Vor 15 Jahren, zu Beginn der Direktionszeit von Robert Meyer an der Volksoper Wien, hat Christoph Wagner-Trenkwitz (CWT, so das für ihn gängige Kürzel) das Buch »â€šEs grünt so grün …‘ Musical an der Wiener Volksoper« veröffentlicht. Im Vorwort schrieb Meyer: »Musical gehört in dieses Haus. Wir wissen, dass dieses Genre von der Volksoper aus seinen kontinentaleuropäischen Siegeszug angetreten hat. Jedem Volksopern-Direktor muss es daher ein Anliegen sein, Musical hier zu pflegen.« Leicht überspitzt formuliert könnte man dieser Tage meinen: Mag sein, aber vielleicht nicht jeder Volksopern-Direktorin …
In ihrer ersten Saisonpräsentation am 20. April 2022 war die Wortspende der neuen Direktorin Lotte de Beer zum Thema Musical im Bereich der Wiederaufnahmen angesiedelt. Wortwörtlich sagte sie: »Und ‚Anatevka‘, wobei wir Dominique Horwitz gefunden haben, um Tevje zu spielen.« Das war’s, kein weiteres Wort zum Thema Musical.
Objektiv gesehen kann man noch nicht sagen, welchen Stellenwert Musical an der Volksoper unter de Beer haben wird. Objektiv gesehen muss man aber auch sagen, dass es in der ersten Spielzeit von Robert Meyer (der Publikumsliebling bleibt der Volksoper als Ensemblemitglied in diversen Übernahmen weiterhin treu; CWT verlässt das Haus und bindet sich als Dramaturg stärker ans Gärtnerplatztheater) ebenfalls keine Musical-Neuproduktion gab. Die Schlussworte von CWT in seinem neuen Buch »Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien«, das in Kooperation von Amalthea Verlag und Volksoper entstanden ist, lauten: »Ein Schlusswort? Das erscheint nicht nötig, denn das Thema ‚Musical an der Volksoper‘ ist keineswegs abgeschlossen und wird es wohl auch nie sein. Aber, so viel steht bereits fest, das Musical wird zunächst keine so prominente Rolle mehr spielen wie in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten. Für die erste Saison unter der Direktion von Lotte de Beer ist keine Premiere in diesem Genre angekündigt, doch kann sie, was Repertoirestücke und potenzielle Wiederaufnahmen betrifft […], aus dem Vollen schöpfen. Künstlerische, aber auch kommerzielle Überlegungen werden wohl dafür sorgen, dass das Publikum der Volksoper wieder bei einer Musical-Neuproduktion willkommen geheißen wird!«
Kann man daraus tatsächlich ableiten, dass ein Schatten über der näheren Zukunft des Musicals an der Volksoper liegt? Ich glaube, es verhält sich ein wenig wie mit Schroedingers Katze. Liest man die von CWT verfasste Passage, vielleicht. Da aber Michael Bertha, ein Pressesprecher der Volksoper, in einer Aussendung Anfang Mai formulierte »Musical in Wien ist ohne die Volksoper nicht vorstellbar. Und umgekehrt ist dieses Haus ohne Musical nicht vorstellbar«, warten vielleicht einige Überraschungen.
