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Kevin Clarke (Hg.): »Breaking Free«

»Breaking Free« hat Kevin Clarke seinen im Oktober erschienenen Sammelband über »Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals« genannt. »Breaking Free« ist der Titel eines Songs aus Disneys TV-Film »High School Musical« (2006) und soll, so schreibt der Autor, das »Aufbrechen von Beschränkungen und das selbstbewusste Sich-neu-Finden perfekt« ausdrücken. »Zudem hat High School Musical auch die aktuelle Ära des Musicals in Film und Fernsehen eingeläutet. Mit HSM wurde eine neue Generation von Fans fürs Genre begeistert, nicht nur wegen der Frisur von Zac Efron.«
Im selben Band analysiert Ralf Rühmeier unter dem Titel »This is me. Disney und Diversity« die »Queer-Codierung« des Unterhaltungskonzerns Disney, unter anderem am Beispiel des 2022 veröffentlichten Disney+-Films »Better Nate Than Ever«: »Nate ist offensichtlich schwul. Allerdings fällt in den 94 Filmminuten das Wort gay kein einziges Mal. Dafür gibt es blumige Umschreibungen. […] Wenn sich Nate vor seiner Tante outet, klingt das folgendermaßen: Ich bin der einzige Junge, der den ganzen Text von Corner of the Sky kennt. Das ist nicht schön. Natürlich reagiert die Tante verständnisvoll. Ich verspreche dir, dass du nicht der Einzige bist, der alle Songtexte aus Pippin kennt. Nur ist nicht jeder so mutig, sich allen mitzuteilen.« Laut Rühmeier hat Disney damit in diesem Film das 2022 in Florida von religiös-konservativen Fundamentalisten durchgesetzte (und seit dem 1. Juli 2022 gültige) »Don’t say gay«-Gesetz zu 100 Prozent umgesetzt. In dem Gesetz geht es um eine Reform des Bildungswesens: In Klassenräumen und Kindergärten wird jegliche Diskussion über sexuelle Orientierung und Genderidentität, die nicht der Heteronorm entspricht, bis zur dritten Klasse untersagt. Rühmeier weiter: »Was bedeutet das für die Bühne? Wird die Disney Theatrical Group jemals eine queere Figur in einer ihrer Shows zeigen?«
Das Stichwort Bühne ist wichtig, denn Clarke skizziert, ohne das zu wollen, im Vorwort seines Buchs eigentlich eine recht düstere Zeit für das Musicalgenre an sich – und damit meine ich Musical, das sich dort abspielt, wo es als Liveerlebnis stattfindet: auf der Bühne –, wenn er schreibt: »Diese jugendlichen Fans, die mit Social Media und Internetaktivismus aufgewachsen sind, gehen ganz anders mit Musicals um als die Generationen davor. Sie stellen andere Ansprüche und artikulieren diese anders. Und sie werden von Musicalmacher*innen anders bedient. Musicals sind heute global verfügbar – als Musik bei Spotify und iTunes, gefilmt und über YouTube geteilt, über Streamingdienste, in Diskussionsforen, als Hashtag.« In einem Interview mit dem WDR meinte der Autor unlängst, es sei toll, zu sehen, dass nach den Corona-Lockdowns so viel via Streaming den Weg nach Deutschland gefunden habe, »in Umgehung der Bühnen der Stadt- und Staatstheater und von Stage Entertainment«, die sich an LGBTQ-Themen nicht wagen, weil sie, so Clarke, nicht dürfen oder wollen, keine Schauspieler finden oder nicht glauben, dass sie damit über längere Zeit die Hallen füllen können. – Das scheint mir eine eher dystopische Zukunftsprognose für das Musicalgenre zu sein. Sollten wir nicht eher aufhören, Bühnenerlebnisse mit Filmen und Serien gleichzusetzen?
Clarke verwendet im Buch und in Interviews die Metapher vom Tsunami. So schreibt er, es sei in der angloamerikanischen Musikszene ein »Tsunami von LGBTQ-Stücken ins Rollen gekommen«. Doch ist ein Tsunami nicht stets mit Vernichtung verbunden? Auch in manchen Beiträgen des Autors und Herausgebers ist mitunter diese Tendenz zur Übertreibung auszumachen. Ein Beispiel: Die Musikwissenschafterin Elizabeth Wollman unterrichtet am Baruch College und der City University of New York. Sie ist spezialisiert auf die Geschichte des US-amerikanischen Bühnenmusicals. In ihrem Artikel für »Breaking Free« beschreibt sie die Entwicklung der US-amerikanischen Musicalforschung. Etablieren konnte sich diese ab den mittleren bis späten 1990er-Jahren, davor gab es »wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Musical«, erst am Übergang zum 21. Jahrhundert begann (auch im Zusammenhang mit dem Thema LGBTQ) »eine rundum neue Form der Musicalforschung zu boomen«, und zwar insofern, als dass nun auch Wissenschafter sich mit dem Thema beschäftigten, während es davor eher Journalisten, Komponisten, Publizisten etc. waren. Wollman argumentiert klar und datenbasiert. Subsumierend könnte man sagen, dass aufgrund der enormen Produktivität auf US-amerikanischen Bühnen und einer allgemeinen gesellschaftlichen – inklusiven – Weiterentwicklung die US-Theaterforschung im Bereich Musical nachgezogen hat. Kevin Clarke fügt diesem gelungenen Beitrag ein Postskriptum hinzu. Leider sind seine Ausführungen teils faktenbefreit. Zitat Clarke: »In einer Buchrezension vom Sommer 2021 schreibt Martin Bruny in musicals […], dass die Geschichte der Kunstform Musical (und Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist. Er nimmt Österreich als Beispiel: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. […] Die Gründe? Der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden dadurch immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Für Deutschland nennt Bruny Wolfgang Jansen als eine Erzählerpersönlichkeit und dessen Cats & Co. von 2008 als wegweisend. Von allen anderen Büchern, die es weltweit zu Musicals und einem Reframing des Musicals gibt, nehmen weder Bruny noch musicals Kenntnis.« Diese Interpretation meiner Zeilen ist in mehrfacher Hinsicht falsch. In meiner Buchkritik ging es in der zitierten Passage eben nur um Österreich und im Vergleich dazu Deutschland. Seit mehr als 15 Jahren widme ich mich im Magazin »musicals« interessanten Buchneuerscheinungen aus der ganzen Welt, nicht zuletzt auch unter dem LGBTQ-Aspekt. Aber nicht nur das, in »musicals« gab es in den letzten Ausgaben einen Schwerpunkt zum Thema »HIV und Musicals« (Nr. 203, S. 20–23) von Thomas Thalhammer, ein Plädoyer für mehr Frauen im Musical (Nr. 209, S. 70–83) von Lisanne Wiegand, Produktionen werden stets auch unter einem queeren Blickwinkel analysiert, so sich das anbietet. Die »Unlust am Diskutieren«, die der Autor in Bezug auf das Thema LGBTQ verspürt, wird er nicht in etwas Lustvolles umwandeln können, wenn er mit Unterstellungen operiert.
