems (wie Brightspace) spezialisiert ist. Seit Beginn der 2010er-Jahre verfasst er wissenschaftliche Artikel und Kritiken, gibt theaterwissenschaftliche Kurse am New Yorker City Collge, derzeit ist er an der Tisch School of Arts tätig, spezialisiert auf »Theatre and Performance: History, Theory, and Criticism«, »Madness Studies/Disability Studies«, »Music Theatre«, »Feminist and Queer Theatre« und »Russian Theatre«. 2009 bis 2019 war er Producer und Consultant bei der New Musical Territory Theatre Company. In diese Zeit fällt seine Übersetzung des Musicals »Next to Normal“ ins Russische. Als Produzent brachte er die ersten Aufführungen von »West Side Story und »Next to Normal« in Weißrussland auf die Bühne (ausgezeichnet mit einem Belarus National Theatre Award).
Grinenko ist ein Spezialist im Sezieren von Bühnenmomenten in Bezug auf dahinterstehende psychologische Motivation, beeinflusst zum Beispiel von Susan McClarys Schriften bezüglich »Wahnsinnsszenen« in der Oper. Die singende Verrückte, so McClary, verleiht nicht nur den Symptomen des Wahnsinns eine Stimme, sondern musikalisiert auch ihre subjektiven Gefühle, indem sie im Raum der affektiven Begegnung zwischen Darstellerin und Publikum agiert. So vermittelt die Musik ein Gefühl von Tiefe und gewährt den Zuschauer:innen das Erlebnis, das Innere der Figur zu belauschen. Grinenko analysierte 2012 in seinem Artikel »Follies Embodied: A Kleinian Perspective« für »Studies in Musical Theatre« (6/3, 2012, 319) Bernadette Peters’ Interpretation des Songs »Losing My Mind« in Eric Schaeffers »Follies«-Revival von 2011: »In ›Losing My Mind‹ Sally confesses to standing ›in the middle of the floor, not going left, not going right‹ – a behaviour indicative of severe psychic pain. The emphasis of Bernadette Peters’ performance in this torch song is revelatory. Each time her Sally reaches these lines, she nearly brings the song to a halt, as though she has come up against a physical wall. She stands still a moment and then begins to push her way through the lyrics angrily fighting a palpable sense of inner immobility. Although ›Losing My Mind,‹ as performed by Peters, retains its face vale as a song about unrequited love, it comes forth more prominently as a close examination of inner rage colliding against the paralysis of depression.«
2019 dissertierte Grinenko mit seiner Arbeit »Madness and the Broadway Musical, 1940s–2000s« am CUNY Graduate Center. Sie ist die Grundlage für das hier besprochene Buch.
Mainstream- und Experimentalbühnen fungierten und fungieren als wichtige kreative Orte für die Ausarbeitung von Ideen über den menschlichen Verstand, Emotionen und den Körper. In diesen kulturellen Räumen für die Artikulation und das Nachdenken über die Art und Weise, wie man fühlen, denken oder handeln soll, versuchen Autoren mithilfe theatralischer Darstellungen des Wahnsinns zur Diskussion zu stellen, was als normal gilt und was als pathologisch. Auch in Musicals wurden und werden immer wieder maßgebliche medizinische Modelle von Geisteskrankheit und -gesundheit dargestellt, womit ihre Autoren gleichzeitig auch den historischen Wandel von allgemein verbreiteten Annahmen über menschliche Subjektivitäten beeinflussen.
Die Frage, wie Geisteskrankheiten entstehen, birgt für die Forschung nach wie vor viele Rätsel. Grinenko stellt in seinem Buch die These auf, dass in Musicals zu bestimmten, historisch für die Forschung wichtigen Zeitpunkten auf die Vorherrschaft bestimmter Theorien reagiert wurde, womit gleichzeitig eine Art der Beeinflussung entstehen konnte. Wobei es ihm wichtig ist, zu betonen, dass es im Lauf der Zeit nie einen Zeitpunkt gab, zu dem sich alle Theaterautor:innen auf ein bestimmtes Modell geeinigt hätten. »But following the work of historians of madness and mental health, I delineate cultural moments, or, to borrow Ian Hacking’s notion, ›ecological niches,‹ characterized by a groundswell of ideas, images, sounds, and narratives catalyzing around shared clinical and artistic emphases and strategies in envisioning and accounting for mental distress. During such periods, certain facets of madness appear to eclipse others, lingering at the center of public discourses long enough to signal an ascendant trend in mainstream culture and, for my purposes, the Broadway musical.«
Auf einer anderen Ebene entwickelt der Autor eine weitere These. So argumentiert er, dass das Bühnenmusical seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das symbolische Kapital der psychoanalytischen Erkenntnisse benützt habe, um die Ernsthaftigkeit des Genres zu untermauern. Sowohl die Psychoanalyse als auch das Musical erlebten in den 1940er- und 1950er-Jahren ihr »goldenes Zeitalter«. In dieser Zeit wurde verstärkt die »psychologische Tiefe« als Instrument eingesetzt, um das Profil von Broadway-Musicals zu schärfen. Bis heute dient der Begriff »psychologische Tiefe« dazu, Musicals eine Art von »Intellektualität« zuzuschreiben. Was wiederum nicht nur für das Schreiben von Musicals gilt, sondern auch Kritiker für ihr Handwerk verwenden, das Beurteilen von Bühnenwerken.
Grinenko gliedert sein Buch in drei Großkapitel (»Madness in the Mind«, »Madness in the Society« und »Madness in the Brain«). In Teil eins konzentriert er sich auf die Shows »Very Warm for May« (1939), »Lady in the Dark« (1941), »Oklahoma!« (1943) und »The Day before Spring« (1945) (erwähnt und auch besprochen werden nebenbei in jedem Kapitel viele weitere). »Historians and critics single out this decade as a paradigm-shifting period during which creative teams begin to develop more sophisticated modes of characterization, moving the art form from types to individuals and from musical comedy to musical drama. At the core of the emotional and mental suffering assigned to the deep, tragically tinged character model in these shows is inner conflict, a foundational theatrical concept made clinically relevant and culturally chic through psychoanalysis.« Teil zwei behandelt »Anyone Can Whistle« (1964), »Man of La Mancha« (1965), »Dear World« (1969), »Prettybelle« (1971), »King of Hearts« (1978), »Sweeney Todd« (1979) und »Ain’t Supposed to Die a Natural Death« (1971). Und Teil drei: »Charlie and Algernon« (1980) sowie das Herzstück dieses Buchs »Next to Normal« (2009). Weiters geht es hier um »Passion« (1994), »Jekyll & Hyde« (1997), »A New Brain« (off-Broadway, 1998), »The Light in the Piazza« (2005) und »Be More Chill« (Broadway, 2019). Wie viele Details Grinenko beim Sezieren von »Next to Normal« sichtbar macht, ist erstaunlich und reicht von genauen und packenden Song- und Szenenanalysen über die Decodierung des Marketings der Show bis zu einer Einordnung der Vorgehensweise der Autoren bei ihrer Auswahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Erarbeitung der Show – immer im Rahmen des Konzepts des Buchs. Und wie schon bei der faszinierenden oben erwähnten Beschreibung von Bernadette Peters’ Auftritt in »Follies« widmet sich der Autor auch den Performances der Darsteller von »Next to Normal«. »The collective character of the psychomachia in ›Next to Normal‹ draws distinctions and builds alliances. By involving Gabe, a figure of the unconscious, in the visual and aural composition of three different minds on stage and by leaving interrelations among these interior proceedings largely open to interpretation, the musical proposes that there is an infinity of divergent ways in which the psyche can spin the same set of shared or witnessed life experiences. Yet by staging the daily convergences of these three minds within a unified realm of fantasy, the musical also hints at the notion of the family itself possessing an unconscious, a connective tissue of mutuality that holds these people together, despite the divisive idiosyncrasies of discreet subjectivities.« »In this musical, the grooves left by the acts of madness in the social fabric of the world lead to new definitions of one’s self-worth and well-being, to which the light of the final song brings visibility and respect. In the closing verses, the characters shed their shame about depression and, addressing the world, come out as emotionally and mentally wounded. Standing in the dazzling sunbeams of the projectors, they embrace the full spectrum of their feelings and invite the audience to ›open up‹ and join forces in the ›fight‹ against the stigmatization of madness, illness, and, yes, unhappiness in American culture.« 283 Seiten hat das Buch, 80 davon beinhalten Anmerkungen zum Text, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Stichwortregister. Ganz große Leseempfehlung.
Aleksei Grinenko: Seriously Mad. Mental Distress and the Broadway Musical. University of Michigan Press, Ann Arbor 2023. ISBN 978-0-472-07644-4. $ 85,00. press.umich.edu
Martin Bruny am Donnerstag, den
23. November 2023 um 13:25 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2023
Mit einer ersten Staffel von drei Büchern startet der Londoner Buchverlag Methuen Drama (als Teil des Mutterkonzerns Bloomsbury Publishing) eine neue, für Studenten konzipierte Schriftenreihe zum Thema Musical Theatre. Die Serie »Topics in Musical Theatre« bietet kompakte (um die 120 Seiten lange) Einführungen zu wichtigen Theorien, Konzepten, Formen und Elementen des Musiktheaters.
Drei Werke liegen vor: »Queer Approaches in Musical Theatre« (Ryan Donovan), »Race in American Musical Theater« (Josephine Lee) und »Hip-Hop in Musical Theater« (Nicole Hodges Persley). Zwei weitere Bände folgen im November: »Social Media in Musical Theatre« (Trevor Boffone) und »African American Perpectives in Musical Theatre« (Eric M. Glover).
