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Martin Bruny am Dienstag, den
8. Februar 2022 um 20:00 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2022
Im Mai 1973 eröffnete sich dem deutschen Schauspieler Fritz Wepper die Chance seines Lebens. Im Zuge eines Promotion-Trips nach New York für das Filmmusical »Cabaret« hatte der 31-Jährige ein Meeting mit der Music Corporation of America (MCA), der damals einflussreichsten Schauspieleragentur Hollywoods, bei der Größen wie Kirk Douglas, Fred Astaire, James Stewart und Bette Davis unter Vertrag standen. Die Vertreter kamen mit konkreten Angeboten: ein Theaterstück am Broadway, danach ein Film in Kanada und ein weiterer in Los Angeles. Auf die Frage nach seinen terminlichen Verpflichtungen antwortete Wepper bei diesem Treffen: »I’m busy this year and I have an option for next year.« Ein fataler Fehler. »Forget it, Fritz. Good luck«, war die Antwort der Vertreter der Agentur. Der Grund für die Abfuhr: Der Begriff »Option« bedeutet im Deutschen für einen Schauspieler ein Rollenangebot, das er auch ablehnen kann. Im amerikanischen Fachjargon besagt eine solche Aussage allerdings, dass man vertraglich gebunden ist. Die MCA ging davon aus, dass Wepper nicht vor 1975 verfügbar sei, und hatte ihr Interesse an ihm verloren.
Fritz Wepper widmet »Cabaret« demgemäß in seiner Autobiografie zwar ein Kapitel, aber ein mit 18 Seiten recht schmales. Doch erstens sind O-Töne, so kurz sie auch sein mögen, stets Gold wert, und immerhin bietet der Schauspieler kurze Einblicke in die Zeit der Auditions und Dreharbeiten für »Cabaret«: »In der Bavaria kannte ich fast alle Bühnenbildner und Beleuchter, schließlich hatte ich dort schon mit zwölf meinen ersten Film gedreht. Einen fragte ich: Wie läuft’s denn so? Und er antwortete: Du, der Fosse sagt mir bei jedem Nagel genau, wie ich den in die Deko haun’n soll. Der hat ’ne klare Vision. […] Bob Fosse rauchte ziemlich viel. Mit Fluppe im Mund gab er ständig Anweisungen. Wenn einer von uns vieren [Liza Minnelli, Michael York, Marisa Berenson und Fritz Wepper] in Großaufnahme zu sehen war, stellte er die anderen neben die Kamera und forderte sie auf, möglichst intensiv zu spielen. So wollte er dafür sorgen, dass alle ihr Bestes gaben, Wer gerade im Bild war, wurde also nicht zum pausierenden Stichwortgeber, sondern forderte seine Kollegen richtiggehend heraus, das sieht man auch am Ergebnis. So was hatte ich vorher noch nie erlebt. Das war handwerkliches Neuland für mich.« Innerhalb dieses Abschnitts konzentriert sich die weitere Erzählung dann auf die Freundschaft mit Liza Minnelli und Treffen mit Showgrößen der damaligen Zeit. Wepper abschließend zu diesem Kapitel in seiner Karriere: »Hollywood habe ich im Nachhinein nie ernsthaft vermisst, denn es öffneten sich für mich stattdessen viele andere Türen.«
Fritz Wepper: Ein ewiger Augenblick. Die Autobiographie. Heyne, München 2021. ISBN 978-3-453-21819-2. $ 20,– €. www.heyne.de
Martin Bruny am Mittwoch, den
8. Dezember 2021 um 20:03 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2021
Sieht man sich auf amazon.com die Bewertungen der Käufer des hier besprochenen Buches an, fällt der relativ hohe Prozentsatz an Ein-Stern-Urteilen auf. Mehr als 30 Prozent entschieden sich dafür, dem Buch die schlechteste aller möglichen Noten zu geben. Der Großteil davon gibt als Grund nicht etwa den Text an, sondern bemängelt die Herstellung des Buchs an sich. Der Buchblock habe sich vom Einband gelöst, der Buchkern sei aufgebrochen. Warum der Verlag eher eine günstigere Herstellungsweise einkalkuliert haben könnte, ist aber vielleicht ironischerweise an genau diesen Bewertungen abzulesen. Auf amazon.com haben das im April 2021 erschienene Buch 18 Käufer, auf amazon.de um sechs weniger bewertet. Wünschen darf man sich viel, auch teuer produzierte Bücher, aber Verlage müssen die finanziellen Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer absetzbaren Auflage im Auge behalten. Früher oder später werden Fachbücher wie diese vielleicht nur mehr digital angeboten. Der Preis wird dann nicht wesentlich tiefer liegen.
Doch wie kam es zur Entstehung des vorliegenden Werks? Im Jahr 2018 entwickelte man im Verlagshaus Rowman & Littlefield den Plan, die bestehende Enzyklopädie-Reihe mit einer Ausgabe über Stephen Sondheim zu erweitern, und auf der Suche nach einem Autor kam man auf den Theaterkritiker und Musikjournalisten Rick Pender. Er hat von 2004 bis 2016 mehr als 40 Ausgaben des Magazins »The Sondheim Review« als Herausgeber und Chefredakteur betreut und nach dessen Einstellung (ohne Erfolg) versucht, mit »Everything Sondheim« ein Online-Nachfolgemodell zu etablieren. Pender glaubte anfangs, man wolle ihn als Herausgeber verpflichten und ihm die Aufgabe übertragen, die Beiträge aller engagierter Autoren zu einer Einheit zu formen, doch der Verlag machte ihm rasch klar, dass man aufgrund des begrenzten Budgets nur einen Autor verpflichten wolle, nämlich ihn. In seinem Autorenvertrag fand sich unter dem Punkt »geplanter Umfang« folgende Angabe: 300.000 Wörter. Das gedruckte Buch umfasst 638 Seiten, Pender arbeitete daran zwei Jahre.
Nicht unwesentlich bei diesem Projekt ist die Frage, ob Sondheim selbst involviert war. Hier meinte Pender in einem Radiointerview, er habe sich an die drei Mantras Sondheims gehalten (die er auch im Buch beschreibt): 1. »Content Dictates Form.« 2. »Less Is More« und Punkt 3: »God Is in the Details.« Letzterem folgend habe er den Komponisten gebeten, den ausführlichen biografischen Beitrag zu lesen und zu korrigieren. Für weitere Detailfragen stand Sondheim dem Autor per Mail zur Verfügung und antwortete meist innerhalb von 24 Stunden.
Das Nachschlagewerk ist alphabetisch in 133 Einträge gegliedert. Pender hatte ursprünglich mehr als 200 Einzelbeiträge in seinem Konzept vorgesehen, aber, um wieder auf die einleitenden Sätze Bezug zu nehmen: Der Verlag ersuchte um Reduktion (in dem Fall wohl eher nicht auf Sondheims Mantra »Less Is More« anspielend).