Musicalgeschichte wird zuerst gemacht – auf der Bühne – und danach geschrieben, meist von Kritikern und im Anschluss daran von Autoren, die zu Themen, Genres oder einer bestimmten Epoche Analysen verfassen. Aus der Sicht eines Theaters/einer Intendanz ist es klug, ein eigenes Reading der konzipierten und verwirklichten Ära schriftlich festzuhalten. Schon wenige Jahre nach ihrem Abtreten ist nicht mehr gar so viel problemlos zu recherchieren, was denn tatsächlich stattgefunden hat, wie Produktionen entstanden sind. Immer weniger an Hintergrundgeschichten bleibt in erzählbarer Erinnerung, es mag auch das Interesse daran schwinden. Ein Buch ist eine gute Möglichkeit, Anekdoten auszugraben, interessante Hintergrundgeschichten zu formulieren, eine Ära also im Rückblick gut auszuleuchten. CWT macht das in seinem Buch ausführlich. Ein Mal noch zieht er erzählerisch den Bogen ganz zurück bis in die Ära von Marcel Prawy, rafft die Musicalgeschichte der Volksoper Wien von 1952 bis 2007 auf 128 Seiten zusammen, um sich danach auf rund 120 Seiten der Ära Meyer zu widmen. Die Bausteine seiner Erzählung sind Gespräche mit Mitwirkenden, Anekdoten, in denen er Begegnungen mit Protagonisten der Musicalgeschichte wie Stephen Sondheim schildert, aber auch Blicke hinter die Kulissen auf Castingprozesse, dramaturgische Entscheidungen. Und ironisch formulierte Abrechnungen mit Kritikern, wenn sie nicht mit der nötigen Genauigkeit gearbeitet haben. Eine Premierenkritik zu »Hello, Dolly!« (2010) etwa kommentiert CWT wie folgt: »Die einzige abfällige Kritik stammte aus der Feder des Musical-Skeptikers Heinz Sichrovsky (‚News‘), die sich selbst allerdings schon mit der Einleitung richtete: ‚Unter den spärlichen [!] Meisterwerken des Genres hatte Jerry Hermans Musical ‚Hello, Dolly!‘ nie Platz [!]. Die klassische Verfilmung und das Titellied camouflierten die musikalische und literarische Substanzarmut der kuriosen Nestroy-Adaption John Steinbecks.‘ Wohl wurden im Programmheft einige Zitate Steinbecks abgedruckt, doch fußt das Musical auf einer Komödie von Thornton Wilder, wie bereits auf der ersten Seite des betreffenden Heftes nicht verschwiegen wurde …«
Zahlen und Daten kommen in dem Buch nicht zu kurz. Prägnant lässt sich damit die Bedeutung des Musicalgenres in der Ära Meyer illustrieren: In der Spielzeit 2009/2010 wurde an 27 Abenden Musical gegeben. In der letzten Saison (2021/2022) werden es 70 gewesen sein. In der Ära Prawy (1956–1972) gab es 7 Musicalpremieren, von 1972 bis 2007, dem Beginn der Direktion Meyers brachten 6 Direktoren ebenfalls 7 Musicalpremieren auf die Bühne. In Meyers Amtszeit, die 15 Jahre umfasst, waren es 23 Premieren, davon 15 Volksopern-Erstaufführungen. Das Resümee der Wiener Volksoper von 1952 bis 2022: 1 Europäische Erstaufführung (»Wonderful Town«), 8 Österreichische Erstaufführungen (»Porgy and Bess«, »Kiss me, Kate«, »Show Boat«, »South Pacific«, »Brigadoon« sowie die deutschsprachigen Erstaufführungen »Annie Get Your Gun« »West Side Story« und »Karussell«), 3 Wiener Erstaufführungen (»La Cage aux Folles«, »Der Zauberer von Oz«, »Gypsy«) und 1 Uraufführung (»Vivaldi«).
Für den Anhang des Buches hat Rainer Schubert, der Vizedirektor der Volksoper, für alle Produktionen seit 1952 die Vorstellungszahlen inkl. Premiere und Voraufführungen exkl. öffentliche Gastproben zusammengestellt. Mit Stand 9. April 2022 kommt er auf 2299 Aufführungen von 29 verschiedenen Werken in 44 Inszenierungen. Die vollständige Besetzung (inkl. der Zahl der Vorstellungen die jede Darstellerin bzw. jeder Darsteller gespielt hat) kann via QR-Code abgerufen werden und ist Teil der E-Book-Ausgabe. Im Buch aufgelistet sind alle Inszenierungen mit den Premierendaten, Angaben zum Dirigenten, zur Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme … Eine gelungene letzte Zugabe der Ära Meyer.
Christoph Wagner-Trenkwitz: Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien. Amalthea, Wien 2022. ISBN 978-3-99050-224-2. € 30,–. www.amalthea.at
Christoph Wagner-Trenkwitz: Willkommen, bienvenue, welcome! (2022)
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