Ryan Donovan, Autor von »Queer Approaches in Musical Theatre«, ist seit 2022 Assistenzprofessor für Theaterwissenschaften an der Duke University, einer Privatuniversität in Durham, North Carolina, USA. Dem Musicalgenre ist er seit seiner Jugend verbunden, ursprünglich als Performer. Als Tänzer stand er in lokalen Musical-Produktionen (»Annie Get Your Gun«, »Can-Can«, »Brigadoon« …) und 2007 als Swing bei der 50th Anniversary US-Tour von »West Side Story« auf der Bühne. Im Jahr 2011, damals war er 30, beendete er seine Bühnenkarriere und entschied sich für eine akademische Laufbahn. 2019 führte bei Jeff Hillers (»Bloody Bloody Andrew Jackson«) Soloshow »Grief Bacon« (eine wortwörtliche Übersetzung des deutschen Begriffs »Kummerspeck«; ein Wort, das es so im Englischen nicht gibt; üblich wäre »comfort food«) (Joe’s Pub, New York) Regie und war Dramaturg der Produktion. Im gleichen Jahr dissertierte er an der City University of New York mit der Arbeit »Broadway Bodies: Casting, Stigma, and Difference in Broadway Musicals Since ›A Chorus Line‹ (1975)«. Daraus entwickelte er sein 2023 erschienenes Sachbuch »Broadway Bodies: A Critical History of Conformity«. Donovan ist Mitherausgeber des »Routledge Companion to Musical Theatre« (2022) und Verfasser zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften.
Der Autor hat sich in seinen bisherigen Arbeiten als Meister darin gezeigt, die Kluft zwischen Anspruch und Umsetzung im Musicalgenre auf fesselnde Art und Weise darzustellen. So startet er in seine Dissertation mit der Sequenz: »›You’re not fat enough to be our fat girl.‹ ›Dance like a man.‹ ›Deaf people in a musical!‹ These three statements expose how the casting process for Broadway musicals depends upon making aesthetic disqualifications. In this dissertation, I study how embodied identities facing social stigmatization are represented on Broadway and contextualize the representation of these identities relative to the social movements from which they emerged. My research considers the politics of representation and makes clear that casting is always a political act, situated within a power structure favoring certain bodies. Previous scholarship on casting largely centers on race and ethnicity as the central issues; my research reframes the study of casting to focus on bodies, inclusive of race and ethnicity but especially relative to ability, gender, sexuality, and size. My research addresses the inclusion of ›other‹ kinds of embodied difference: Deaf and disabled bodies, fat female bodies, and gay male bodies.«
Dem Thema »Fat Stigma« beim Castingprozess widmete er sich 2019 in einem Beitrag im »Journal of American Drama and Theatre« (31/3) und arbeitete spannende Details heraus:»›Dreamgirls‹ and ›Hairspray‹ are the only hit Broadway musicals of the past fifty years where fatness is sometimes a prerequisite for playing the female lead. ›Hairspray‹ (2002) was the first Broadway musical to star a fat woman since Jennifer Holliday starred as Effie White in ›Dreamgirls‹ (1981). Bonnie Milligan’s casting as Princess Pamela in ›Head Over Heels‹ (2018) is arguably the first Broadway musical to star a fat woman in a role where the character’s size is not mentioned in the libretto, and the role could have gone to a traditional ingenue-type instead.«
Aber kann Hairspray wirklich als Musterbeispiel für »fat-positivity« gelten? Ein Faktor (von mehreren), der dagegen spricht, ist die Verwendung von »Fat suits«. Donovan: »The use of fat suits emblematizes this ambivalence because fat suits exacerbate the bind of inhabiting a fat body: being perceived as excess and lack, simultaneously too much and not enough. Yet using fat suits is more complicated than simply exercising artistic license. The fat suit itself reinforces stigma because it can be put on and taken off at will, an act unavailable to the fat person perceived as morally suspect for their inability to take off the weight. At the same time, it is the literal embodiment of the myth that inside every fat person is a thin person who is somehow more ›real‹.«
Mit dem Sichtbarmachen von Spannung zwischen einem theoretischen Konzept und der konkreten Umsetzung erzielt Donovan auch in »Queer Approaches in Musical Theatre« Wirkung. Drei Werke hat er sich als Fallstudien ausgesucht, »Fun Home«, »Cabaret» und »La Cage aux Folles«, zusätzlich hat er eine historische Fallstudie erarbeitet: Welche Auswirkungen hatte die Aids-Krise auf das Musiktheater und wie wird Aids in Musicals verarbeitet?
Vorab aber schreibt der Autor: »The fact that one short book can no longer address or contain all of the queer approaches in and to musical theatre is commendable for a form that historically closeted queer sexualities and genders. The fact that there are now more shows than can fit here is a profound measure of change.« Ein gar langer Weg wurde da zurückgelegt, denkt man etwa an Ethel Waters, eine bisexuelle Schwarze Schauspielerin und Sängerin, die in den 1940er-Jahren einer der höchstbezahlten Broadwaystars war, jedoch in einer Scheinehe leben musste. Und der Weg war für queere Performer, die nicht weiß waren, noch länger. Es dauerte bis in die 2000er-Jahre, ehe sie sich auf der Bühne akzeptiert sahen. Akzeptiert? »Roles for queer performers who aren’t white are still relatively scarce; for every Celie in ›The Color Purple‹ (2005) or Usher in ›A Strange Loop‹ (2022) – two of a handful of leading roles both Black and queer – there are dozens of roles for white gay men. This gap reflects the intersection of homophobia, transphobia, misogyny, and racism that exists within professional theatre and society at large. Queerness in musical theatre have not always been so inclusive.«
In Bezug auf »La Cage« bespricht Donovan unter anderem, inwieweit die zur Zeit der Entstehung des Musicals herrschende Aids-Krise ein Faktor im schöpferischen Prozess und in der Rezeption war. »He [Harvey Fierstein] also noted how Aids stigma functioned within the original company of ›La Cage‹, recounting that star Gene Barry ‚wouldn’t get on an elevator with the chorus boys in ›La Cage‹.‹ If the star of ›La Cage‹ had such an attitude toward his fellow cast members, it is surprising that the majority of the mostly heterosexual mainstream media offered the show itself a much more accepting reception than Barry did to his cast-mates.«
Eher wenig wohlwollend war die Reaktion des britischen Publikums: »London’s West End was a particularly inhospitable environment for ›La Cage‹« due to Aids-panic and homophobia when it opened there in 1986. It was one of few places where the musical flopped (Australia was another) and ›Variety‹ went so far as to suggest that there was ›some speculation that the Aids scare may have been a factor‹ in slow ticket sales. Producer Brown agrees that the timing was unfortunate: ›I do suspect that [Aids] had something to do with a shortened run when we got to London, because Aids had just gotten there, and it was on everybody’s minds and everybody’s lips, and I think a story about two men was not as well received as it might have been ar another time.‹ The failure may have also had to do with the fact that the London Palladium was far too vast for the production with more than 600 seats than the show’s Broadway home. The possibility also exists that British audiences simply found the show old hat given the long tradition of camp and drag in musical hall and panto shows.«
Anhand einer Analyse von zeitgenössischen Kritiken zu »La Cage« skizziert Donovon, wie sich die Einstellung der Presse im Lauf der Jahre und von Revival zu Revival geändert hat. So schrieb der Theaterkritiker Michael Coveney anlässlich eines britischen »La Cage«-Revivals von 2008, die Produktion von 1986 sei deswegen wenig erfolgreich gewesen, »because perhaps we were all Aids-ed out by then«. Donovan: »Even though Aids does not exist in the world of ›La Cage‹, it exists in the world where ›La Cage‹ plays and this dissonance has, perhaps, overdetermined its reception. And yet ›La Cage‹ still cannot be divorced from HIV/Aids, ever-present in its absence from the musical.«
Es ist ein kompaktes Werk, das Donovan, einer der derzeit spannendsten Sachbuchautoren im Musicalgenre, vorgelegt hat, und ein sehr empfehlenswertes, unter anderem auch wegen seiner Ausführungen, was der Begriff »queer« genau bedeutet, welche frühen Beispiele für Queerness es im Musiktheater gibt und wie die Presse und die akademische Welt mit dem Thema umgehen. Eine Fülle an Details, ein faszinierendes Netzwerk über alle Subgenres im Musicalbereich hinweg und jede Menge an Tipps zur weiterführenden Lektüre gibt es zu entdecken.
Ryan Donovan: Queer Approaches in Musical Theatre. Methuen Drama, London 2023. ISBN 978-1-35-024762-8. £10,99. bloomsbury.com
Martin Bruny am Donnerstag, den
12. Oktober 2023 um 06:36 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2023
»Unzensiert«, ihre erste Autobiografie, hat Ute Lemper 1993 geschrieben. Damals war die Künstlerin 30 Jahre alt. Drei Jahrzehnte später erzählt die heute 60-Jährige in ihrem Buch »Die Zeitreisende«, was seither passiert ist, startet aber wieder: am Beginn. Und so finden sich auf den ersten 160 Seiten des 2023 erschienenen Werks rund 90 Seiten von »Unzensiert« abgedruckt. Somit liegt dieses Mal erneut eine »vollständige« (1963 bis 2023) Autobiografie vor, was aus Marketinggründen nicht unklug ist. Lemper nutzt diese Zeitreise in die Zeilen des 1994 erschienenen Buches aber auch, um eine Metaebene hinzuzufügen und ihre Erinnerungen an die Erinnerungen aus aktueller Sicht zu kommentieren (und zu ergänzen). Da kommt ab und an ein wenig Ironie ins Spiel. So darf beim nochmaligen Eintauchen in die frühen Anfangsjahre natürlich nicht das einjährige »Cats«-Engagement 1983 in Wien fehlen, die Schilderung der Qualen der Proben sowie des darauffolgenden Spielalltags: »Als dann das Stück lief, trat ich ständig mit geschwollenen Handgelenken, Knien und Füßen, chronischer Bronchitis und einer Knochenhautentzündung unter den Fußballen auf. Mein Rücken war steif, die Stimmbänder gerötet, beim Aufwachen am Morgen fühlte ich mich wie eine 60-Jährige. Und so sah ich auch aus.« Lemper 2023 dazu ganz knapp: »Na hallo, so schlecht fühle ich mich aber heute nicht!!« – Nur richtig zitiert, wenn man nicht auf die beiden Ausrufezeichen vergisst. Zwei Ausrufezeichen sind indes immer um mindestens eines zu viel. So meinte F. Scott Fitzgerald einmal: »Cut out all these exclamation points. An exclamation point is like laughing at your own joke.«
Aber andererseits haben wir es bei der Zeitreisenden immerhin mit einer Künstlerin zu tun, die ohne Ghostwriter auskommt. Dass sie ihr erstes Buch selbst geschrieben hat, muss man ihr glauben, denn 2023 hält sie dazu fest: »Der Verlag bittet um eine Autobiografie, wie es vor 30 Jahren geschah. Ich zögere demütig, doch der Zauber des Wortes klingt verlockend. […] 1994 ist schon einmal eine Biografie von mir erschienen. […] Diese Biografie hatte den selbst gewählten Titel ›Unzensiert‹, da sie komplett selbst geschrieben war damals, 1993 in Berlin. Ich lebte noch in meiner Wohnung in Charlottenburg, die ich für die Zeit des ›Blauen Engel‹ angemietet hatte. Mittlerweile war mein damaliger Freund David Tabatsky eingezogen. Ich war im fünften Monat schwanger mit unserem ersten Kind, das dann Max heißen sollte. […] Obwohl der Henschel Verlag mir einen Ghostwriter vorgeschlagen hatte, stand meine Entscheidung fest. Ich wollte mich selbst an die alte Schreibmaschine setzen und tippen. Genug Tipp-Ex hatte ich schon eingekauft! Somit wurde diese Biografie […] ein wildes Gewölbe an Erinnerungen und Poesie. Der Henschel Verlag gab mir grünes Licht für alle bizarren Wortspiele und verrückten, unorthodoxen Satzketten, die niemals vorher erfunden waren. Jedoch sammelte ich präzise Erinnerungen meines Lebens und seiner Verflechtungen mit geschichtlichen Begebenheiten der damaligen Welt im Umbruch zwischen 1985 und 1994.« Ob Ghostwriting beim aktuellen Buch stattgefunden hat, wird nicht thematisiert. Im Impressum finden sich Angaben zu Projektleitung, redaktioneller Mitarbeit, Lektorat und Korrektorat, zumindest eine der Beteiligten arbeitet für eine Firma, die auch Ghostwriting anbietet. Ist die Zeitreise auch »unzensiert« entstanden?