Natürlich findet man in Penders Buch ausführliche Darstellungen aller 18 großen Sondheim-Musicals (aber eben nicht einiger kleinerer Werke), man findet Biografien der wichtigsten Darsteller, Regisseure, Designer und weiterer wesentlichen Personen in der künstlerischen Umsetzung von Sondheims Werk (zum Beispiel auch ein Kapitel über Barbra Streisand). Es werden essenzielle Lieder aus den Werken näher beleuchtet, wie etwa »Children Will Listen«, »Not a Day Goes By« oder »Sooner or Later«. Als Hauptquellen benützte Pender die rund 80 Ausgaben der »Sondheim Review« sowie jene Bücher, die bisher über Sondheim erschienen sind, sowie Radio- und Zeitungsinterviews. Für die Songanalysen erarbeitete er Zusammenfassungen der von Mark Eden Horowitz für »The Sondheim Revue« verfassten Reihe »Biography of a Song«. Am Ende jedes Eintrags liefert der Autor stets eine Liste seiner Quellen.
Was der Verlag sich wünschte, war ein Standardwerk. Hauptzielgruppe von Rowman & Littlefield sind bei dieser Enzyklopädie Universitäten und Bibliotheken – ebenfalls ein Grund für die Preisgestaltung. Penders Aufgabe war es also, ein fundiertes und auf seine Richtigkeit überprüftes Werk zu schaffen, das man als erste Anlaufquelle in Sachen Sondheim verwenden kann, und gleichzeitig eine Fülle an weiterführenden Tipps anzubieten. Das ist rundum gelungen.
Neben den Haupteinträgen erarbeitete Pender eine Reihe von, wie er es in einem Interview bezeichnet hat, »Sidebars«. Zum Beispiel eine Liste von Lieblingsfilmen des Komponisten (kompiliert aus Gesprächen mit Sondheim und diversen anderen Quellen). Nicht fehlen darf eine halbe Seite zu den Lieblingsbleistiften Sondheims (Blackwing, und zwar das Modell »slate-gray 602«): »Blackwings are special pencils that Sondheim preferred because of their very soft lead, which makes them not only easy to write with (although extremely smudgy) but also encourages the user to waste time repeatedly sharpening them, since they wear out in minutes.« Auf knapp sechs spannenden Seiten beleuchtet Pender im Spiegel einer Fülle von Zitaten Sondheims ambivalentes Verhältnis zur Oper. Sondheim: »Opera isn’t primarily about storytelling, therefore I get impatient, although part of me knows I shoudn’t.«
Weitere »Sidebars«: »Contributions to Works by Others, »International Productions«, »Juvenile Works«, »Libraries and Archives«, »Lyric Studies«, »Movie Musicals« oder auch »Musical Likes (and Dislikes). In einem eigenen Kapitel wird Sondheims Liebe zu »Puzzles, Games, and Mysteries« untersucht, Weggelegtes in »Unproduced and Abandoned Projects« behandelt. Ein eigenes Kapitel widmet Pender der TV-Serie »Topper«: Nach dem College versuchte sich der junge Sondheim in Hollywood als Drehbuchschreiber. Im Sommer 1953 machte Oscar Hammerstein II ihn auf einer Dinnerparty mit George Oppenheimer bekannt. Der bekannte Drehbuchautor hatte gerade den Auftrag für eine Pilotfolge der Serie »Topper« erhalten und suchte einen »assistant writer«. Für 300 Dollar die Woche arbeitete Sondheim gemeinsam mit Oppenheimer an einigen Folgen der Serie. Auch das eine von vielen spannenden Geschichten, die Pender für seine sehr empfehlenswerte Enzyklopädie eigens recherchiert hat.
Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia. Rowman & Littlefield, Lanham 2021. ISBN 978-1-5381-1586-2. $ 135,00. www.rowman.com
Martin Bruny am Samstag, den
2. Oktober 2021 um 14:26 · gespeichert in Musical, Rezensionen, Bücher, 2021
Vorliegendes Buch ist eine Zusammenstellung von Beiträgen, die für ein Symposion erarbeitet wurden, das 2017 in Freiburg stattfand. Etwas allgemeiner formuliert war der Anlass für den Band der Umstand, dass die Geschichte der Kunstform Musical (und der Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist.
Ein paar Bemerkungen zu dieser grundlegenden Problematik am Beispiel Österreich: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. Berücksichtigte man jene Bände nicht, die in Zusammenarbeit mit Theatern (oft in gewisser (finanzieller) Abhängigkeit) erscheinen, es bliebe praktisch nichts übrig. Die letzten beiden Jahrzehnte sind unbeleuchtet. Die Gründe? Zum Beispiel der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden daher immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Symptomatisch der Titel einer aktuellen Diplomarbeit zum Thema: »Wien 1970–2000: eine Musicalmetropole?« (Jasmin Kofler, 2020). Die letzten beiden Jahrzehnte werden gar nicht berücksichtigt, der Rest infrage gestellt. Als Einleitungszitat steht eine Sentenz aus »Schikaneder« – einer Show, die nicht in den Untersuchungszeitraum fällt. Was fehlt, sind Erzählerpersönlichkeiten. Marcel Prawy war ein Botschafter der Oper, Operette und des Musicals. In seiner Nachfolge hat Christoph Wagner Trenkwitz eine Aufarbeitung der Geschichte des Musicals an der Volksoper in Angriff genommen. Sein Buch »Musical an der Wiener Volksoper« behandelt die Geschichte des Hauses bis 2007. Die Geschichte des Musicals am Theater an der Wien wurde von Peter Back-Vega, Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien, bis zum Jahr 2008 in einem Band bearbeitet. – Einzelpersönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren, was Bücher betrifft, nicht mehr der Musicalgeschichte gewidmet haben. Wen wundert es also, dass wir von der Musicalgeschichte anderer Länder, etwa den osteuropäischen, noch weit weniger wissen als von unserer eigenen.
Die Situation im Deutschland ist etwas anders, hier gibt es eine Erzählerpersönlichkeit: Wolfgang Jansen. 2008 veröffentlichte er mit »Cats & Co« seine »Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Raum«, bei Recherchen für einen geplanten Nachfolgeband zur Geschichte des Musicals in der DDR stellte sich ihm eine grundlegende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, die Geschichte des Musicals in der DDR abgelöst vom politischen, gesellschaftlichen System, in dem es sich entwickelte, zu schreiben? Hat das DDR-Musical eine singuläre Stellung oder ist es nur im Rahmen der allgemeinen Entwicklung des Genres im kommunistischen Osteuropa nach 1945 zu verstehen? Aufgrund der Sprachbarrieren war es Jansen nicht möglich, in einem zufriedenstellenden Ausmaß an Datenmaterial zu bekommen. So entstand die Idee zu einem Symposion mit dem Thema: »The development of operettas and musicals after 1945 unter the social and ideological conditions of socialism in the East European countries.« Die Hauptfragestellungen: »Did the uniform (prescribed) worldview lead to identical plays, or are there – in spite of transnational ideology – national specific differences? Were there specific aesthetic phases of national development? What influence did the import of works from abroad, from the fraternal socialist countries, or the capitalistic West have on the national production? Were there any governmental guidelines for authors and composers? When and under what conditions changed the repertoire to the musical? Which social, cultural and political value was measured by the state to the popular musical theatre? Who were the most important authors and composers? Was there a socialist operetta, a socialist musical, and what political, social and ideological issues were negotiated in the form of popular musical theater on stage.«
Beiträge von 14 Forscherinnen und Forscher aus der Sowjetunion, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Deutschland (für die ehemalige DDR) sind im vorliegenden englischsprachigen Band publiziert. Schwerpunktmäßig konzentriert sich das Buch auf Ungarn (83 Seiten) und die DDR (65 Seiten). Der Theaterhistoriker Gyöngyi Heltai etwa berichtet über die Rolle, welche ab den 1960ern dem Budapester Operettentheater im Rahmen der ungarischen Außenpolitik und Kulturdiplomatie zugewiesen wurde – bis in jüngste Gegenwart. Als etwa am 31. Mai 2011 die ungarische EU-Präsidentschaft mit einer offiziellen Schlussveranstaltung ausklang, ging im Bukarester Operettentheater eine zweisprachige Aufführung von Gà©rard Presguvics »Romeo & Julia« über die Bühne. Romeo sang auf Rumänisch, Julia auf Ungarisch. Diplomaten aus 40 Ländern besuchten die Produktion des Budapester Operettentheaters, die die negativen Auswirkungen von ethischen Konflikten zeigen sollte. Derartige Events des Operettentheaters fanden auch in Italien und England statt.