Der deutsche Musikkritiker Manuel Brug und der australische Opern- und Theaterregisseur Barrie Kosky werfen in »Breaking Free« in ihren Beiträgen unter anderem äußerst spannende und nicht zuletzt ernüchternde Blicke auf die Wiener Musicalszene. Sie könnten damit einen Anfangspunkt gesetzt haben zu einer kritischen Aufarbeitung der Wiener Musicalgeschichte ab 1980. Bisweilen freilich könnte man die von Manuel Brug etwas gar düstere Einschätzung vielleicht etwas aufhellen, wenn man sich mal von der »Tsunami«-Metapher Clarkes verabschiedet und die gesellschaftliche Transformation, die der Entwicklung des Musicals zugrunde liegt, eher als Evolution auffasst. Nehmen wir als Beispiel das Jukebox-Musical »Ich war noch niemals in New York«. In Bezug auf das Thema LGBTQ notiert Brug über die Hamburger Uraufführung dazu: »Selbst für das 2007 komplett neuerfundene Ich war noch niemals in New York […] mussten mit dem schwulen Maskenbildner Fred und dessen Freund Costa Antonidis zwei sehr flachgezeichnete Tunten her […]. Immerhin bekamen die beiden Figuren mit dem Ehrenwerten Haus und Griechischer Wein zwei der vom Publikum begeistert mitgesungenen Hits.« Beim Lesen dieser Zeilen dachte ich mir: Was würde Andreas Bieber wohl zu dieser Einschätzung sagen? Er hat die Rolle des Fred nur wenige Jahre nach der Uraufführung in Wien gespielt. Im vorliegenden Buch kommt er nicht zu Wort. Ich bat ihn um ein Statement, und er ließ mir seine Sichtweise zukommen: »Was IWNNINY anbetrifft, so habe ich das seinerzeit in Hamburg als Zuschauer auch etwas klischeehaft gesehen, was besonders die Figur des Fred angeht. Für die Neuinszenierung 2010 in Wien war das tatsächlich zunächst ein Grund für mich, NICHT zur Audition zu gehen. Als man mich dann doch fragte, ob ich Zeit und Interesse an der Rolle hätte, war es meine klar ausgedrückte Bedingung, meinen Fred ganz natürlich und in erster Linie als lebensfrohen Optimisten darzustellen, der zufällig halt schwul ist. Das hat letztlich dazu geführt, dass der KUSS zwischen Costa und Fred, der in Hamburg noch im Abgang verschwand, bei uns ganz normaler Bestandteil der Geschichte war, der natürlich und offen gezeigt werden durfte. Wo man vorher vielleicht noch dachte, das Publikum damit zu überfordern, gab es hierfür in Wien sogar Szenenapplaus … Wir sind da inzwischen schon sehr viel weiter gekommen, was das Thema LGBTQ in Musicals anbetrifft!«
Manuel Brug spricht auch das VBW-Musical »Elisabeth« an und meint dazu unter anderem: »Eine Diskussion zu queeren Perspektiven auf Elisabeth gab’s übrigens nie, weder in Feuilletons, Fachzeitschriften noch Fan-Foren«. Andreas Bieber dazu: »Wir reden natürlich über 1992! Eine Zeit, wo über queere Perspektiven noch nicht so frei und selbstverständlich berichtet oder auch diskutiert wurde. Der androgyne, zumindest bisexuelle TOD deutete all das natürlich an, schon durch seine Optik (Uwe Kröger), aber es blieb in erster Linie etwas GEHEIMNISvolles, das man damals vielleicht noch nicht so genau thematisieren wollte …«
Zusammenfassend: Mit Schuldzuweisungen, die Medien, einzelne Journalisten würden sich für das Thema LGBTQ nicht interessieren, werden wir vermutlich nicht weit kommen. Medien reflektieren und analysieren, was im Bereich Theater passiert, eingebettet in gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen. LGBTQ ist ein wichtiges Thema im Theater – schön, dass der Sammelband »Breaking Free« auf 328 Seiten einer Vielzahl an diskussionswürdigen Inhalten innerhalb des LGBTQ-Spektrums Raum gibt.
Kevin Clarke (Hg.): Breaking Free. Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals. Querverlag, Berlin 2022. ISBN 978-3-89656-322-4. € 29,–. querverlag.de

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