Dass man bei der neuen Autobiografie bisweilen das Gefühl hat, von einem Erzählrausch umfangen zu werden, in dem man ab und an fast die Orientierung verliert, weil Voraussetzungen nicht so deutlich erzählt werden, wie es nötig wäre, weil es Dubletten gibt, unpräzise Formulierungen, die stutzig machen – ist all das eher ein Feature, kein Bug, weil Lemper das so formuliert hat? Man hätte es fixen können. Aber man muss abwägen bei jedem Eingriff: Wie viel an originalem Wortlaut opfere ich, um den Nebel zu klären? Und ist Nebel nicht auch etwas Schönes? Am Ende ist das Lektorat dafür verantwortlich, was im Buch steht. Eiserne Regel.
Die Zeitreise Ute Lempers lässt sich auf vielerlei Arten lesen. Manche Magazine haben sich die Liebe, die Beziehungen Lempers herausgepickt, wohl angefixt von der Passage: »Ich hatte viele Liebhaber gehabt, eigentlich in jeder Arbeitssituation, in jeder Bühnenproduktion, bei jeglichen Dreharbeiten zu einem Film. Warum auch nicht? Wenn ich jemanden attraktiv fand, wollte ich ihn ganz und gar erleben.“
Man kann ihr Buch aber auch als Beschreibung all der Krater lesen, die das Fortschreiten des Alters an und in uns zurücklässt. Erläuterungen ihrer Blessuren, ihrer Leiden füllen viele Seiten des Buchs. Seelische Leiden, körperliche Leiden. »Meine fünf Bandscheibenvorfälle zwischen Lenden- und Halswirbeln drücken auf die Nervenwurzeln und ich möchte an die Decke springen aufgrund der stechenden Schmerzen, die mir durch das rechte Bein in den Fuß fahren. Diese Verletzungen sind akkumulativ, aber die meisten darf ich dem Musical ›Chicago‹ in die Schuhe schieben. Hier wollte die Choreografin im Bob-Fosse-Stil viele Whiplash-Bewegungen. Ich warf 25 Mal während der Show meinen Kopf in den Nacken, als ob es kein Morgen gäbe. Wo war meine Vorsicht oder mein Selbstschutz?«
Seelisches Leid fügten Lemper Kritiker zu, die ihre Performance in der Berliner Produktion des »Blauen Engel« (1992) verrissen. »Manchmal schauten mich Kollegen seltsam an und wunderten sich, wie ich diese Demütigung ausgehalten hatte. Man gönnte mir nicht meinen Lebensmut.« Wie verhielten sich ihre Eltern in dieser belastenden Situation, konnten sie ihre Tochter trösten? »Meine Mutter verneinte gelegentlich die Verwandtschaft mit mir. Als sie an der Sparkasse von Münster auf ihren Nachnamen angesprochen wurde, sprach sie schnell abweisend ›Nein, nein, die Ute kenne ich nicht, sie ist nicht verwandt mit unserer Familie‹, während sie die wöchentlichen hundert Mark abholte. Wie sollten sie mit diesem Stigma umgehen, gestand sie mir. Ich schaute sie mit großen Augen traurig berührt an und murmelte fragend … warum?«
Spannend sind Einblicke in den »geschäftlichen Alltag« einer Künstlerin. »Zu Beginn der Zusammenarbeit mit meinem damaligen Management war eine Abmachung getroffen, und zwar fifty : fifty, eine glatte Teilung des Einkommens nach allen Produktionsausgaben. Üblich in der Branche sind 25 % für das Management, 75 % für den Künstler. Doch ich akzeptierte dankbar die Hilfe und war erleichtert für die Unterstützung.«
An einigen Stellen wird die Zeitreise zum Netflix-Thriller, etwa wenn Lemper erstmals schildert, was bei ihrem viel beachteten Auftritt im Sommer 1990 bei dem von Roger Waters veranstalteten »The Wall«-Konzert am Berliner Potsdamer Platz tatsächlich passiert ist. »1990 hörte ich die vielen missgünstigen Kommentare aus meinem Heimatland über die Tatsache, dass ich bei dem […] Konzert die einzige engagierte Deutsche war. Neidische, höhnische Kommentare, die ich beschämt versuchte zu ignorieren. […] Ich sang mein tolles Lied ›Mama loves her Baby‹ im Duett mit Roger Waters, und dann plötzlich, mit einem Schlag, war alles still und duster, Licht und Ton versagten und ein massiver Stromausfall unterbrach den Fluss der Show. […] Ich wunderte mich still in meiner Angst vor Deutschland, ob es sich hier um Sabotage handelte.« Dann, bei ihrem zweiten Song: »Ich stand frei und ungeschützt auf der Plattform, als mir wie aus dem Nichts plötzlich ein dickes Seil mit Knoten in den Körper schlug. Es kam von einem hohen Kran neben mir und jemand musste es mit voller Kraft in meine Richtung gezielt auf mich geschwungen haben. Es traf meinen Oberkörper und donnerte mich in Richtung einer Stahlsäule. […] Wer hatte dieses Seil in meine Richtung katapultiert? [… Alles schien] in eine Richtung zu deuten, die etwas mit mir und meinem Heimatland zu tun hatte. Antworten sollte ich nie bekommen.« Die durch den Stromausfall verlorenen Minuten wurden neu gefilmt. »Keiner kennt den Verlauf meiner Geschichte an diesem Abend.«
Ute Lemper hält es bei ihrer Zeitreise in etwa wie Christoph Waltz, der von US-Komiker Zach Galifianakis für die Talkshow »Between Two Ferns« einmal gefragt wurde: »Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor?« und – etwas verkürzt – so geantwortet hat: »Das geht Sie gar nichts an. Diese Geschichten von Schauspielern und ihrer Vorbereitung – total überbewertet. Zauberer würden es auch nicht wagen, Ihnen zu erzählen, wie ihre Tricks funktionieren.« Ein bisschen Zauber steckt dahinter, was und wie Lemper hier von und über ihr Leben erzählt. Bühnennebel gehört zum Business. Verklärung ist Teil der Magie. Ganz große Kunst ist beispielweise die Schilderung eines Telefonats 1987 mit der 87-jährigen Marlene Dietrich oder die ebenfalls ausführlich geschilderte aufreibende Arbeit in Produktionen von »Chicago«. Ute Lempers Leben – ein lesenswerter Roman sozusagen.
Ute Lemper: Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen. Gräfe und Unzer Verlag, München 2023. ISBN 978-3-8338-8917-2. EUR 26,–. www.gu.de
Martin Bruny am Donnerstag, den
13. April 2023 um 07:52 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2023
Hat man sich mal darauf geeinigt, was ein Musical ist, geht es auf dem Gebiet der Bestimmungen spannend weiter. Wie definiert man etwa, welches »Ursprungsland« ein Musical hat? Und warum ist das zunehmend diffizil? Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich Millie Taylor und Adam Rush in vorliegendem Buch. Ausgangspunkt ist folgende Überlegung: Wir leben im Zeitalter der sozialen Medien, des globalen Fernsehens und der Online-Kommunikation, dennoch bleibt das Musiktheater eine Kunstform, die bis heute vor allem mit zwei physischen Orten verbunden wird: dem West End und dem Broadway. Auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, an die 5000 Kilometer voneinander entfernt, gelten diese beiden Epizentren in London und New York als die »Heimat« des Musicals. Und das, obwohl das Musicalgenre aus einer Verbindung von europäischen und amerikanischen Einflüssen entstanden ist, geprägt von Immigration und Kolonisation, und heute längt als globalisiertes Produkt in den unterschiedlichsten Ländern wie China, Südkorea, Australien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich etc. eine wesentliche Rolle spielt. (Europäische Leser müssen mitbedenken, dass das Buch aus dem Blickwinkel der USA/England geschrieben ist.)
Zwei interessante Beispiele stellen die Autor:innen an den Anfang ihrer Überlegungen. Ist »The Bodyguard« (2012) als englisches oder amerikanisches Musical zu bezeichnen? Es basiert auf einem US-amerikanischen Film aus dem Jahr 1992, auf Musik der US-Sängerin Whitney Houston, wurde von einem Amerikaner verfasst, und Broadway-Star Heather Headley spielte die Uraufführung – am West End, wo die Show von einem britischen Team (Regie, Produzenten) entwickelt wurde. Am Broadway selbst war die Show nie zu sehen.