Pavel Bà¡r berichtet von der ersten Musical-Premiere in der Tschechoslowakei: »Finian’s Rainbow« (in einer bearbeiteten Version mit dem neuen Titel »Der wuntertätige Topf«), Anfang März 1948, nur wenige Tage nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948. Es war gleichzeitig die letzte Produktion eines amerikanischen Musicals bis 1963: »Kiss Me, Kate«. Allerdings kamen ab Ende der 1950er-Jahre Werke aus der DDR und Italien zur Aufführung. Zu einem völligen Neubeginn, so Bà¡r, kam es nach der »Samtenen Revolution« vom November 1989: »… the centrally planned economy was transformed into a capitalist system, and the transformation was naturally also reflected in the theatre culture: free private theatre business could return to the theatre system after more than 40 years. The previously unchanging theatre network, which was controlled by the state, started to change. In the summer of 1992, Adam Nà³vak, the first Czechoslovak musical producer, staged the famous Les Misà©rables. Thanks to the co-production with Cameron Mackintosh, this first production introduced Czechoslovak theatre to new qualities and foreign experience […]« Dieses Buch versammelt spannende Analysen, Geschichten, Daten und Fakten. Allein der Anmerkungsapparat vieler Artikel ist ein wertvoller Fundus. Unter musicallexikon.eu finden sich online (»Musicals nach Ländern geordnet«) ergänzende Angaben zum Kapitel DDR. Lesenswert.
Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism. Operettas and Musicals in the Eastern European States 1945 to 1990. Waxmann, Münster 2020. ISBN 978-3-8309-4248-1. € 34,90. waxmann.com
Martin Bruny am Montag, den
24. Mai 2021 um 08:27 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2021
Lange hat sich Eddie Shapiro Zeit gelassen für den Nachfolgeband der 2014 erschienenen Interviewsammlung »Nothing Like A Dame – Conversations with the Great Women of Musical Theater«. Scherzhaft erzählt er in Interviews gerne, dass die Arbeit an diesen beiden Büchern so lange gedauert habe, weil es so schwierig gewesen sei, Termine mit den Darstellern zu vereinbaren. Und dann so zeitaufwendig, die jeweils mehrere Sessions umfassenden und bis zu 14 Stunden dauernden Gespräche, die bei den Künstlern zu Hause stattfanden, zu verarbeiten. Die Arbeit an »A Wonderful Guy – Conversations with the Great Men of Musical Theater« begann Shapiro 2016, seit ein paar Wochen ist der Band am Markt, und als Leser hat man diesmal mit der Zusammenstellung der Interviewpartner ein noch größeres Problem als schon 2014 bei den Damen. Natürlich ist die Riege der 19 Männer, die hier in Interviewform porträtiert werden, herausragend: Joel Grey (89), John Cullum (91), Len Cariou (81), Ben Vereen (74), Michael Rupert (69), Terrence Mann (69), Howard McGillin (67), Brian Stokes Mitchell (63), Marc Kudisch (54), Michael Cerveris (60), Norm Lewis (57), Will Chase (50), Christopher Sieber (52), Norbert Leo Butz (54), Christian Borle (47), Raàºl Esparza (50), Gavin Creel (45), Cheyenne Jackson (45) und Jonathan Groff (36). Wer könnte sich da beschweren? Nichtsdestotrotz beträgt, um es ein wenig plump auf eine Zahl runterzubrechen, ihr Durchschnittsalter 61 Jahre. Der Autor spricht dies im Vorwort auch direkt an: »The primary prerequisite was that all the men in this book have a robust and ongoing career in musicals. Theater had to be the thing for which they are best known. There are fantastic performers who have done extraordinary work in musicals, but Broadway isn’t their primary residence (Hugh Jackman, Alan Cumming, Neil Patrick Harris). There are other greats who contributed more significantly as creators than performers (Tommy Tune, Lin-Manuel Miranda, Harvey Fierstein). And there are excellent working actors who may not yet have had the opportunity to shine as leading men, or to do quite as many shows (I love you, Ben Platt, but the list of shows we’d be able to discuss is a short one – at least as of this writing).« Ja, so kann man das sehen. Einen Mangel an Fragen, die man Ben Platt stellen könnte, würde man aber dann doch eher dem Autor anlasten wollen Und sind Jonathan Groff und Cheyenne Jackson tatsächlich noch vor allem aufgrund ihrer Karriere am Theater bekannt? Natürlich muss man berücksichtigen, dass eine Reihe an Broadwaystars kein Interesse hatte, interviewt zu werden (etwa Nathan Lane). Wie auch immer: Um auch einen Blick auf die ganz junge Generation zu bieten, hätte es nicht geschadet, etwa Wesley Taylor, Jeremy Jordan oder Jay Armstrong Johnson ins Gespräch zu holen.
Doch bleiben wir bei Jonathan Groff. Hat man das Interview mit ihm gelesen, ist es klar, warum er von Shapiro gewählt wurde und warum er am Cover abgebildet ist. Er mag zwar TV-Hitshows haben und ja, eine Rolle im programmierten Blockbuster »Matrix 4« (läuft ab Dezember 2021 in den Kinos), doch: »… his heart, says Groff, belongs to the theater. Even when I was doing the TV show, Boss, in Chicago, he tells me excitedly, I hired Sutton Foster’s understudy to teach me the tap dance from Anything Goes, which he performed at a benefit. In my world, in my mind, and in my heart, I am always thinking about theater.«
Sehr anschaulich beschreibt Shapiro in seinen Intro-Texten zu den Interviews die jeweiligen Settings, in denen die Gespräche stattgefunden haben (und wann sie geführt wurden), er bietet einen kurzen Überblick über das Schaffen seiner Gesprächspartner und ist dann bemüht, Highlights, aber auch persönliche Krisen anhand ihrer Arbeit herauszuarbeiten, indem er kurze Fragen stellt und hofft, dass die Leute etwas zu sagen haben und ins Reden kommen. Perfekt vorbereitet ging der Autor in seine Gespräche, eine bemerkenswerte Empathie ist aus seinen Fragestellungen abzulesen.
