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Larry Stempel: Showtime

40 Jahre arbeitete Larry Stempel an seinem Werk »Showtime – A History of the Broadway Musical Theatre«. Auf 826 Seiten legte er sein Buch an, davon 139 Seiten Anhang (Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Register) und über 100 Abbildungen, von denen besonders jene aus der »Urzeit« des »Musical Theatre« eindrucksvoll sind. Etwa Programmzettel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, alte Ansichten von Theatern wie Philadelphias New Theater von 1794, aber natürlich auch von unvergessenen Stars wie Ethel Merman.
Bis zurück ins Jahr 1716 geht Stempel bei der Aufarbeitung der Geschichte des »Broadway Musical Theatre«. Es gilt, die Einflüsse zu untersuchen, und in Williamsburg, Virginia, war damals das erste Theater der USA mit einer Bühne anzutreffen. Eine Überfülle an Geschichte hat Stempel in sein Buch gepackt, vieles faszinierend zu lesen, manches zum Nachdenken anregend – für die letzten 40 Jahre des »Broadway Musicals« auch einiges Missverständliches.
Larry Stempel ist Musikdozent an der Fordham University in New York, wo er Kurse über Oper, Jazz, Broadway Musicals und Moderne Musik hält. Seine Publikationen reichen von einem Aufsatz in der Schweizerischen Musikzeitung zum Thema »Vareses ,Awkwardness‘ und die Symmetrie im Zwölftonrahmen« (1979) bis hin zu »,Street Scene‘ and the Enigma of Broadway Opera« (1986).
Das Problem der Definition dessen, was man unter »Musical Theatre« im Laufe der Zeit verstanden hat und heute versteht, zieht sich durch das ganze Buch. Früher war es noch vergleichsweise einfach. Minstrel Shows, Vaudeville, Operetten, das alles bewegt sich in halbwegs definierbarem Rahmen, ist musikwissenschaftlich einigermaßen gut aufgearbeitet, diese Einflüsse auf das amerikanische Musiktheater fasst Stempel großartig zusammen. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nehmen die Definitionsübungen etwas krampfhaft zu: Musical Play, Musical Comedy, Folk-Operetta, Anti-Musical, Movical, … Stempel wird nicht müde, die neu auftauchenden Begriffe vorzustellen, Stücke einzuordnen, die Einordnung über Seiten zu diskutieren, etwa im Fall der »West Side Story« – ist es »Broadway Opera«, »Operetta«, »Musical Comedy« oder einfach »American Music Theatre«? Während er die vergangenen Epochen sehr rational angeht und ausgewogen von allen möglichen Seiten beleuchtet, während er großartige Analysen des »Goldenen Zeitalters« des Broadway liefert (und auch dessen Definition ausführlich diskutiert), ausgehend von der Uraufführung von »Oklahoma!« 1943, nimmt die Darstellung der letzten Jahrzehnte eine reichlich übertriebene kritische Schärfe an. Es scheint, als würde die Entwicklung ab dem Beginn des Rock eine für Stempel konsequent ins künstlerische Aus führende sein. Die Frage ist, ob das denn tatsächlich von einem musikwissenschaftlichen Standpunkt aus haltbar ist und hier nicht Stempel als zu parteiischer Sprecher, und weniger als objektiver Geschichtsschreiber, der so oft von ihm zitierten »Broadway Community« auftritt.
Ab den 70er Jahren, so vermittelt Stempel, heißt es von dem, was der Broadway einmal war, radikal Abschied zu nehmen; wenn man sich das genauer überlegt, ist das eine ziemlich lange Zeitperiode für eine Schwanengesang. Was macht es für Sinn, die Musicals von Andrew Lloyd Webber sowie Boublil & Schönberg auf 29 Seiten unter fragwürdigen Gesichtspunkten zu analysieren und sich in martialischen Metaphern zu verlieren, um schließlich diese Hemmungslosigkeit in Sätzen wie folgt gipfeln zu lassen: » More than simply challenging America’s postwar rule over the English-speaking musical stage, this ,British invasion‘ implied a sustained assault on the institution of Broadway itself.