Ein anderes Beispiel: »The Lion King«. Die Bühnenversion basiert auf einem Film des US-Unternehmens Disney. Die Handlung spielt in Afrika. Die Darsteller sind großteils afroamerikanisch, im Produktionsteam der Show sind Deutsche ebenso wie Jamaikaner. Stilistisch reichen die Einflüsse von Japan bis Indonesien, das Musical ist weltweit zu sehen. Die meisten Theaterwissenschafter sehen es trotz aller Einflüsse als US-Musical, während »The Bodyguard« als britisches Musical eingestuft wird, obwohl es um US-amerikanische Inhalte geht.
Wenn also die Zuordnung zu einem »physischen« Ursprungsland schon so schwammig geworden ist, warum nicht die Geschichtsschreibung des Musicalgenres gleich anders angehen. Genau darum geht es »Musical Theatre Histories«. Ein Musterbeispiel: »Oklahoma!« gilt, weltweit anerkannt, als das erste »Book Musical«. Die Autor:innen stellen die Frage: »However, what if we consider the history of musical theatre not from the perspective of form or integration, but in relation to the representation of gender or the global distribution of stage productions? What is Oklahoma!’s significance then?«
Acht Möglichkeiten der Geschichtsschreibung werden behandelt. So lautet ein Kapiteltitel: »Journey to the past: From revival to revisal«. Anhand von »Hello, Dolly!« (1964) etwa lässt sich eine ganz spezielle Form des Revivals gut skizzieren: 1975 kam von »Hello, Dolly!« am Broadway eine Replika-Produktion auf die Bühne – die Darsteller waren neu, aber Look & Feel der Aufführung blieben unverändert. 2017 wurde »Hello, Dolly!« erneut originalgetreu am Broadway produziert, diesmal mit Bette Midler in der Titelrolle, aber dem Originaldesign, der ursprünglichen Orchestrierung bis hin zum Poster-Design und dem Artwork der Cast-CD im Stil der Erstproduktion. Die Autor:innen finden in diesem Kapitel interessante Wege, die verschiedenen Methoden des Revivals durchzudeklinieren, bis hin zu den neueren Trends Revision und Reinvention, beginnend mit dem Beispiel »Me And My Girl« (1937), das 1985 von Stephen Fry und Mike Ockrent für eine neue Generation umgeschrieben wurde und in dieser Fassung mehr als acht Jahre am West End und drei Jahre am Broadway zu sehen war. »Musicals come and go; they are rarely filmed or published as scripts or scores in full (particularly in Britain), though segments or selections do tend to be available, and past musicals tend only to be accessible through a series of paratexts (a cast recording, a film version, a streamed performance etc.). Musical theatre past thus can only become musical theatre present through revivals. Some producers look for sure-fire hits and audience pleasers in troubled times, while others capitalize on nostalgic memories and associations. Some directors seek to honour past productions, and others critique contemporary politics. Altogether, the expanding archive of revivals and revisals is extremely diverse.«
Im Kapitel »Waving through a window. From intertext to Instagram« beschreiben Millie Taylor und Adam Rush ausgehend von Roland Barthes und dem Begriff der Intertextualität ein neues Verständnis davon, wo ein Stück stattfindet. Als Beispiel verwenden sie unter anderem »Urinetown«: »Officer Lockstock welcomes the audience to Urinetown: The Musical (2001) by saying: Well, hello there. And welcome – to Urinetown! Not the place, of course. The musical. Urinetown the place, is … well, it’s a place you’ll hear people referring to a lot throughout the show. Elsewhere, the Narrator in Into the Woods (1987) welcomes the audience with Once upon a time … in a far-off kingdom … lived a young maiden … a sad young lad … and a childless baker … with his wife. In Cabaret (1966), the Emcee welcomes the audience to the Kit Kat Klub with the words Willkommen, Bienvenue, Welcome. In all of these, and many other, musicals, clues are given to the audience at the start of the show that the musical is neither realistic nor integrated and that a narrator figure sits outside (or sometimes both outside and inside) the world of the show. These characters speak directly to the audience about musicals and performances (known as reflexivity); they reference well-known stories and use language that is familiar from other texts. Not only is such language familiar from literature, but also from other musicals, television shows, films and elsewhere.« Oder wie Barthes es in »Der Tod des Autors« formuliert hat: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen.« Entwickelt man diese Gedanken weiter, ist der Weg, den das Musicalgenre derzeit nimmt, ein logischer. »Consequently, rather than thinking of a musical theatre work simply in relation to the written source material or even a production of that work in one or several physical locations, we start to understand that a musical expands to include its ephemera, its offshoots, the social media, digital discussions and performances as well as cast albums, programmes and performer blogs. Rather than a text being interpreted just by directors and producers, audiences or readers can take ownership of their experience. A musical becomes not just an expensive performance in a fixed form but exists as a catalyst for a network of new and diverse, globally available, digital texts way beyond our original transatlantic axis.« »Dear Evan Hansen«, auf das sich der Kapiteltitel bezieht, steht für eine besonders spannende Entwicklung: »Here, we arrive at the audience or reader having transformed themselves into creators of content that references the musical source text that may already be an adaptation.« Fans sehen Shows online, die sie live nie sehen werden, sie erstellen online Compilation-Videos, remixen diverse Auftritte. Mit Bootlegs erreichen sie in Fan Communities einen gewissen Status. Auf der anderen Seite interagieren Darsteller zunehmend über Social Media mit ihren Fans. Beispiele dafür bieten die Autor:innen en masse. »Les Misà©rables (1985) was adapted from Victor Hugo’s 1862 novel, for example, but it now exists in a web of different productions and paratexts, which includes various cast recordings, film versions, song covers, social media accounts, merchandise and more. In this way, musicals take on a new life that transcends nationalities, languages, cultures and, as we have seen, media, in a web that is more commonly known as popular culture, and which is (arguably) increasingly democratized. Interpretation and, more recently, creation of content have become the domain not only of writers and producers but of audiences and fans. The expansion of social media, interactivity and the digital domain into musical theatre is likely to continue with the potential to generate further evolutions in the form.« Leseempfehlung (unter anderem auch wegen der vielen weiterführenden Buchtipps).
Millie Taylor, Adam Rush: Musical Theatre Histories. Expanding the Narrative. Methuen Drama. Bloomsbury Publishing, London 2023. ISBN 978-1-3502-9376-2. $ 119,99. bloomsbury.com
Martin Bruny am Donnerstag, den
15. Dezember 2022 um 12:47 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2022
»Breaking Free« hat Kevin Clarke seinen im Oktober erschienenen Sammelband über »Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals« genannt. »Breaking Free« ist der Titel eines Songs aus Disneys TV-Film »High School Musical« (2006) und soll, so schreibt der Autor, das »Aufbrechen von Beschränkungen und das selbstbewusste Sich-neu-Finden perfekt« ausdrücken. »Zudem hat High School Musical auch die aktuelle Ära des Musicals in Film und Fernsehen eingeläutet. Mit HSM wurde eine neue Generation von Fans fürs Genre begeistert, nicht nur wegen der Frisur von Zac Efron.«
Im selben Band analysiert Ralf Rühmeier unter dem Titel »This is me. Disney und Diversity« die »Queer-Codierung« des Unterhaltungskonzerns Disney, unter anderem am Beispiel des 2022 veröffentlichten Disney+-Films »Better Nate Than Ever«: »Nate ist offensichtlich schwul. Allerdings fällt in den 94 Filmminuten das Wort gay kein einziges Mal. Dafür gibt es blumige Umschreibungen. […] Wenn sich Nate vor seiner Tante outet, klingt das folgendermaßen: Ich bin der einzige Junge, der den ganzen Text von Corner of the Sky kennt. Das ist nicht schön. Natürlich reagiert die Tante verständnisvoll. Ich verspreche dir, dass du nicht der Einzige bist, der alle Songtexte aus Pippin kennt. Nur ist nicht jeder so mutig, sich allen mitzuteilen.« Laut Rühmeier hat Disney damit in diesem Film das 2022 in Florida von religiös-konservativen Fundamentalisten durchgesetzte (und seit dem 1. Juli 2022 gültige) »Don’t say gay«-Gesetz zu 100 Prozent umgesetzt. In dem Gesetz geht es um eine Reform des Bildungswesens: In Klassenräumen und Kindergärten wird jegliche Diskussion über sexuelle Orientierung und Genderidentität, die nicht der Heteronorm entspricht, bis zur dritten Klasse untersagt. Rühmeier weiter: »Was bedeutet das für die Bühne? Wird die Disney Theatrical Group jemals eine queere Figur in einer ihrer Shows zeigen?«
Das Stichwort Bühne ist wichtig, denn Clarke skizziert, ohne das zu wollen, im Vorwort seines Buchs eigentlich eine recht düstere Zeit für das Musicalgenre an sich – und damit meine ich Musical, das sich dort abspielt, wo es als Liveerlebnis stattfindet: auf der Bühne –, wenn er schreibt: »Diese jugendlichen Fans, die mit Social Media und Internetaktivismus aufgewachsen sind, gehen ganz anders mit Musicals um als die Generationen davor. Sie stellen andere Ansprüche und artikulieren diese anders. Und sie werden von Musicalmacher*innen anders bedient. Musicals sind heute global verfügbar – als Musik bei Spotify und iTunes, gefilmt und über YouTube geteilt, über Streamingdienste, in Diskussionsforen, als Hashtag.« In einem Interview mit dem WDR meinte der Autor unlängst, es sei toll, zu sehen, dass nach den Corona-Lockdowns so viel via Streaming den Weg nach Deutschland gefunden habe, »in Umgehung der Bühnen der Stadt- und Staatstheater und von Stage Entertainment«, die sich an LGBTQ-Themen nicht wagen, weil sie, so Clarke, nicht dürfen oder wollen, keine Schauspieler finden oder nicht glauben, dass sie damit über längere Zeit die Hallen füllen können. – Das scheint mir eine eher dystopische Zukunftsprognose für das Musicalgenre zu sein. Sollten wir nicht eher aufhören, Bühnenerlebnisse mit Filmen und Serien gleichzusetzen?