»A Wonderful Guy« ist voller wundervoller Geschichten. Etwa wenn Raàºl Esparza über seine Arbeit mit Stephen Sondheim an einem Song (aus »Sunday in the Park with George«) erzählt: »He was so specific with his notes and nothing seemed to be right. But I began to realize that everything he was working on with us was like opening a series of doors into the play. One idea after another after another was being released by tiny things, like, When these two notes happen in the orchestra, you’re changing brushes. It’s a new color. When this diminuendo occurs between them, it’s their whole relationship in one breath. They begin to sing loudly to each other and then they fade away. It’s not finished yet. The second time you say the word look it means something different and beautiful because you’re talking about change, and you’re talking about the passage of time.«
Offenheit zeichnet die Gespräche durch die Bank aus. Existenzielle Probleme werden schonungslos thematisiert. Etwa von Norbert Leo Butz, der 2001 zwei Broadway-Shows nacheinander hatte, die nach wenigen Wochen schließen mussten (»Thou Shalt Not« und »The Last Five Years«), der sich noch dazu zu jener Zeit in Scheidung befand und doch nur zögernd, nachdem er eine Audition abgelehnt hatte, eine Rolle in »Wicked« übernahm. Schon allein worauf er sein Engagement zurückführt, ist kurios: »And frankly, I think I got it because Kristin is so tiny and I’m only five seven. It would be hard to cast somebody who’s six foot two next to Kristin. So I did it.« Seine nüchterne Einschätzung dieser Erfahrung: »Personally, obviously, I was going through hell. But in the process I was really unhappy. They had such a difficult time trying to figure out what the play was and what it was about. The supporting roles got lost in the shuffle. I remember feeling hamstrung and like it wasn’t good enough material to work on. I was wanting more and I was wanting to make more of an impression on the play and to make it deeper. One of the producers joked to me, Who cares? It’s all about the girls, but I realized he was right. And the creative team had some differences of opinion about the way that it should go. So as an actor, it wasn’t completely fulfilling. But I was so grateful to have a paycheck. It just saved my butt. I kept thinking I was going to be fired any week. People were getting fired left and right from [the tryout in] San Francisco. I was so grateful when they kept me for New York.«
Shapiro ist schon an Band 3 der Buchserie dran. Geplanter Titel: »It Takes A Woman«. Darauf kann man sich freuen.
Eddie Shapiro: A Wonderful Guy. Conversations with the Great Men of Musical Theater. Oxford University Press, New York 2021. ISBN 978-01-909298-9-3. $ 39,95. global.oup.com
Martin Bruny am Samstag, den
24. April 2021 um 08:23 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2021
Aus nichts lernt man mehr als aus Fehlern. Stephen Purdy, Mitglied der Musical Theatre Faculty am Marymount Manhattan College in New York City, bietet unter dem Motto »How they happened, when they happened (and what we’ve learned)« eine ganze Reihe von Fehleranalysen, in diesem Fall auf dem Gebiet des Musicals. Die untersuchten Shows: »Spider-Man: Turn Off the Dark«, »Lestat«, »Urban Cowboy«, »The Pirate Queen«, »Rocky«, »King Kong«, »Escape to Margaritaville«, »Glory Days«, »Bullets Over Broadway« und »Dance of the Vampires«. Der Autor geht wie ein Detektiv an die Sache ran: «In this book, I don’t intend to offer a wholesale take on how the shows could have been fixed. If the most astute minds of the theatre couldn’t figure out how to have made these shows run on Broadway, then I certainly cannot. Instead, here I am keen to reveal what the ill-fortune of these shows may be able to teach us by discovering what went wrong along the way.« 13 Seiten der insgesamt 108 sind »Dance of the Vampires« gewidmet. Zum Einstieg formuliert Purdy eine recht blumige Beschreibung der VBW-Produktion: »With Tanz der Vampire (…) Austrian and German audiences got what they craved in the Wagnerian operatic sense, which, to wit, was through-composed, other-worldly, and possessed a certain mythical grandeur. With this in mind, to comprehend the true reality of the scope of the changes made to the production for the Broadway outing, one must recognize the specificities of the style that appeared in the German production, which one might classify in an era obsessed with labeling something like grand pop-opera. But when you give ’em what they want, you may be richly rewarded. Tanz der Vampire surely was. The stagecraft alone, that is to say the physical production, was likely enough to bring those who might find that the story was exasperating into the theatre to have a look. Big-budget sets and effects were aplenty and abundant enough to rival the visuals of the great European opera houses. Side by side with other operatic conventions like quintets that brought to mind those of the great opera makers of the 19th century and lovers whose togetherness was imperiled by other-worldly shenanigans, the show was a brazen example of the intertwining of musical theatre and operatic sensibilities – vampire style.«
Purdys flott geschriebene Einschätzung basiert auf bekannten Fakten, ist aber leicht unterfüttert mit Gerüchten, etwa in Bezug auf das tragische Ende von Steve Barton: »Steve Barton, the actor who had been promised the role for New York, was found dead the day after the announcement was made public that Crawford would play the role in what was rumored (although not substantiated) to be a suicide.«
Bahnbrechend neue Erkenntnisse darf man sich in diesem Buch generell nicht erwarten, aber eine gut geschriebene Zusammenschau wesentlicher Meilensteine zu einem gelungenen Musical-Misserfolg.
Stephen Purdy: Flop Musicals of the Twenty-First Century. How They Happened, When They Happened (And What We’ve Learned). Routledge, New York 2020. 108 S.; (Hardcover) ISBN 978-036717331. $ 150,–. routledge.com
Martin Bruny am Mittwoch, den
24. März 2021 um 08:20 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2021
Mit diesem Band hat Dan Dietz seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« weiter ausgebaut – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2010er-Jahren geschlossen vor. Wer alle zehn Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5620 Seiten zu einem Preis von rund 1440 US-Dollar.
In diesem Band behandelt Dietz 240 Shows, die am Broadway vom 1.1.2010 bis 31.12.2019 Premiere hatten. Eine kleine Unschärfe zieht sich durch die Buchreihe: Inkludiert sind neben Musicals auch verwandte Genres. Für die 2010er-Jahre sind erfasst: »sixty-one book musicals with new music; twenty-nine book musicals with mostly preexisting music; seven operas; two plays with incidental music; four dance musicals; thirty-six shows that fall under such categories as revues, concerts, comedy stands, and the always helpful ‚miscellaneous‘ category (such as the In Residence on Broadway series); eight magic shows; eighteen imports; fifty-two revivals and return engagements; and twenty-three pre-Broadway closings«.
Wie auch in den anderen Bändern versucht Dietz Trends zu isolieren. So war in der 2010er-Dekade die Rückkehr des Book Musicals mit neu komponierter Musik festzustellen. Gab es in den zehn Jahren davor nur 37 Premieren dieser Art, zählte Dietz in den 2010er-Jahren 61. Kleiner Haken dabei: Bei etlichen davon handelt es sich um Musicals, die auf Filmen der 1980er- und 1990er-Jahre basieren. Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er-Jahren liest sich die Zahlenfolge der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37-61.
Die Zahl der Revivals und Wiederaufnahmen ist gesunken, in diese Kategorie fallen 52 Shows (in den zehn Jahren davor waren es 58). So viel zu den Good News. Ein negativer Trend ist die Verdoppelung der Zahl der Musicals mit recycelten Songs, im Wesentlichen also Jukebox-Musicals (15 in den 2000er-Jahren, 29 in den 2010er-Jahren).
