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Theater in der Josefstadt: »Jeder stirbt für sich allein«

In einem Interview meinte Josef Ernst Köpplinger eine Woche vor der Premiere von »Jeder stirbt für sich allein«: Nein, Musical sei diese Produktion keines, sondern ein »Schauspiel mit Musik«. Nicht das erste Mal, dass er über die Definition von Musicals sinniert hat. 2014 sagte er in einer Diskussion am Konservatorium Wien: »Es wird gesungen, gespielt und getanzt. Es tut mir leid, aber die Zauberflöte ist ein Musical.« Im Programmheft zum Stück wird aus dem »Schauspiel mit Musik« ein »musikalisches Schauspiel«. Auf der Website des Theaters ist von »Anklängen an Kurt Weill oder John Kander (Cabaret)« die Rede. Die Kritiker schrieben von einer »modernen Oper«, »Eingroschenoper«, »Revue«, einem »Singspiel«, »vorsintflutlichen Brecht-Imitat«, »Martergesang«, mehrheitlich von einem: Musical.

Kern der Dramatisierung (Libretto von Susanne Lütje und Anne X. Weber) des letzten Romans von Hans Fallada »Jeder stirbt für sich allein« (1947) ist das Schicksal der Arbeiterfamilie Quangel. Ein authentischer Fall. Traumatisiert vom Tod seines Sohnes Franz an der Front beschließt der Vater Otto Quangel (Michael Dangl), gegen Hitler vorzugehen. Innerhalb weniger Monate schreibt er auf über 100 Postkarten Botschaften gegen das Regime, deponiert sie in öffentlichen Gebäuden Berlins. Sie sollen in Umlauf kommen, zum Nachdenken anregen. Fein gearbeitet ist dieser Otto Quangel, wie er oft scheinbar ohne Emotionen auf der Bühne agiert und nur wenn es gar nicht mehr geht und etwa das Leben seiner Frau Anna (Susa Meyer) auf dem Spiel steht, Emotionen zeigt, einmal aufgelöst in einer effektvoll inszenierten Slapstick-Szene. Trotz der Emotionslosigkeit ahnt man die Kraft, die es ihn kostet, kalt zu bleiben, um nicht aufzufallen, seine Familie zu schützen, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Menschen um ihn. Bis zum Kipppunkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt. Siegfried Walther und Elfriede Schüsseleder liefern eine brillante Miniatur als jüdisches Ehepaar Rosenthal, das den Nazi-Schergen zum Opfer fällt. Robert Joseph Bartl (Obergruppenführer Prall) skizziert mit bewusst gesetzten dicken Strichen die Niederträchtigkeit, Mordlust, bestialische Brutalität, die sich in Systemen entwickelt, in welchen eine definierte Gruppe von Menschen ihres Anspruchs auf Würde und Freiheit beraubt wird. Den Nachtklub lässt er schließen wegen »illegalen Glücksspiels, entarteter Musik – aber eigentlich, weil ich’s kann«.

Wittenbrink vorzuwerfen, er habe keine »Melodien« geliefert, wie das Teile der Presse taten, geht ins Leere. Der Score, live gespielt von fünf Musikern mit Christian Frank am Klavier, dient gezielt der Atmosphäre, fängt, laut Wittenbrink, »das Lebensgefühl in einer grausamen Diktatur, zwischen Bedrohung und Angst mit Momenten voller Hoffnung und fast schon verzweifelter Lebenslust musikalisch ein«. Ein Musterbeispiel dafür ist Max Harteisen, UFA-Schauspieler, Sänger, Liebling von Joseph Goebbels, gespielt von Martin Niedermair. Wittenbrink hat für ihn zwei Songs geschrieben zwischen Swing und Schlager. Wittenbrink kannte die Stimmen der Schauspieler:innen und komponierte extra für sie. Niedermair interpretiert seine Lieder im Ambiente des Nachtklubs »Paprika«, Marcello De Nardo (Klenze) legt als genderfluider Garà§on mit einer fiebrigen Performance den Background. Die Witze fliegen tief. Was machen mit einem Bild Hitlers? Nachtklubbesitzerin Eva Andrà¡ssy (Nadine Zeintl): »Aufhängen oder an die Wand stellen.« Wandern am Grat des Unsagbaren.

Das Liebesduett zu Beginn des Stücks, interpretiert von Paula Nocker (Trudel) und Tobias Reinthaller (Franz Quangel): Singen am Abgrund, man findet keine gemeinsame Harmonie. Wie auch, wenn er in den Krieg zieht, sie in den Widerstand geht und ermordet wird, er an der Front fällt. Die beiden finden keine passenden Worte, so viel könnte man den einfachen Reimen des Liedes als Interpretation unterlegen. Vielleicht überfordert Wittenbrink damit Teile seines Publikums. In einer der von mir besuchten Vorstellungen stöhnte die Dame neben mir gleich zu Beginn dieses Duetts: »Jessas!«

Das Bühnenbild von Walter Vogelweider zeigt sich erstaunlich mühelos variierbar. Es sind wie im Stil des Brutalismus dicke grobe hohe Quader, die sich blitzschnell auf der Drehbühne zu einem Wohnzimmer, einem Nachtlokal und zu diversen anderen Schauplätzen gestalten lassen. Spielt die Handlung im Kommissariat, ist die Wand im Hintergrund blutrot, nur eines der interessanten kleinen Details (Licht: Pepe Starman, Josef E. Köpplinger). Es lohnt sich, die Feinheiten im Score Wittenbrinks und der Regie Köpplingers zu studieren. Ein packendes Theatererlebnis, eine grandiose Ensembleleistung.

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