Clarke verwendet im Buch und in Interviews die Metapher vom Tsunami. So schreibt er, es sei in der angloamerikanischen Musikszene ein »Tsunami von LGBTQ-Stücken ins Rollen gekommen«. Doch ist ein Tsunami nicht stets mit Vernichtung verbunden? Auch in manchen Beiträgen des Autors und Herausgebers ist mitunter diese Tendenz zur Übertreibung auszumachen. Ein Beispiel: Die Musikwissenschafterin Elizabeth Wollman unterrichtet am Baruch College und der City University of New York. Sie ist spezialisiert auf die Geschichte des US-amerikanischen Bühnenmusicals. In ihrem Artikel für »Breaking Free« beschreibt sie die Entwicklung der US-amerikanischen Musicalforschung. Etablieren konnte sich diese ab den mittleren bis späten 1990er-Jahren, davor gab es »wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Musical«, erst am Übergang zum 21. Jahrhundert begann (auch im Zusammenhang mit dem Thema LGBTQ) »eine rundum neue Form der Musicalforschung zu boomen«, und zwar insofern, als dass nun auch Wissenschafter sich mit dem Thema beschäftigten, während es davor eher Journalisten, Komponisten, Publizisten etc. waren. Wollman argumentiert klar und datenbasiert. Subsumierend könnte man sagen, dass aufgrund der enormen Produktivität auf US-amerikanischen Bühnen und einer allgemeinen gesellschaftlichen – inklusiven – Weiterentwicklung die US-Theaterforschung im Bereich Musical nachgezogen hat. Kevin Clarke fügt diesem gelungenen Beitrag ein Postskriptum hinzu. Leider sind seine Ausführungen teils faktenbefreit. Zitat Clarke: »In einer Buchrezension vom Sommer 2021 schreibt Martin Bruny in musicals […], dass die Geschichte der Kunstform Musical (und Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist. Er nimmt Österreich als Beispiel: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. […] Die Gründe? Der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden dadurch immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Für Deutschland nennt Bruny Wolfgang Jansen als eine Erzählerpersönlichkeit und dessen Cats & Co. von 2008 als wegweisend. Von allen anderen Büchern, die es weltweit zu Musicals und einem Reframing des Musicals gibt, nehmen weder Bruny noch musicals Kenntnis.« Diese Interpretation meiner Zeilen ist in mehrfacher Hinsicht falsch. In meiner Buchkritik ging es in der zitierten Passage eben nur um Österreich und im Vergleich dazu Deutschland. Seit mehr als 15 Jahren widme ich mich im Magazin »musicals« interessanten Buchneuerscheinungen aus der ganzen Welt, nicht zuletzt auch unter dem LGBTQ-Aspekt. Aber nicht nur das, in »musicals« gab es in den letzten Ausgaben einen Schwerpunkt zum Thema »HIV und Musicals« (Nr. 203, S. 20–23) von Thomas Thalhammer, ein Plädoyer für mehr Frauen im Musical (Nr. 209, S. 70–83) von Lisanne Wiegand, Produktionen werden stets auch unter einem queeren Blickwinkel analysiert, so sich das anbietet. Die »Unlust am Diskutieren«, die der Autor in Bezug auf das Thema LGBTQ verspürt, wird er nicht in etwas Lustvolles umwandeln können, wenn er mit Unterstellungen operiert.
Der deutsche Musikkritiker Manuel Brug und der australische Opern- und Theaterregisseur Barrie Kosky werfen in »Breaking Free« in ihren Beiträgen unter anderem äußerst spannende und nicht zuletzt ernüchternde Blicke auf die Wiener Musicalszene. Sie könnten damit einen Anfangspunkt gesetzt haben zu einer kritischen Aufarbeitung der Wiener Musicalgeschichte ab 1980. Bisweilen freilich könnte man die von Manuel Brug etwas gar düstere Einschätzung vielleicht etwas aufhellen, wenn man sich mal von der »Tsunami«-Metapher Clarkes verabschiedet und die gesellschaftliche Transformation, die der Entwicklung des Musicals zugrunde liegt, eher als Evolution auffasst. Nehmen wir als Beispiel das Jukebox-Musical »Ich war noch niemals in New York«. In Bezug auf das Thema LGBTQ notiert Brug über die Hamburger Uraufführung dazu: »Selbst für das 2007 komplett neuerfundene Ich war noch niemals in New York […] mussten mit dem schwulen Maskenbildner Fred und dessen Freund Costa Antonidis zwei sehr flachgezeichnete Tunten her […]. Immerhin bekamen die beiden Figuren mit dem Ehrenwerten Haus und Griechischer Wein zwei der vom Publikum begeistert mitgesungenen Hits.« Beim Lesen dieser Zeilen dachte ich mir: Was würde Andreas Bieber wohl zu dieser Einschätzung sagen? Er hat die Rolle des Fred nur wenige Jahre nach der Uraufführung in Wien gespielt. Im vorliegenden Buch kommt er nicht zu Wort. Ich bat ihn um ein Statement, und er ließ mir seine Sichtweise zukommen: »Was IWNNINY anbetrifft, so habe ich das seinerzeit in Hamburg als Zuschauer auch etwas klischeehaft gesehen, was besonders die Figur des Fred angeht. Für die Neuinszenierung 2010 in Wien war das tatsächlich zunächst ein Grund für mich, NICHT zur Audition zu gehen. Als man mich dann doch fragte, ob ich Zeit und Interesse an der Rolle hätte, war es meine klar ausgedrückte Bedingung, meinen Fred ganz natürlich und in erster Linie als lebensfrohen Optimisten darzustellen, der zufällig halt schwul ist. Das hat letztlich dazu geführt, dass der KUSS zwischen Costa und Fred, der in Hamburg noch im Abgang verschwand, bei uns ganz normaler Bestandteil der Geschichte war, der natürlich und offen gezeigt werden durfte. Wo man vorher vielleicht noch dachte, das Publikum damit zu überfordern, gab es hierfür in Wien sogar Szenenapplaus … Wir sind da inzwischen schon sehr viel weiter gekommen, was das Thema LGBTQ in Musicals anbetrifft!«
Manuel Brug spricht auch das VBW-Musical »Elisabeth« an und meint dazu unter anderem: »Eine Diskussion zu queeren Perspektiven auf Elisabeth gab’s übrigens nie, weder in Feuilletons, Fachzeitschriften noch Fan-Foren«. Andreas Bieber dazu: »Wir reden natürlich über 1992! Eine Zeit, wo über queere Perspektiven noch nicht so frei und selbstverständlich berichtet oder auch diskutiert wurde. Der androgyne, zumindest bisexuelle TOD deutete all das natürlich an, schon durch seine Optik (Uwe Kröger), aber es blieb in erster Linie etwas GEHEIMNISvolles, das man damals vielleicht noch nicht so genau thematisieren wollte …«
Zusammenfassend: Mit Schuldzuweisungen, die Medien, einzelne Journalisten würden sich für das Thema LGBTQ nicht interessieren, werden wir vermutlich nicht weit kommen. Medien reflektieren und analysieren, was im Bereich Theater passiert, eingebettet in gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen. LGBTQ ist ein wichtiges Thema im Theater – schön, dass der Sammelband »Breaking Free« auf 328 Seiten einer Vielzahl an diskussionswürdigen Inhalten innerhalb des LGBTQ-Spektrums Raum gibt.
Kevin Clarke (Hg.): Breaking Free. Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals. Querverlag, Berlin 2022. ISBN 978-3-89656-322-4. € 29,–. querverlag.de
Martin Bruny am Donnerstag, den
15. September 2022 um 12:49 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2022
Gleich zwei Bücher sind 2022 erschienen, die sich »Grease«, der Bühnenshow, widmen – jener Produktion, die am 7. Dezember 1979 mit der 3243. gespielten Vorstellung »Fiddler on the Roof« als »Longest-running Broadway-Show« ablöste und damit die erste »Longest-running Broadway Show« war, die keinen Tony Award gewonnen hatte. 225 Darsteller, die im Lauf der Jahre Teil der »Grease«-Familie waren, versammelten sich an jenem Abend, um das Ereignis zu feiern. Darunter John Travolta, der mit 18 als Doody bei der ersten US-Tour, danach am Broadway (und in der Verfilmung) zu sehen war, Richard Gere ebenso wie Treat Williams und Patrick Swayze. Insgesamt kam diese erste Broadway-Produktion bis zur Dernià¨re am 13. April 1980 auf 3388 Vorstellungen. Das ergibt heute in der Liste der »Longest-running Broadway Shows« noch immer den respektablen 16. Platz. Finanziell war »Grease« ein Treffer für die Investoren. Den Darstellern etwa wurde angeboten, 500 Dollar zu investieren. Denjenigen, die das Angebot annahmen, brachte das schließlich 12.000 Dollar. Bis heute erhalten die Investoren Vergütungen zweimal pro Jahr. Das Revival von 1994 erreichte 1505 Vorstellungen und liegt damit in jener Liste auf Platz 65, das Revival von 2007 brachte es auf 554 Vorstellungen. Bis heute gingen weltweit mehr als 120.000 Produktionen von »Grease« über die Bühne.
Scott Miller: Go Greased Lightning!