Ein interessantes Addendum bietet Dietz, das in die Periode der Corona-Pandemie verweist. Elf Musicals, die in den 2010er-Jahren Premiere feierten, fielen 2020 in die Phase des Broadway-Lockdowns. Sie waren mit Stichtag 15. März nicht abgespielt und warten offiziell darauf, den Spielbetrieb wiederaufnehmen zu können (in Klammer das Premierenjahr/die Zahl der bisherigen Aufführungen): »Ain’t Too Proud: The Life and Times of the Temptations« (2019/407), »Aladdin« (2014/2506), »The Book of Mormon« (2011/3748), »Come from Away« (2017/1251), »Dear Evan Hansen« (2016/1363), »Hadestown« (2019/376), »Hamilton« (2015/1919), »Jagged Little Pill« (2019/112), »Mean Girls« (2019/804), »Moulin Rouge!« (2019/262) und »Tina: The Tina Turner Musical« (2019/143).
Ein üppiger Band, detailreich wie immer mit allen relevanten Statistikangaben zu den angeführten Shows und interessanten Charakterisierungen und Einordnungen in die Musicalhistorie. Eigentlich unentbehrlich.
Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2020. 532 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-2632-5. $ 140,–.rowman.com
Martin Bruny am Mittwoch, den
24. Februar 2021 um 08:18 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2021
Möchte man sich über Broadway-Musical-Flops informieren, greift man für Produktionen bis 1989 zu Ken Mandelbaums »Not since Carrie – 40 Years of Broadway Musical Flops« (1991). Für den Zeitraum ab 1990 bietet sich »Musical Misfires«, das neue Buch von Mark A. Robinson und Thomas S. Hischak an. Es ist mitten in der Pandemie erschienen, und nur als E-Book, was für ein Werk von Hischak ungewöhnlich ist, gilt er doch als einer der renommiertesten Autoren auf dem Gebiet des Showbusiness mit Werken wie »The Mikado to Matilda: British Musicals on the New York Stage« (2020), »Off-Broadway Musicals Since 1919« (2011) »The Oxford Companion to the American Musical« (2008) oder »The Tin Pan Alley Encyclopedia« (2002), um nur einige zu nennen
151 Flops behandeln die Autoren. Vorangestellt: eine Begriffsklärung, was man heute als Flop bezeichnen kann und warum sich die Autoren darauf geeinigt haben, lieber den Alternativbegriff »Misfires« (in etwa Fehlzündung) zu verwenden. Der Begriff Flop habe sich im Lauf der Zeit gewandelt. Früher bezeichnete man Flops als Shows, die aus den verschiedensten Gründen kein Geld eingespielt haben. Da sollte man nun doch differenzierter argumentieren. Geld einzuspielen wurde ab den 1990ern zunehmend schwieriger. Musicals laufen zu lassen, in der Hoffnung, sie würden sukzessive ihr Publikum finden, ist nicht mehr möglich. Erweist sich eine Show nicht als Instant-Hit, war’s das, egal wie die Produktion bei Kritikern abgeschnitten hat. Das Autorenduo plädiert dafür, gefloppte Shows überlegter zu labeln. Es hat andererseits keine Scheu, Kultshows als Flops einzustufen, von denen man es nicht angenommen hätte. Ein Beispiel? »Sunset Boulevard«.
Robinson und Hischak haben ein recht interessantes Repertoire an Kategorien entwickelt, in die sie die von ihnen besprochenen Musical Misfires ablegen. So etwa »What a Horror« (»Dance of the Vampires«, »American Psycho« …), »Too Unique For Broadway« (»James Joyce’s The Dead«, »Head Over Heels« …), »Is There An Audience For This?« (»The Wild Party«, »Marie Christine« …), »Costly Conclusions« (»Rocky«, »The Scarlet Pimpernel«, »King Kong« …) oder auch: »Disguised as Success«, Shows also, die gemeinhin als Erfolg gelten, aber ihr Geld nie eingespielt haben. In dieser Kategorie angeführt: »Passion«, »Victor/Victoria«, »Young Frankenstein«, »American Idiot«, »SpongeBob SquarePants: The Broadway Musical« und »Sunset Boulevard«. Alle diese Shows mögen Erfolge gewesen sein, was Presse und Preise betrifft, doch letzten Endes: Alles nur Illusion, erfolgreich von Marketingabteilungen erzeugt, denn sie haben nie Gewinn gemacht. Im Fall von »Sunset Boulevard«, das sieben Tony Awards gewonnen hat, überraschend. Die Show ist in London, Los Angeles, New York, Kanada und Australien gelaufen, finanziell aber ohne Erfolg? Das Musical gilt doch geradezu als Musterbeispiel der Erfolgsstorys von Andrew Lloyd Webber. Glenn Close trat als Norma Desmond fast 1000 Mal am Broadway auf. Aber genau das mag auch der Grund der finanziellen Misere gewesen sein. Patti LuPone war ursprünglich vorgesehen, nach ihrem Londoner Erfolg als Norma Desmond auch am Broadway damit anzutreten. Für eine Produktion der Show in Los Angeles hatte man einige Zeit davor allerdings einen echten Kinostar engagiert: Glenn Close. Und die kam so phänomenal gut an, dass man LuPone ausbootete. Für Los Angeles engagierte man als Close-Ersatz Filmstar Faye Dunaway, entschied dann aber kurzfristig, die Produktion doch abzusetzen. Das Resultat: Man musste zwei Diven finanziell abfertigen und eine bezahlen. Horrende Kosten, nicht einzuspielen.
Wie immer lernt man von den Geschichten, die Hischak in seine Bücher einbaut, auch einiges. Ab und an begründen die Autoren den Misserfolg der besprochenen Beispiele fast mit einer Art tiefenpsychologischem Ansatz. Zum Beispiel ein Musical der Kategorie »It’s not where you start …« Die Grundthese für diese Kategorie besagt, dass eine Show zwar am Broadway floppen mag, aber dafür in Hunderten Produktionen amerikaweit oder auch weltweit weiterleben kann. Musterbeispiele: »Parade«, »All Shook up«, »Big Fish«, »The Bridges of Madison County«. Und: »Finding Neverland«. Hier wird der Misserfolg auf die Eskapaden eines Neulings im Musicalbusiness zurückgeführt, der mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen die Broadway-Community vor den Kopf gestoßen hat. »Finding Neverland« feierte 2011 am La Jolla Playhouse Premiere, 2012 in England. Und dann kam er an Bord: Harvey Weinstein, erfolgreich und mittlerweile berüchtigt. Seine Entscheidungen im Kurzdurchlauf: Er tauschte das Kreativteam, und er tauschte Jeremy Jordan gegen den damals durch »Glee« gerade populären Matthew Morrison. Als die Show 2015 am Broadway an den Start ging, waren die Kritiken mau, Tony-Nominierungen blieben aus. Gegen die Tradition, Tony-Jurymitglieder zur Show einzuladen, zog Weinstein beleidigt die Einladungen zurück. Weinsteins Verhalten wäre vielleicht ein gutes Fallbeispiel für eine Neuauflage des Bestsellers »Die Macht der Kränkung« des Psychiaters Reinhard Haller.
