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Agnieszka Zagozdzon: Von »re-creation« bis »glorification«

Es dauert nicht lang, bis in diesem Buch ein ewig gültiges Statement zu lesen ist, das man über das von der Autorin behandelte Thema hinaus erweitern kann. Agnieszka Zagozdzon schreibt: »Am Ende meiner Arbeit [wurde deutlich], dass die musikalische Inszenierung des historischen Broadway-Sounds ein Mittel zur Erschaffung einer ganz bestimmten Form der fiktiven soziogeschichtlichen Vergangenheit – nicht nur von Broadway-Musicals – darstellte, da die Orchestratoren, insbesondere im Fall von amerikanischen Rezipienten, ganz gezielt mit hypothetischen Szenarien der Wiedererkennung, Assoziation und Verbindung stilistischer, memorialer und dramaturgischer Elemente im Rezeptionsprozess rechnen konnten und sie auch gezielt bedienten.« Wenn also in der Juli-Ausgabe der österreichischen Monatszeitschrift »Bühne« im Vorspann eines Artikels steht: »Das Broadway-Musical Carmen feiert […] beim Musicalsommer Winzendorf […] seine spektakuläre, deutschsprachige Erstaufführung«, ist das nicht einfach ein Tippfehler. Mit der Bezeichnung »Broadway-Musical« wollte der Autor ebenfalls auf eine Vergangenheit (die dieses Musical nicht hat) anspielen, die dem besprochenen Werk etwas mehr Glitter und Glanz verliehen haben würde. Im Fall von Frank Wildhorn ist das indes abstrus. Sein Background sind eigentlich die Pop-Charts, die Bedeutung des Great White Way stellt er in Interviews stets infrage. Aber das ist eben die Art und Weise, wie der Begriff »Broadway« im deutschen Sprachraum nicht selten eingesetzt wird.
Zurück zum Anfang. Anhand dreier Musicals analysiert die Autorin, mit welcher Absicht der klassische Broadway-Sound in Produktionen des späten 20. Jahrhunderts eingesetzt wird. Sie isoliert drei Strategien 1. »re-creation« (»Crazy For You«, 1992), 2. »imitation« (»42nd Street«, 1980) und 3. »glorification« (»Follies«, 1971). Zagozdzons präzise musiktheoretische und klangdramaturgische Analyse der orchestrierten Partituren bzw. der Piano-Conductor-Scores basiert auf reicher Sekundärliteratur. Es hat ein bisschen etwas von Cold-Case-Atmosphäre, mitzuverfolgen, wie die Autorin die Motive der Orchestratoren freilegt, warum diese auf welche Art und Weise den Classical-Sound kreiert haben, und was für Hintergründe sie im Zuge ihrer Untersuchung aufdeckt.
Fun Fact am Rande: In einer Fußnote steht zu lesen: »Es fanden sich keine Hinweise darauf, dass es jemals Orchestratorinnen am Broadway gegeben hatte.«
Ein musikhistorischer Thriller.
Agnieszka Zagozdzon: Von »re-creation« bis »glorification«. Zur musikalischen Inszenierung des historischen Broadway-Sounds in amerikanischen Musicals des späten 20. Jahrhunderts. Waxmann, Münster 2019. 234 Seiten. ISBN 978-3-8309-3909-4. € 34,90. waxmann.com

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