Scott Miller, Harvard-Absolvent (Musik und Musiktheater), hat zwölf Musicals geschrieben, zwei Sprechstücke und mehr als ein Dutzend Sachbücher zum Thema Musiktheater. 1991 gründete er in St. Louis das New Line Theatre, dessen künstlerischer Leiter er bis heute ist, und er schreibt einen Blog mit dem Titel »The Bad Boy of Musical Theatre«
Miller ist »Grease«-Fanboy und holt in seinem Buch die Show, die heute oft durch die Verfilmung gefiltert produziert und rezipiert wird, in die Gegenwart. Miller: »Many people underestimate the intelligence, authenticity of Grease and its score, they completely misunderstand what happens at the end of Grease. Admittedly, that’s partly because the movie dialed back the edgier aspects of the story, and inserted a new finale that made the ending less clear. But the film didn’t change the ending. For the record, Sandy does not become a slut to win Danny. The exact opposite is true. She rejects the cultural oppression of the 1950s and her parents, and for the first time, claims her own body, curves, and sexuality. Though it might not be obvious, Sandy is the protagonist, and the story ends not with her submission, but with her newfound freedom and self-possession, with strength. The second reason for this book is that Grease is about the Others, those that don’t conform to mainstream ideas of how we’re supposed to live, act, look. America has always been great at shitting on the Others, Native Americans, African slaves, immigrants, women and black voters, queer people. But here, early in the twenty-first century, America is changing – drastically and fast – and that change is terrifying to some people. As in our past, those who are fearful today are in search of Others to blame. As I write this in mid-2022, America has lost its collective mind, much as we did in the 1960s. And it makes Grease unusually relevant all over again.« Auf 142 Seiten bietet Miller eine Analyse, wie sich das »adult concept musical«, in dem es mehr um eine Idee denn um eine Geschichte geht, zu einer romantischen Musicalkomödie gewandelt hat, in der die Darsteller clean wie Kandidaten bei Castingshows auftreten. »That robs the show of its substantial authenticity. It turns the kids into cardboard cutouts, instead of poor, ignored, working class kids just trying to get laid. Grease is not a show about how crazy those wacky kids in the 50s were, and by the way, isn’t young love cute? No, Grease is a social document.« Sehr empfehlenswert.
Scott Miller: Go Greased Lightning! The Amazing Authenticity of »Grease«. Independently published by Scott Miller 2022 (via Amazon). ISBN: 979-8-84-708619-6. $ 19,95
Tom Moore, Adrienne Barbeau, Ken Waissman (Hgg.): Grease
Dieses Buch ist eine herausgeberische Meisterleistung. Die Idee dazu ist entstanden, als sich die Alumni der ersten US-»Grease«-Produktion (inkl. der US-Tourproduktionen bis 1980) mitten in der Pandemie via Zoom kurzschlossen und besprachen, wie man das 2022 anstehende 50-jährige Jubiläum der Broadway-Premiere feiern könnte. Angelegt ist das Werk als ein verschriftlichtes Gespräch. Beteiligt sind daran mehr als 100 Darsteller, Musiker, Mitglieder des Kreativteams, die in Statements von ihren »Grease«-Erfahrungen berichten. Sie haben den drei Herausgebern Tom Moore (Regisseur der Show), Adrienne Barbeau (Rizzo-Darstellerin) und Ken Waissman (Produzent) ihre schriftlichen Beiträge geschickt, und deren Aufgabe war es, daraus ein funktionierendes Ganzes zu formen. Es gibt viele Bücher über das Musicalgenre, über Epochen, aber nur wenige, die den Lauf einer Produktion komplett abdecken, von der Idee über Castingprozesse, die verschiedenen Versionen der Show vor der Premiere bis zur Premiere, von den CD-Aufnahmen, den Tour-Casts bis zur Dernià¨re. Genau das ist hier auf unterhaltsame, spannende Weise gelungen. Mit einer Vielzahl an Details, zum Beispiel, was die Tony Awards 1972 betrifft. Ken Waissman: »Although geographically located off-Broadway, we were in a 1.,100-seat house, paying Broadway Equity scale to the actors and Broadway scale to the musicians. Our press agent, Betty Lee Hunt, and I decided that Grease should be considered Broadway and eligible for the Tony Award. I spoke to Alexander Cohen, who produced the annual Tony Awards show on behalf of the League of New York Theaters and Producers, the American Theatre Wing, and the ABC network. I was told that in order to qualify, a show must be in a official Broadway house located within the square blocks bound by Forty-First Street and Fifty-Fifth Street, from Ninth Avenue to Sixth Avenue. We decided to file a lawsuit against the League, the Wing, and ABC.« Etwas abgekürzt: Waissman konnte sich durchsetzen, die Show bekam sieben Nominierungen, aber: »The majority of the Tony voters didn’t respond to their invitations to come downtown to see the show, so we knew we wouldnt win any Tonys. However, we were able to publicize the nominations, and Grease was mentioned six times in the national broadcast. With the Tony broadcast, Grease achieved full acceptance as an authentic Broadway musical. We had arrived. This paved the way for our transfer to a theater smack in the middle of the Broadway theater district.« In jedem Beitrag dieses Buchs spürt man den Enthusiasmus und die Leidenschaft für das Musicalgenre. Sehr empfehlenswert.
Tom Moore, Adrienne Barbeau, Ken Waissman (Hgg.): Grease. Tell me more, tell me more. Stories from the Broadway Phenomenon That Started It All. Chicago Review Press, Chicago 2022. ISBN‎ 978-1-64-160758-2. $ 30,00 chicagoreviewpress.com
Martin Bruny am Freitag, den
15. Juli 2022 um 12:52 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2022
Robert W. Schneider und Shannon Agnew (Hg.): Fifty Key Stage Musicals
In diesem Jahr feiert das unverwüstliche Musical »Grease« sein 50-jähriges Bühnenjubiläum. Die Broadway-Produktion, die vom 14. Februar 1972 bis zum 13. April 1980 in vier verschiedenen Theatern zu sehen war, ist es jedoch nicht, die es als eine von 50 Shows in das von Robert W. Schneider und Shannon Agnew herausgegebene Buch »Fifty Key Stage Musicals« geschafft hat, sondern das »Grease«-Revival, das vom 11. Mai 1994 bis 25. Januar 1998 im Eugene O’Neill Theatre gegeben wurde. Die Gründe, warum es diese Produktion sein musste, heißen unter anderem: Linda Blair, Debby Boone, Sheena Easton, Deborah Gibson, Jasmine Guy und Jody Watley. Sie alle (und einige mehr) standen in der Hitshow als Betty Rizzo auf der Bühne. Sie waren ausschlaggebend dafür, warum das Revival, das nach einer Anfangseuphorie bald schon schwächelte, Jahre am Spielplan blieb. Als Fran und Bran Weissler, die Produzenten des Revivals, feststellten, dass der Ticketvorverkauf rapide abnahm, entwickelten sie nämlich eine Methode, um neue Publikumsschichten ins Theater zu holen. Heute ist das, was damals entworfen wurde, eine gängige Masche: Stunt Casting (im Gegensatz zu Star Casting und Star Replacement Casting). Statt Triple Threats zu casten, suchte man gezielt Celebritys. Im Extremfall mussten sie nicht mal Theatererfahrung haben, sondern einfach die besondere Gabe, Leute ins Theater zu locken. »Grease« war dafür unter anderem deswegen eine ideale Show, weil es Rollen darin gibt, die nicht viel an Allroundfähigkeiten verlangen. Miss Lynch muss nicht singen können, Teen Angel hat nur einen Starauftritt … Mark Madama, der Autor des Essays über »Grease«, formuliert die Regeln des Stunt Castings wie folgt: »Rule one, look for a celebrity who is either currently trending in the news/pop culture, or visit a time machine to rediscover a star who’s still able to ignite warm nostalgic memories. Rule two, hire, sometimes without auditioning, said celebrity and plug them into the role most, or even somewhat, suited for them in your Broadway show. Rule three, devise a marketing campaign to exploit this celebrity’s current or past notoriety. Rule four, hope that your celebrity has the theatre technique to sustain their performance in a grueling eight-show-a-week Broadway schedule. Usually, Broadway contracts can be anywhere from six months to two years, but the stars cast as stunt casting can be as little as a few weeks.« Jazz-Legende Al Jarreau als Teen Angel, Chartsstürmer Jon Secada als Danny Zuko, Brooke Shields als Betty Rizo, sie alle waren Kassenmagneten. Shields brachte zusätzliche 40.000 Dollar pro Woche, Al Jarreau zusätzliche 100.000 Dollar. Zeitweise bestand das Publikum zu 25 bis 30 Prozent aus Besuchern, die noch nie vorher eine Broadway-Show besucht hatten.
Dass diese Show als eines von 50 Key Stage Musicals klassifiziert wurde, sorgt anfangs vielleicht etwas für Erstaunen, die Wahl ist jedoch dem Konzept geschuldet, das die Herausgeber ihrem Werk zugrunde gelegt haben. Sie definierten 50 Musicals, die für die Weiterentwicklung des Genres bestimmend waren, es handelt sich also nicht um eine Auswahl der »besten« Shows. 50 Autoren befassen sich in Essay-Form vor allem mit jeweils einem entscheidenden Faktor, der das von ihnen gewählte Werk essenziell werden ließ für den Erfolg zumindest eines weiteren. 1996 etwa brachten Fran und Bran Weissler ihr nächstes Projekt an den Start: das Revival von »Chicago«. Und ihr Erfolgszezept ging auch hier auf. Die Produktion ist nach wie vor zu sehen (derzeit unten anderem mit Pamela Anderson) und trägt das Label: »Longest running show to have premiered on Broadway«. Am 26. Juni 2022 ging Vorstellung Nummer 10.002 über die Bühne. Ganz offiziell liegt vor »Chicago« als »longest running show on Broadway« nur eine Produktion: »The Phantom of the Opera« (13.645 Vorstellungen).
Die Liste der prominenten Musicals, die bei einem solchen Konzept auf der Strecke blieben, ist lang. »The Music Man«, »The Book of Mormon«, sämtliche Film- und TV-Musicals, Kultmusicals wie »Bare« oder »Spiderman: Turn Off The Dark«, alles von Jason Robert Brown etc. Den Grund formulieren die Herausgeber folgendermaßen: »… we could not find a large enough impact of their works on the creation of other works no matter how much joy they gave audiences throughout their runs or how much they brought musicals into the popular discourse.«
Das Buchprojekt hat auch einen Ableger im Internet, siehe https://tinyurl.com/KeyMusicals. Alle Episoden sind gratis und frei zugänglich, man muss dafür nicht das Buch gekauft haben. Die 50 Musicals des Buches werden hier noch ausführlicher und in Gesprächen zum Beispiel mit den Komponisten oder aber mit den Autoren der jeweiligen Kapitel analysiert.