Frank Wildhorn kommt natürlich mehrere Male mit seinen Versuchen, am Broadway Erfolge zu landen, im Buch vor. Interessant sind hier die kleinen FunFacts, die Hischak, einstreut. Als »Bonnie & Clyde« 2012 nach nur 36 Vorstellungen abgesetzt wurde (aus Gründen, die ausführlich im Buch besprochen werden), sah es so aus, würde es nicht einmal zu einer Cast CD kommen: »When it looked like no original cast recording was forthcoming, members of the cast, crew, creative staff, and even the ushers pooled their money to pay for a cast recording. Broadway Records was founded to release the recording. Almost immediately productions of Bonnie & Clyde started appearing internationally […]. In the States, the musical has found a home in regional theatres, summer stock, community theatres, and schools. It seems there is an enduring and widespread fascination with Bonnie Parker and Clyde Barrow. This romantic musical about their tragic lives will likely continue to benefit from that fascination.«
Hunderte kleine Geschichten, verpackt in eine Historie der Musical-Flops ab 1989. Sehr empfehlenswert.
Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires. Three Decades of Broadway Musical Heartbreak. Bookbaby Publishers, 2020. (eBook) ISBN 978-1-0983293-1-0. $ 28,27,–. bookbaby.com
Martin Bruny am Sonntag, den
24. Januar 2021 um 08:10 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2021
Wolfgang Jansens Biografie des Autors und Komponisten Willi Kollo birgt einige Wahrheiten, die abgesehen vom Thema, um das es eigentlich in dem vorliegenden Buch geht, ganz allgemein gelten. Wahrheit, damit sind Journalisten, Autoren oder auch Experten nicht selten konfrontiert, wird oft als Bedrohung aufgefasst. Jemand, der nach Wahrheit oder auch nur kritischer Distanz strebt, wird bisweilen mit Entschiedenheit bekämpft und/oder diskreditiert.
Die wichtigste Passage in Wolfgang Jansens Buch findet sich auf den Seiten 332 und 333: »Ein gutes Image des Produkts und des Komponisten oder Autors ist bei der erfolgreichen, langfristigen Platzierung von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dabei folgen die Beteiligten dem Grundsatz: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Insofern ist die Neigung verbreitet, Misserfolge, die zwangsläufig immer wieder in künstlerischen Prozessen auftreten, nach einigen Jahren zu übergehen oder umzudeuten. Wahrheit ist dabei im Zweifelsfall keine Kategorie, der man sich verpflichtet fühlt. Und kommen Lebensbeschreibungen auf den Markt, dann haben diese die Erfolge des Porträtierten darzustellen. Sachliche, distanzierte oder gar wissenschaftlich-kritische Biografien mögen bei historischen Persönlichkeiten oder Politikern angemessen erscheinen, im Sektor der populären Kultur gelten sie als kontraproduktiv.«
Willi Kollo (1904–1988), das eigentliche Thema des Buches, dient Jansen als Spiegel, um die Folgen des Aufschwungs, die das Theater ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionierten, zu illustrieren. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand eine Infrastruktur, die dem Theaterleben eine bis dahin unvorstellbare gesellschaftliche Breite verlieh. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1869 konnte jeder Staatsbürger ohne Einschränkung eine Spielstätte errichten. Die Zahl der Bühnen nahm sprunghaft zu, ein neuer Markt entstand, Bedarf nach Schauspielern, Sängern, Musikern etc. Ab 1900 kam es zur Gründung angesehener, privatfinanzierter Theaterschulen. Der Markt für dramatische Werke explodierte, neue Gattungen eroberten den Markt. Operette, Varietà©, Revue, Extravaganza, Feerie, Cafà©-concert, Kabarett. Eine komplette neue Branche entstand: Direktoren, Agenten, Verleger, eine neuer Typ von Darsteller und Komponist. Dynamisiert wurde diese Entwicklung durch die Erfindung der Schallpatte in den 1890er-Jahren und die Filmindustrie, den Rundfunk und das Fernsehen.
Willi Kollo war der Sohn des Operettenkomponisten Walter Kollo. Er begann seine Karriere in den 1920er-Jahren als Liedautor, bald schon komponierte er Schlager, Stücke für Revuen, das Kabarett, die Operettenbühne. Er trat als Interpret auf, nahm als Sänger Schallplatten auf, komponierte für den Film. Kollo war Theater- und Filmproduzent eigener Werke, Regisseur und musikalischer Leiter an selbst gegründeten Theatern, leitete einen Musik- und Bühnenverlag, und es gibt auch einen direkten Musicalbezug: 1959 brachte Kollo in einem kleinen Saal im ersten Stock der ehemaligen Vorderfront des Berliner Großraumvarietà©s Scala das Werk »Wer hat Angst vor dem starken Mann?« heraus und bezeichnete es als »Musical«. Über dem Eingang des Theaters war ein Schild mit der Aufschrift »Berlins erstes Musical-Theater« angebracht. Musical in Deutschland hatte damals, so Jansen, das Image von Modernität, Jugend und Zukunft. Kollo bewarb sein Stück als Musical das »nicht nur ins Ohr eingehen und erheitern, sondern auch politisieren solle«. Die Produktion floppte, nach sechs Wochen holte Kollo ein Kabarettgastspiel ins Haus.
Es gibt viele verschiedene Herangehensweisen, die Biografie eines Menschen in Buchform aufzubereiten. Will man am Markt reüssieren, bietet sich etwa der Anekdoten-Bildband an oder gleich der Bildband mit einigen Anekdoten. Wolfgang Jansens Biografie kommt ganz ohne Bilder aus. Abbildungen reißen in die Kalkulation von Buchprojekten oft ein großes Loch. Sich dagegen zu entscheiden, ist legitim, wenn und in diesem Fall: da der Text die nötige Qualität hat. Das Buch ist, obgleich leicht und spannend zu lesen, ein Fachbuch mit exakter Zitierung, akribisch zusammengestelltem Quellenverzeichnis, transkribierten Dokumenten am Ende jedes Kapitels, Literaturliste, Werkverzeichnis, Discografie und Register.
Um jetzt aber den Bogen zu schließen und zum Thema Wahrheit zurückzukehren. Dieses Buch beruht auf Arbeiten, die großteils in den Jahren von 1991 bis 1994 durchgeführt wurden. 1994 war ein Buchverlag gefunden, der Vertrag unterschrieben. Als der Autor sein Manuskript zur Freigabe an die Familie Willi Kollos schickte, war die Reaktion »ablehnend, heftig und kompromisslos. Ohne ein Gespräch zu suchen, ließ man mich durch eine angesehene Rechtsanwaltskanzlei wissen, dass man die Publikation des Textes verhindern werde«. Der Alptraum für einen Autor und einen Verlag. Die Angelegenheit landete vor Gericht, zwei Jahre später wurde der Text »im Namen des Volkes« zur Publikation freigegeben. Da machte der Verlag einen Rückzieher. Erst 1997 erfuhr Jansen, was die Familie am Text gestört hatte. Er war, um das Ganze abzukürzen: zu »wahr« und verschwieg nicht die Zeit des Nationalsozialismus. Jansen: »Lieber verzichtet man also auf jede Biografie, als widerstandslos zuzusehen, wie ein Buch erscheint, das nicht der Verwertungsmaximierung dient. Offensichtlich war meine erste Textfassung in diesem Sinne nicht marktgeschmeidig genug.« 2020 liegt der Text nun endlich in Buchform vor. Das Resümee kommt diesmal aus der Bibel: »Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbieten.« (5. Mose 25, 4) Wahrheit setzt sich am Ende durch.