« »The triumph of ,Lez Mis‘ in global terms, in fact, and of ,Miss Saigon‘ by the same writers four years later, effectively transformed the British invasionary force into a multinational coalition.« Die Reaktion des Broadways auf die »britische Invasion«: Businessgiganten wie Live Entertainment (Livent), Inc. (»Kiss of the Spider Woman«, »Ragtime«) oder SFX Entertainment (»The Producers«, »Hairspray«) stiegen ins Geschäft ein und veränderten die Art und Weise, wie man Musicals am Broadway produzierte. Disney verhalf dem »Movical« zum Höhenflug: »The film sells the musical; the musical sells the film; both sell related mechandise; producers profit from all sales.« Beispiele: »Beauty and the Beast«, »The Lion King« aber auch »Dirty Rotten Soundrels« (2005), »Legally Blonde« (2007) oder Shrek The Musical« (2008). Es gebe nun zwar jede Menge Jobs, aber, und da zitiert Stempel Steve Swenson, einen Lichtdesigner: »The problem is that there‘s so much crap being staged that it‘s sort of hard to care much about the work you get, once you get it.«
Vom schnöden Kommerz, dem nun »industrialisierten« Musicalgenre, grenzt Stempel all jene Musicals ab, die ohne Happyend auskommen, ohne den typischen »Song«, die nicht lustig, sondern beißend in ihrem Humorverständnis sind, also mit einem Wort: unpopulär. Dem stellt er sinnigerweise ein Zitat von Wiley Hausam voran, der meint: »A musical doesn’t have to be popular to be artistically valuable. If it aspires to be art today, it’s probably more likely to achieve this status if it isn’t popular.« Hausam prägte für diese »unpopulären« Musicals den Begriff »Anti-Musical«, und Stempel reiht munter Werke von John LaChiusa, Adam Guettel, William Finn und Jason Robert Brown in diese Kategorie. Im selben Kapitel behandelt Stempel »Gay Musicals« wie »Falsettos« und »Hedwig and the Angry Inch«, um dann einzubiegen in das nächste und abschließende Kapitel: »Sondheim’s Children«, ein Subkapitel des Abschnitts »Another Broadway«. Dieses beginnt er mit dem Satz: »Writing history is a messy untertaking.« Oh ja, da hat er nur allzu recht, denn längst ist dem Geschichtsschreiber Stempel in diesem Buch die Übersicht abhandengekommen, die Schubladisierungen wirken nicht durchgängig plausibel. Im Kapitel »Sondheim‘s Children« finden wir Ausführungen zu Shows wie »Spring Awakening«, »Avenue Q«, »Wicked«, über die »Kinder« Sondheims wie Ricky Ian Gordon, mit 55 auch nicht mehr gerade der Jüngste, oder Jason Robert Brown, kann man Bekanntes auf knapp 9 Seiten nachlesen.
Am Ende seiner Ausführungen steht der Autor gänzlich unverstanden da, wenn er meint: Nowadays, one has to balance conflicting senses of what one actually means by Broadway: on one hand, the epicenter of the art and commerce of the American musical theater; on the other, an outpost for the most successful musicals of all time, which are neither American nor even Broadway-based at all. And one has to balance conflicting senses of what one means by the musical itself: on one hand, a live art form which remains essentially ,uncompromised by the distancing tool of technology‘; on the other, a mass cultural phenomenon, corporate controlled and technologically mediated at every turn. It is this very complexity that has dislodged us culturally from entertaining whatever more comfortable ideas of the Broadway musical we might once have harbored. And it amounts to perhaps the most disturbing of all distancing effects.«
So wird aus einem hochinteressanten Geschichtsbuch am Ende, wenn es in die Zielgerade Gegenwart einbiegt, eine bisweilen tendenziöse Glosse zur aktuellen Situation am Broadway, wie sie ein Mitglied der »Broadway Community« wohl eben nunmal empfinden muss.

Larry Stempel: Showtime - A History of the Broadway Musical Theatre. W. W. Norton & Company, Inc., New York 2010. 826 S.; (Hardcover) ISBN 978-0-393-06715-6. $ 39.95.

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