Dem Konzept des Dominoeffekts entsprechend ist das erste Musical, das besprochen wird, »The Black Crook« (1866) und das letzte »Dear Evan Hansen« (2016). Ganz abgesehen davon, ob man sich mit diesem Konzept anfreunden kann, ist die gewählte Beobachtungsperspektive der 50 Autoren immer eine interessante, und es ist durchaus spannend, wie sie die für sie entscheidenden Aspekte herausarbeiten. Am Beispiel »La Cage Aux Folles«: »When La Cage Aux Folles first opened on Broadway, audiences uproariously laughed when a son looked at a man and called him Mother. In the two subsequent Broadway revivals of this show in 2005 and 2010, when that line was said there was less and less laughter from the audience. Of course, it is natural for a child to have two parents of the same gender, the audience thinks.« Am Beispiel von »Dear Evan Hansen«: The Producers have realized the power that social media holds in ensuring their show’s success. The widespread nature of social media places the power of critique in the fandom’s hands and out of the critics. Everyone is entitled to an opinion, and everyone is granted a space online to share it. A strong online following guarantees that a show, at the very least, will not disappear. Dear Evan Hansen is the proof. The producers of Dear Evan Hansen struck a home run when they tapped into the world of social media, building a show about the internet that could be financed by the internet. Shows like The Lightning Thief (2014) and Be More Chill (2015) are prime success stories of this model; both shows received Broadway runs thanks to large social media followings that kept them alive well after it was assumed their potential had been squashed.« 324 Seiten Lesevergnügen.
Robert W. Schneider und Shannon Agnew (Hg.): Fifty Key Stage Musicals. Routledge, New York 2022. ISBN 978-0-36-744441-9. $ 166,73. https://www.routledge.com
Martin Bruny am Mittwoch, den
15. Juni 2022 um 12:53 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2022
Vor 15 Jahren, zu Beginn der Direktionszeit von Robert Meyer an der Volksoper Wien, hat Christoph Wagner-Trenkwitz (CWT, so das für ihn gängige Kürzel) das Buch »â€šEs grünt so grün …‘ Musical an der Wiener Volksoper« veröffentlicht. Im Vorwort schrieb Meyer: »Musical gehört in dieses Haus. Wir wissen, dass dieses Genre von der Volksoper aus seinen kontinentaleuropäischen Siegeszug angetreten hat. Jedem Volksopern-Direktor muss es daher ein Anliegen sein, Musical hier zu pflegen.« Leicht überspitzt formuliert könnte man dieser Tage meinen: Mag sein, aber vielleicht nicht jeder Volksopern-Direktorin …
In ihrer ersten Saisonpräsentation am 20. April 2022 war die Wortspende der neuen Direktorin Lotte de Beer zum Thema Musical im Bereich der Wiederaufnahmen angesiedelt. Wortwörtlich sagte sie: »Und ‚Anatevka‘, wobei wir Dominique Horwitz gefunden haben, um Tevje zu spielen.« Das war’s, kein weiteres Wort zum Thema Musical.
Objektiv gesehen kann man noch nicht sagen, welchen Stellenwert Musical an der Volksoper unter de Beer haben wird. Objektiv gesehen muss man aber auch sagen, dass es in der ersten Spielzeit von Robert Meyer (der Publikumsliebling bleibt der Volksoper als Ensemblemitglied in diversen Übernahmen weiterhin treu; CWT verlässt das Haus und bindet sich als Dramaturg stärker ans Gärtnerplatztheater) ebenfalls keine Musical-Neuproduktion gab. Die Schlussworte von CWT in seinem neuen Buch »Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien«, das in Kooperation von Amalthea Verlag und Volksoper entstanden ist, lauten: »Ein Schlusswort? Das erscheint nicht nötig, denn das Thema ‚Musical an der Volksoper‘ ist keineswegs abgeschlossen und wird es wohl auch nie sein. Aber, so viel steht bereits fest, das Musical wird zunächst keine so prominente Rolle mehr spielen wie in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten. Für die erste Saison unter der Direktion von Lotte de Beer ist keine Premiere in diesem Genre angekündigt, doch kann sie, was Repertoirestücke und potenzielle Wiederaufnahmen betrifft […], aus dem Vollen schöpfen. Künstlerische, aber auch kommerzielle Überlegungen werden wohl dafür sorgen, dass das Publikum der Volksoper wieder bei einer Musical-Neuproduktion willkommen geheißen wird!«
Kann man daraus tatsächlich ableiten, dass ein Schatten über der näheren Zukunft des Musicals an der Volksoper liegt? Ich glaube, es verhält sich ein wenig wie mit Schroedingers Katze. Liest man die von CWT verfasste Passage, vielleicht. Da aber Michael Bertha, ein Pressesprecher der Volksoper, in einer Aussendung Anfang Mai formulierte »Musical in Wien ist ohne die Volksoper nicht vorstellbar. Und umgekehrt ist dieses Haus ohne Musical nicht vorstellbar«, warten vielleicht einige Überraschungen.
Musicalgeschichte wird zuerst gemacht – auf der Bühne – und danach geschrieben, meist von Kritikern und im Anschluss daran von Autoren, die zu Themen, Genres oder einer bestimmten Epoche Analysen verfassen. Aus der Sicht eines Theaters/einer Intendanz ist es klug, ein eigenes Reading der konzipierten und verwirklichten Ära schriftlich festzuhalten. Schon wenige Jahre nach ihrem Abtreten ist nicht mehr gar so viel problemlos zu recherchieren, was denn tatsächlich stattgefunden hat, wie Produktionen entstanden sind. Immer weniger an Hintergrundgeschichten bleibt in erzählbarer Erinnerung, es mag auch das Interesse daran schwinden. Ein Buch ist eine gute Möglichkeit, Anekdoten auszugraben, interessante Hintergrundgeschichten zu formulieren, eine Ära also im Rückblick gut auszuleuchten. CWT macht das in seinem Buch ausführlich. Ein Mal noch zieht er erzählerisch den Bogen ganz zurück bis in die Ära von Marcel Prawy, rafft die Musicalgeschichte der Volksoper Wien von 1952 bis 2007 auf 128 Seiten zusammen, um sich danach auf rund 120 Seiten der Ära Meyer zu widmen. Die Bausteine seiner Erzählung sind Gespräche mit Mitwirkenden, Anekdoten, in denen er Begegnungen mit Protagonisten der Musicalgeschichte wie Stephen Sondheim schildert, aber auch Blicke hinter die Kulissen auf Castingprozesse, dramaturgische Entscheidungen. Und ironisch formulierte Abrechnungen mit Kritikern, wenn sie nicht mit der nötigen Genauigkeit gearbeitet haben. Eine Premierenkritik zu »Hello, Dolly!« (2010) etwa kommentiert CWT wie folgt: »Die einzige abfällige Kritik stammte aus der Feder des Musical-Skeptikers Heinz Sichrovsky (‚News‘), die sich selbst allerdings schon mit der Einleitung richtete: ‚Unter den spärlichen [!] Meisterwerken des Genres hatte Jerry Hermans Musical ‚Hello, Dolly!‘ nie Platz [!]. Die klassische Verfilmung und das Titellied camouflierten die musikalische und literarische Substanzarmut der kuriosen Nestroy-Adaption John Steinbecks.‘ Wohl wurden im Programmheft einige Zitate Steinbecks abgedruckt, doch fußt das Musical auf einer Komödie von Thornton Wilder, wie bereits auf der ersten Seite des betreffenden Heftes nicht verschwiegen wurde …«
Zahlen und Daten kommen in dem Buch nicht zu kurz. Prägnant lässt sich damit die Bedeutung des Musicalgenres in der Ära Meyer illustrieren: In der Spielzeit 2009/2010 wurde an 27 Abenden Musical gegeben. In der letzten Saison (2021/2022) werden es 70 gewesen sein. In der Ära Prawy (1956–1972) gab es 7 Musicalpremieren, von 1972 bis 2007, dem Beginn der Direktion Meyers brachten 6 Direktoren ebenfalls 7 Musicalpremieren auf die Bühne. In Meyers Amtszeit, die 15 Jahre umfasst, waren es 23 Premieren, davon 15 Volksopern-Erstaufführungen. Das Resümee der Wiener Volksoper von 1952 bis 2022: 1 Europäische Erstaufführung (»Wonderful Town«), 8 Österreichische Erstaufführungen (»Porgy and Bess«, »Kiss me, Kate«, »Show Boat«, »South Pacific«, »Brigadoon« sowie die deutschsprachigen Erstaufführungen »Annie Get Your Gun« »West Side Story« und »Karussell«), 3 Wiener Erstaufführungen (»La Cage aux Folles«, »Der Zauberer von Oz«, »Gypsy«) und 1 Uraufführung (»Vivaldi«).
Für den Anhang des Buches hat Rainer Schubert, der Vizedirektor der Volksoper, für alle Produktionen seit 1952 die Vorstellungszahlen inkl. Premiere und Voraufführungen exkl. öffentliche Gastproben zusammengestellt. Mit Stand 9. April 2022 kommt er auf 2299 Aufführungen von 29 verschiedenen Werken in 44 Inszenierungen. Die vollständige Besetzung (inkl. der Zahl der Vorstellungen die jede Darstellerin bzw. jeder Darsteller gespielt hat) kann via QR-Code abgerufen werden und ist Teil der E-Book-Ausgabe. Im Buch aufgelistet sind alle Inszenierungen mit den Premierendaten, Angaben zum Dirigenten, zur Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme … Eine gelungene letzte Zugabe der Ära Meyer.