Wolfgang Jansen: Willi Kollo. Autor und Komponist für Operette, Revue, Kabarett, Film und Fernsehen. 1904–1988. Waxmann, Münster 2020. 394 Seiten. (Softcover) ISBN 978-3-8309-3995-5. € 39,90. waxmann.com
Martin Bruny am Montag, den
21. September 2020 um 07:38 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2020
Das vorliegende Buch ist nicht zuletzt aufgrund eines Ereignisses entstanden, das am 18. Dezember 2020 in den USA und bereits am 17. Dezember in Deutschland stattfinden soll. Wenn die Pandemie es zulässt, wird an diesen Tagen die Neuverfilmung der »West Side Story« Steven Spielberg (Regie) und Tony Kushner (Drehbuch) die Lichtspieltheater erreichen. Das Ganze wird anders ablaufen als gewohnt. Noch kann man zum Beispiel nicht abschätzen, welche Teile der USA tatsächlich »bespielt« werden können. In Anspielung auf den Begriff Cinemascope haben US-Medien lakonisch den Begriff Coronascope geprägt. Spielbergs Film ist nun nicht einfach einer von mehreren programmierten Blockbuster-Hits der Weihnachtszeit, die Medien reihen ihn in die Gruppe jener Streifen ein, die in der Lage sein könnten, »Hollywood [finanziell] zu retten«. Die Dreharbeiten konnte das Coronavirus zumindest nicht beeinflussen, die waren im Oktober 2019 abgeschlossen. Die Message, mit der Spielberg den Film ins Rennen um die Zuschauergunst und die Oscars schickt, ist formuliert: »This story is not only a product of its time, but that time has returned, and it’s returned with a kind of social fury. I really wanted to tell that Puerto Rican, Nuyorican experience of basically the migration to this country and the struggle to make a living, and to have children, and to battle against the obstacles of xenophobia and racial prejudice.« Das Branchenblatt »Variety« sagt für die »West Side Story« derzeit mögliche Oscarnominierungen in neun Kategorien voraus, was auch immer man von solchen frühen Prognosen halten mag. Was feststeht, sind die Daten des Originals aus dem Jahr 1961: Der Film lief buchstäblich jahrelang in den Kinos, brachte 44 Millionen Dollar Einspielergebnis und zehn Oscars. Leicht wird es die Neuverfilmung nicht haben, denn am 18. Dezember starten auch: »Coming 2 America« (Eddie Murphy), »Dune« (Timothà©e Chalamet) und vor allem: »The Father« mit Anthony Hopkins und Olivia Colman, laut »Variety« ein heißer Kandidat für eine Vielzahl an Oscarnominierungen.
Richard Barrios widmet der Neuverfilmung in seinem Buch zwar nur wenige Seiten, bietet aber interessante Überlegungen, etwa, was die erste Verfilmung so einzigartig macht und eine Neuverfilmung nie erreichen kann: »In 1961, West Side Story was, for all but those who had seen the show, an unknown quantity. Perhaps they knew the music, but there were many millions of people who went to see it and were all but unprepared. What did those audiences feel? The film was so immediate and audacious that its impact was probably like that legendary early movie screening when the spectators in the first rows leaped from their seats to avoid being run down by the train they saw barreling toward the camera. With the poetry and tragedy of the love story, the emotional and physical violence of the conflict, and the constant momentum of the music and dance, this was new, all new. An audience seeing West Side Story in 2020 is carrying far different baggage, both going to the movie theater and then departing it. For one thing, the basic material is far more familiar than it was when the first film opened; everyone, essentially, knows West Side Story now. And, among the millions who know and love the original film, apprehension and suspicion about a new version are likely.« Kein Wunder, dass der Drehbuchautor der Neuverfilmung Tony Kushner schon im Vorfeld meinte: »Regardless of merit or quality, a film can be remade, but it cannot be replaced.« Carole D’Andrea, die in der Broadway-Produktion als Velma zu sehen war: »It is so wonderful they are giving a new generation a chance to make and experience this beautiful classic.«
Aber die heiße Phase der Filmpromotion steht erst bevor, Bücher über die Neuverfilmung werden eventuell noch erscheinen. Barrios konzentriert sich in erster Linie auf den Film von 1961 und auf die erste Broadway-Produktion. Sein Werk ist eine Fundgrube an Geschichten und Fakten und nicht zuletzt auch an Fun Facts. So kosteten etwa Tickets für die Broadway-Produktion der »West Side Story« 1957 zwischen 2,50 und 8,05 Dollar (für die 2020er-Produktion zahlt(e) man zwischen 49 und 299 Dollar). Für die Filmrechte bezahlten die Produzenten bescheidene 350.000 Dollar. Nur wenige Jahre später wechselten für die Rechte an »My Fair Lady« 5,5 Millionen Dollar die Besitzer. Der Grund dafür? Geringe Erwartungen an die verfilmte »West Side Story«, immerhin lief die erste Broadway-Produktion weniger als zwei Jahre (732 Vorstellungen), »My Fair Lady« dagegen mehr als sechs (2712 Vorstellungen). Leonard Bernstein und Stephen Sondheim akzeptierten in ihren Verträgen einen Paragrafen, der besagte, dass sie für (zusammen) 7500 Dollar drei neue Songs für den Film schreiben würden, sofern das die Produzenten wünschten. Das Produktionsbudget für den Film betrug am Beginn fünf Millionen Dollar.
Detailliert schildert der Autor den Entstehungsprozess des Films, etwa die anstrengenden Tanzszenen. »The dancers spent hours, days even, down on their knees, and found to their great pain that the knee pads they wore offered precious little protection. Finally, after the directors ordered ‚Print‘ for the last time, they gathered up those pads for a ceremonial bonfire. […] the blaze occurred in front of [Jerome] Robbins’s office.The aching knees, sore muscles, and pneumonia were not isolated cases by any means. Susan Oakes’s knee was punctured by a nail when she jumped down onto the floor, and there were countless torn ligaments, sprains, shin splints, scrapes, and burns, as well as dehydration and mononucleosis.«
Kleines Detail am Rande: Der Designer des Logos der »West Side Story«, also der Kombination aus Schrift, Stiegen und stilisierten Tänzern, stammt von Joseph Caroff, einem Künstler des Grafikgewerbes, der später mit seinem Design des 007-Logos der James-Bond-Filme in die Geschichte einging.
Richard Barrios: West Side Story. The Jets, the Sharks, and the Making of a Classic. Turner Classic Movies, Inc. / Running Press. Hachette Book Group, New York 2020. 232 Seiten. (Hardcover) ISBN 978-0-76-246948-2. $ 28,00. runningpress.com
PS: Aufgrund der Pandemie-Dynamik wurde der Premierentermin auf Ende 2021 verschoben.
