Robert W. Schneider und Shannon Agnew (Hg.): Fifty Key Stage Musicals
In diesem Jahr feiert das unverwüstliche Musical »Grease« sein 50-jähriges Bühnenjubiläum. Die Broadway-Produktion, die vom 14. Februar 1972 bis zum 13. April 1980 in vier verschiedenen Theatern zu sehen war, ist es jedoch nicht, die es als eine von 50 Shows in das von Robert W. Schneider und Shannon Agnew herausgegebene Buch »Fifty Key Stage Musicals« geschafft hat, sondern das »Grease«-Revival, das vom 11. Mai 1994 bis 25. Januar 1998 im Eugene O’Neill Theatre gegeben wurde. Die Gründe, warum es diese Produktion sein musste, heißen unter anderem: Linda Blair, Debby Boone, Sheena Easton, Deborah Gibson, Jasmine Guy und Jody Watley. Sie alle (und einige mehr) standen in der Hitshow als Betty Rizzo auf der Bühne. Sie waren ausschlaggebend dafür, warum das Revival, das nach einer Anfangseuphorie bald schon schwächelte, Jahre am Spielplan blieb. Als Fran und Bran Weissler, die Produzenten des Revivals, feststellten, dass der Ticketvorverkauf rapide abnahm, entwickelten sie nämlich eine Methode, um neue Publikumsschichten ins Theater zu holen. Heute ist das, was damals entworfen wurde, eine gängige Masche: Stunt Casting (im Gegensatz zu Star Casting und Star Replacement Casting). Statt Triple Threats zu casten, suchte man gezielt Celebritys. Im Extremfall mussten sie nicht mal Theatererfahrung haben, sondern einfach die besondere Gabe, Leute ins Theater zu locken. »Grease« war dafür unter anderem deswegen eine ideale Show, weil es Rollen darin gibt, die nicht viel an Allroundfähigkeiten verlangen. Miss Lynch muss nicht singen können, Teen Angel hat nur einen Starauftritt … Mark Madama, der Autor des Essays über »Grease«, formuliert die Regeln des Stunt Castings wie folgt: »Rule one, look for a celebrity who is either currently trending in the news/pop culture, or visit a time machine to rediscover a star who’s still able to ignite warm nostalgic memories. Rule two, hire, sometimes without auditioning, said celebrity and plug them into the role most, or even somewhat, suited for them in your Broadway show. Rule three, devise a marketing campaign to exploit this celebrity’s current or past notoriety. Rule four, hope that your celebrity has the theatre technique to sustain their performance in a grueling eight-show-a-week Broadway schedule. Usually, Broadway contracts can be anywhere from six months to two years, but the stars cast as stunt casting can be as little as a few weeks.« Jazz-Legende Al Jarreau als Teen Angel, Chartsstürmer Jon Secada als Danny Zuko, Brooke Shields als Betty Rizo, sie alle waren Kassenmagneten. Shields brachte zusätzliche 40.000 Dollar pro Woche, Al Jarreau zusätzliche 100.000 Dollar. Zeitweise bestand das Publikum zu 25 bis 30 Prozent aus Besuchern, die noch nie vorher eine Broadway-Show besucht hatten.
Dass diese Show als eines von 50 Key Stage Musicals klassifiziert wurde, sorgt anfangs vielleicht etwas für Erstaunen, die Wahl ist jedoch dem Konzept geschuldet, das die Herausgeber ihrem Werk zugrunde gelegt haben. Sie definierten 50 Musicals, die für die Weiterentwicklung des Genres bestimmend waren, es handelt sich also nicht um eine Auswahl der »besten« Shows. 50 Autoren befassen sich in Essay-Form vor allem mit jeweils einem entscheidenden Faktor, der das von ihnen gewählte Werk essenziell werden ließ für den Erfolg zumindest eines weiteren. 1996 etwa brachten Fran und Bran Weissler ihr nächstes Projekt an den Start: das Revival von »Chicago«. Und ihr Erfolgszezept ging auch hier auf. Die Produktion ist nach wie vor zu sehen (derzeit unten anderem mit Pamela Anderson) und trägt das Label: »Longest running show to have premiered on Broadway«. Am 26. Juni 2022 ging Vorstellung Nummer 10.002 über die Bühne. Ganz offiziell liegt vor »Chicago« als »longest running show on Broadway« nur eine Produktion: »The Phantom of the Opera« (13.645 Vorstellungen).
Die Liste der prominenten Musicals, die bei einem solchen Konzept auf der Strecke blieben, ist lang. »The Music Man«, »The Book of Mormon«, sämtliche Film- und TV-Musicals, Kultmusicals wie »Bare« oder »Spiderman: Turn Off The Dark«, alles von Jason Robert Brown etc. Den Grund formulieren die Herausgeber folgendermaßen: »… we could not find a large enough impact of their works on the creation of other works no matter how much joy they gave audiences throughout their runs or how much they brought musicals into the popular discourse.«
Das Buchprojekt hat auch einen Ableger im Internet, siehe https://tinyurl.com/KeyMusicals. Alle Episoden sind gratis und frei zugänglich, man muss dafür nicht das Buch gekauft haben. Die 50 Musicals des Buches werden hier noch ausführlicher und in Gesprächen zum Beispiel mit den Komponisten oder aber mit den Autoren der jeweiligen Kapitel analysiert.
Dem Konzept des Dominoeffekts entsprechend ist das erste Musical, das besprochen wird, »The Black Crook« (1866) und das letzte »Dear Evan Hansen« (2016). Ganz abgesehen davon, ob man sich mit diesem Konzept anfreunden kann, ist die gewählte Beobachtungsperspektive der 50 Autoren immer eine interessante, und es ist durchaus spannend, wie sie die für sie entscheidenden Aspekte herausarbeiten. Am Beispiel »La Cage Aux Folles«: »When La Cage Aux Folles first opened on Broadway, audiences uproariously laughed when a son looked at a man and called him Mother. In the two subsequent Broadway revivals of this show in 2005 and 2010, when that line was said there was less and less laughter from the audience. Of course, it is natural for a child to have two parents of the same gender, the audience thinks.« Am Beispiel von »Dear Evan Hansen«: The Producers have realized the power that social media holds in ensuring their show’s success. The widespread nature of social media places the power of critique in the fandom’s hands and out of the critics. Everyone is entitled to an opinion, and everyone is granted a space online to share it. A strong online following guarantees that a show, at the very least, will not disappear. Dear Evan Hansen is the proof. The producers of Dear Evan Hansen struck a home run when they tapped into the world of social media, building a show about the internet that could be financed by the internet. Shows like The Lightning Thief (2014) and Be More Chill (2015) are prime success stories of this model; both shows received Broadway runs thanks to large social media followings that kept them alive well after it was assumed their potential had been squashed.« 324 Seiten Lesevergnügen.
Robert W. Schneider und Shannon Agnew (Hg.): Fifty Key Stage Musicals. Routledge, New York 2022. ISBN 978-0-36-744441-9. $ 166,73. https://www.routledge.com
Robert W. Schneider und Shannon Agnew (Hg.): Fifty Key Stage Musicals (2022)
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