Christoph Wagner-Trenkwitz: Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien. Amalthea, Wien 2022. ISBN 978-3-99050-224-2. € 30,–. www.amalthea.at
Martin Bruny am Montag, den
23. Mai 2022 um 07:55 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2022
»Hör mal, Heinz, ich bin gerade mit Falco auf Tour und habe den Artikel gelesen, den du in der Männer Vogue über ihn veröffentlicht hast. Großartiger Text. Allein schon, was du über den Kommissar geschrieben hast – eine mürbe, ironische Koks-Feier, ein Rap mit einem böhmisch-jiddischen Zungenschlag, hahaha! Und du hast natürlich völlig recht, Falco ist im Moment der einzige Künstler, den wir hierzulande haben, der Bowie das Wasser reichen kann. Genau so will ich das! So einen Tonfall brauche ich von dir.« Mit diesen Worten startete der deutsche Konzertveranstalter Marek Lieberberg 1987 in ein Gespräch mit dem deutschen Rocksänger, Liedermacher und Schriftsteller Heinz Rudolf Kunze. Worum es in dem Telefonat ging? Kunze: »Ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach. Marek fuhr fort: Sagt dir das Musical Les Misà©rables etwas? Ich habe die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung gekauft. Das Ganze wird in Wien stattfinden, im Raimund Theater. Ich mache das zusammen mit Peter Weck. Und du wirst den Text übersetzen! […] Auf zwar wenigen, aber faszinierenden Seiten skizziert Kunze (in Zusammenarbeit mit Oliver Kobold) seine zweite Karriere als Übersetzer. »Marek, es freut mich wahnsinnig, dass du an mich gedacht hast. Aber wieso denkst du denn, dass ich dafür der Richtige sein könnte? Ich habe in meinem Leben nur Lola von den Kinks übersetzt, mehr nicht. Und mit Musicals kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich habe nicht mal ein einziges auch nur gesehen. Das ist mir egal. Ich weiß, dass du das kannst. Höchste Zeit, dass mal ein frischer Wind reinkommt bei den deutschen Musical-Texten. Und du bist der richtige Mann dafür. Ich will einen anderen Zungenschlag, einen anderen Tonfall. Genauer, poetischer, musikalischer. Ich gebe dir drei Monate Probezeit, dann sehen wir weiter.« In den darauffolgenden Passagen schildert Kunze seine Arbeit am Text und in Wien vor Ort in der letzten heißen Phase vor der Premiere der Show 1988: »Der erste große Dialog zwischen Valjean, dem ehemaligen Häftling, und Javert, dem Polizisten, schnürte mir die Kehle zu. Enthüllt wird die Ähnlichkeit der beiden Männer, denn Javert ist selbst im Gefängnis aufgewachsen, als Sohn eines Wärters. Das ist der Grund für die Unerbittlichkeit, mit der er Verbrecher jagt – sie halten die Erinnerung an seine Kindheit wach, die er so gerne hinter sich lassen würde. Im Original lautete sein Geständnis: You know nothing of Javert / I was born inside a jail / I was born with scum like you / I am from the gutter, too! Besonders die Zeile I was born inside a jail kostete mich Nerven. Ich fand und fand keine Entsprechung, die mir gefiel. Erst als ich den Teil fürs Ganze nahm, wurde es Poesie und war nicht mehr nur Dienstleistung: Ich liebe die Zeilen bis heute. Was weißt du schon von Javert? / Gitter brach mein Wiegenlicht / Dreck sah meiner Mutter zu / Ich stamm aus dem Dreck wie du. Während der Proben in Wien holten sie bei solchen Passagen kurz Luft und steckten die Köpfe zusammen: Hos d’ dös g’hert, wos der do gschrieb’n hot?« »Miss Saigon«, Andrew Lloyd Webbers »Joseph« und »Rent« sind Kunzes weitere Karrierestationen als Übersetzer. Mit viel Witz und auch gnadenloser Offenheit skizziert er seine Sicht auf die Musicalbranche. Am Beispiel »Rent«: »An der Qualität des Musicals bestand keine Zweifel. Aber ob das deutsche Publikum wirklich zu einer Konfrontation mit dem richtigen Leben bereit war, noch dazu ohne entlastenden Orchesterschmelz, sondern mit der Wucht einer richtigen Rockband […]« Wir wissen, wie es ausging. »Rent« lief in Düsseldorf 1999 keine drei Monate, in Berlin nur wenig länger. Kunze: »Das deutsche Publikum fand keinen Zugang zu dem Stück und blieb beim Bewährten. Bei Zuckerguss und Utopie.« Aber nicht nur die Musicalpassagen entwickeln einen beeindruckenden Sog. Kunzes Autobiografie ist voller Anekdoten mit deutschen, österreichischen und internationalen Stars. Spannend, oft berührend, eine großartige Biografie, immer im Bestreben, den richtigen Tonfall zu treffen: »Peter Weck kam vorbei […] und wollte sich persönlich vom Fortgang der Proben überzeugen: »Na, Kinder, wos hobt’s Schöns ’mocht? Darf i amoi schaun? Charme, den man nicht lernen, nur haben kann. Das Wien von Sissi und Hans Moser; das Wien, das an der schönen blauen Donau liegt und wo im Prater wieder die Bäume blühen – wenn Peter Weck den Raum betrat, existierte es noch immer. Er setzte sich zwischen Gale Edwards und mich und ließ sich einige Szenen zeigen, erst nach einer Weile traute ich mich, den Kopf zu drehen. Weck liefen die Tränen übers Gesicht. Er weinte vor Glück. Und ich war plötzlich zehn Zentimeter gewachsen.«
Heinz Rudolf Kunze: Werdegang. Reclam, Ditzingen 2021. ISBN 978-3-15-011379-0. $ 19,90 €. www.reclam.de
Martin Bruny am Freitag, den
8. April 2022 um 20:02 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2022
Die Situation kennt jeder. Man steht vor einer Herausforderung und sucht … Orientierung, Tipps, Hilfe, möglichst in einer Form, die eine Instant-Erleichterung verschafft, etwa indem grundlegende Fragen leicht erfassbar erklärt werden, Aspekte, die man vielleicht auf den ersten Blick gar nicht als wichtig erkannt hat, thematisiert werden. Profis mit möglichst reicher Erfahrung sind in all diesen Fällen die Ansprechpartner der Wahl.
Ariane Swoboda arbeitet seit vielen Jahren in der Musicalbranche. Sie hat am Konservatorium der Stadt Wien sowie am Tanz-Gesang-Studio im Theater an der Wien, das Peter Weck 1984 gegründet hat (und das Mitte der 1990er-Jahre geschlossen wurde), studiert und ist seit ihrem Abschluss Anfang der 1990er-Jahre in zahlreichen Rollen, etwa bei den Wiener Produktionen von »Grease«, »Die Schöne und das Biest«, »Elisabeth«, »Tanz der Vampire«, »The Producers« »Evita«, und vielen anderen zu sehen gewesen, 2021 als Olivia in »I Feel Love«, einer Produktion der Vereinigten Bühnen Bozen. An der Wiener Broadway Academy gibt sie Audition Classes und unterrichtet Liedinterpretation.
Ihr Ratgeber startet mit Tipps für die Zeit des Studiums. Methodisch geschickt werden Anleitungen in leicht zu merkenden Schritt-für Schritt-Programmen formuliert, organisatorische Rahmenbedingungen wie Jahrgangsprüfungen besprochen, ebenso Bewerbungstools oder der Umgang mit Social Media. Man findet Listen von Agenturen, nützliche Hinweise für den Bereich Finanzen (steuerliche Absetzbarkeit von Fotos; Audition-Bestätigungen/Reisekosten für die Steuererklärung) und einen Test, der einem dabei hilft, zu erkennen, welcher Audition-Typ man ist. Infos zu E-Casting und About-me-Videos gibt es ebenso. Im Tonfall wertschätzend, Wissen und Erfahrung vermittelnd, reicht das Buch von sehr konkreten Tipps, etwa was man zu Fotoshootings alles mitnehmen muss, bis zu Praxisübungen, zum Beispiel, welche Erkenntnisse man daraus gewinnen kann, Theater aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen: »Ich möchte, dass Sie ins Theater gehen! Sie werden sagen: Das mache ich sowieso – Ich liebe Musicals. Aber ich möchte, dass Sie sich diesmal nicht verzaubern lassen. Dieses Mal möchte ich, dass Sie sich Notizen machen. […] Seien Sie analytisch – am besten gehen Sie alleine. Kaufen Sie sich ein Ticket weiter hinten – damit Sie die ganze Bühne übersehen. […]« Punkt für Punkt wird skizziert, welche Aspekte der Show analysiert werden sollten. Die Vorgehensweise entspricht in etwa jener, die Theaterkritiker anwenden, wenn auch mit einem anderen Resultat. Dem Dechiffrieren von Auditionausschreibungen folgt im Hauptteil eine ausführliche Anleitung, wie man in fünf Schritten zu einer organisierten Präsentation kommt und einen Auditiontag zu einem Erfolg für sich gestaltet, egal ob ein konkretes Jobangebot am Ende steht oder nicht.
Ariane Swoboda hat nicht nur einen Ratgeber und ein Arbeitsbuch (mit Arbeitsblättern) verfasst, sondern auch ein Motivationsbuch. Praxistipps von u. a. Simon Eichenberger (Regisseur, Choreograf, Agent), Stefan Huber (Regisseur), Carsten Paap (Dirigent), Koen Schoots (Dirigent, Arrangeur), Andreas Gergen (Regisseur), Sascha Oliver Bauer (Regisseur), Josef E. Köpplinger (Staatsintendant), Matthias Davids (Regisseur und künstlerische Leitung Landestheater Linz), Bettina Bogdany (Musicalsängerin, Pianistin, Musikkabarettistin, Songschreiberin und musikalische Leiterin), Jerà´me Knols (Choreograf und Dance Captain), Alex Balga (Intendant der Sommerfestspiele Amstetten und Regisseur), Caspar Richter (Musikdirektor), Christopher Tölle (Regisseur, Choreograf), Bela Fischer Jr. (Musiker), Ricarda Regina Ludigkeit (Regie, Choreografie, Tanzpädagogik) und Christian Struppeck (Musicalintendant VBW) zeigen, was bei Auditions von Praktikern konkret erwartet wird.
Zurück zu den am Beginn angesprochenen Aspekten, die manche eventuell gar nicht im Fokus haben. Koen Schoots: »Jede*r musikalische*r Leiter*in, jede*r Dirigent*in wird sich freuen, wenn im Lebenslauf bei der Auflistung der Produktionen nicht nur der*die jeweilige Regisseur*in und Choreograph*in genannt werden, sondern auch der Musikdirektor. Jedenfalls hat der*die Bewerber*in dann bei mir schon ein paar Pluspunkte gutgeschrieben, denn das zeugt von Respekt für unseren Beruf, der mit den Jahren leider immer weniger respektiert wird.«
Ariane Swoboda: Mein Audition-Journal. Wegbegleiter & Arbeitsbuch für Musicaldarsteller*innen. myMorawa, Dataform Media GmbH, Wien 2021. ISBN 978-3-99125-717-2. $ 19,90 €. www.morawa.at
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