Martin Bruny am Sonntag, den
23. August 2020 um 07:36 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2020
Am 5. November 1987 ging im Martin Beck Theatre (heute: Al Hirschfeld Theatre) nach 43 Previews die Broadway-Premiere von Stephen Sondheims Musical »Into the Woods« (ITW) über die Bühne. Die Kritiker reagierten damals, sagen wir, nicht überschäumend. Frank Rich schrieb in der »New York Times«: »Unfortunately, the book is as wildly overgrown as the forest. […] Mr. Sondheim’s numerous songs, though often outfitted with incomparably clever lyrics, sometimes seem as truncated as the characters, as if they were chopped off just when they got going to make way for the latest perambulations of the book.[…] The show stands still during the huffing and puffing of voluminous plot information. Worse, the convoluted story has a strangulating effect on the musical’s two essential sources of emotional power, its people and its score.«
Drei Tony Awards und 765 Vorstellungen. Es wurde kein Flop für Sondheim, doch dessen Blick auf diese Show war ohnedies ein gänzlich anderer: Er spekulierte damit, mit ITW einen Moneymaker für den Rest seines Lebens im Köcher zu haben. In seinem Buch »Look, I Made a Hat« (2011) schrieb er: »At one point in the collaborative joy of our early discussions I brashly predicted that if the piece worked, it would spawn innumerable productions for many years to come, since it dealt with world myths and fables and would therefore never feel dated.« Sondheim spürte: »[ITW] would appeal to schools and amateur theatres as well as professional ones, expecially in conservative parts of the country which are hesitant to support shows that deal with contemporary themes in contemporary ways and use four-letter words (there are none in the show). I predicted that ITW could be a modest annuitiv for us.«
Im vorliegenden Buch analysiert Stacy Wolf, was alles »beyond Broadway« in Amerika über die Bühne geht und wiederum erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass Broadway-Shows überhaupt entstehen können. Ein Standbein ist das High School Musical, das sie ausführlich anhand von ITW auf etwa 46 Seiten untersucht. Warum diesem Werk Sondheims ein solcher Stellenwert eingeräumt wird? In den 2010er-Jahren erreichte ITW zum ersten Mal die Top 3 der »Most Popular High School Musicals«, die NPR für jede Dekade zusammengestellt hat. Es landete auf Platz zwei nach »Beauty and the Beast« und vor »Little Shop of Horrors«, »The Addams Family«, »The Wizard of Oz« und »Seussical«. In den 1990er-Jahren hatte die Show Platz 13, in den 2000er-Jahren Platz 7 belegt. Wie viele Schulproduktionen von ITW stattfinden, lässt sich nicht beziffern. Stacy Wolf schreibt von Hunderten pro Jahr. Seit drei Jahrzehnten also bewahrheitet sich die Prognose Sondheims.
Jede Schule setzt bei ihrer Inszenierung auf andere Schwerpunkte. Die Autorin hat sich drei Schulen und ihre Umsetzungen näher angesehen. Sie porträtiert die Bildungsstätten, die Lehrer, die Schüler, schildert die Proben … Natürlich kommt sie auch auf die Kosten zu sprechen. So hat die Worthington High School in Worthington, Minnesota, dem Lizenzgeber MTI 365 Dollar pro Vorstellung an Lizenzgebühren bezahlt, plus 600 Dollar für Text- und Notenmaterial sowie 100 Dollar extra, damit die Schüler schon vor den Weihnachtsferien über das Material verfügen konnten und genügend Vorbereitungszeit hatten. Große Ausgaben für eine kleine Schule mit 823 Schülern. Die Aufführungen fanden in Worthingon in einem Art-deco-Theater mit 680 Sitzplätzen statt, das 1931 errichtet worden war. Erst vor Kurzem wurde in eine moderne Lobby investiert. Vor drei Jahren brachte die Schule eine Produktion von »Little Mermaid« auf die Bühne. Die Studenten entwarfen und fertigten dafür derart beeindruckende Kostüme, dass die Schule diese seitdem gegen ein Entgelt verleiht und so die Kosten für neue Shows gegenfinanzieren kann. Man lernt viel aus den Erzählungen Stacey Wolfs über die Probenarbeiten. Etwa welche Probleme sich bei dieser komplexen Show für junge Darsteller ergeben und wie Schulen versuchen, eine bestimmte Thematik, die ihnen wichtig ist, zu betonen. An der Garrison Forest School etwa, einer Privatschule für Mädchen in Baltimore, Maryland, nutzte man ITW, um das Thema Rassismus nach dem Tod von Freddie Gray aufzuarbeiten. Gray war 2015 nahe seiner Wohnung in einem von Armut und Kriminalität geprägten Viertel der Stadt Baltimore wegen des Vorwurfs verhaftet worden, im Besitz eines illegalen Springmessers zu sein. Zu diesem Zeitpunkt war Gray bei guter Gesundheit. Ihm wurden Handschellen und Fußfesseln angelegt, er wurde im Arrestantenwagen aber nicht angeschnallt. Eine Stunde später lag er mit einer schweren Wirbelsäulenverletzung im Koma und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Er starb sieben Tage später. Die Polizisten, die ihn verhaftet hatten, stritten ab, Gray misshandelt zu haben. Keiner der sechs Polizeibeamten wurde verurteilt. Die Hinterbliebenen erhielten von der Stadt Baltimore 6,4 Millionen Dollar, damit sie auf eine Klage gegen die Stadt verzichteten. An der San Francisco Jewish Community School wiederum wurde die Show dafür verwendet, jüdische Werte zu thematisieren. Stacy Wolf liefert anschauliche Milieuschilderungen, mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben.
Die Autorin, heute Professorin am Lewis Center for the Arts an der Universität Princeton, war in ihrer Kindheit selbst begeisterte Darstellerin in Schulaufführungen und hatte mit elf Jahren schon in Produktionen wie »The Sound of Music«, »The King and I«, »The Music Man« und »How to Succeed in Business Without Really Trying« mitgewirkt. Tanzunterricht bekam sie in einem sogenannten Dinner Theatre. Dinner Theatres ist ein zweites großes Kapitel in diesem Buch gewidmet. Sie entstanden 1959 in Chicago oder 1960 in Washington, DC, zuerst in den Stadtzentren, danach wanderten sie in die Vororte ab. Ihre Blütezeit erlebten sie Mitte der 1970er-Jahre., als es amerikaweit mehr als 250 von ihnen gab. Professionelle Darsteller boten das Broadway-Repertoire für die Zuschauer zu einem Schnäppchenpreis, zudem wurden auch noch Häppchen bzw. eben ein Dinner serviert. Die Autorin besuchte einige heute noch existierende Dinner Theatre in Colorado und schildert, welch wichtige Funktion sie in ihrer Region besitzen.
Weitere Kapitel sind der Bedeutung des Community Theatre gewidmet, dem »Musical Theatre at Girls’ Jewish Summer Camps«, dem »Outdoor Summer Musical Theatre« (am Beispiel von »The Sound of Music«) und der Firma Disney, deren Marketingstrategien ausführlich besprochen werden. Etwa am Beispiel von »Newsies«. »[The show] was never intended to enjoy a long Broadway run. The musical just needed to play in New York long enough to earn the as seen on Broadway imprimatur. For Disney, scores of local productions of Newsies were always the goal. In this way, local musical theatre, more and more, inspires the repertoire.«
Im Epilog schreibt Wolf: »Beyond Broadway tells a story about entertainment, civic engagement, community conections, identity formation, and creative expression. It also tells stories about the value and importance of doing something for fun. […] These stories are about kids who do musical theatre with no professional aspirations, about adults who spend their leisure time working at a theatre, and about the professionals who sustain a vast national network of local, often amateur practices. […] In a 2011 New York Times article, Robin Pogrebin observes that much of America’s artistic activity does not happen in major recital halls and theaters, but rather in places like Lucas, Wichita and Junction City, Kansas. My travel across the United States proved this to be true.« Lesenswert.
Stacy Wolf: Beyond Broadway. The Pleasure and Promise of Musical Theatre Across America. Oxford University Press, New York 2020. 384 Seiten. (Softcover) ISBN 978-0-19-063953-2. $ 29.95. oup.com
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