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Thomas Siedhoff: Handbuch des Musicals – Die wichtigsten Titel von A bis Z

Ein »Handbuch des Musicals« in deutscher Sprache, 732 Seiten stark, randvoll mit Informationen zu den “wichtigsten Titeln von A bis Z” – was kann sich ein Musicalinteressierter mehr wünschen? Dem Pressetext zum Werk ist zu entnehmen: »Das Buch ist eine Antwort auf die Frage »Was ist Musical?« und behandelt alle Facetten des jüngsten Genres des Musiktheaters. Es beschreibt im internationalen Kontext und zum ersten Mal in diesem detaillierten Format die Entstehung, die Blüte, das enorme Geschäft, die Flops und die Chancen des Musicals.« Wird ja immer besser, ich freue mich auf die Analyse der Werke von beispielsweise Jason Robert Brown, William Finn, Bill Russell oder gar Adam Guettel! Mitten im als »Opening« betitelten Kapitel »Was ist Musical? Versuch einer Antwort aus deutscher Sicht«, auf Seite 22, dann folgende Passage:
»Es gibt durchaus Momente, die am eigenen Engagement für dieses Metier zweifeln lassen, wenn zu erkennen ist, dass man sich vor argen Fehlentwicklungen zu fürchten hat. Etwa vor dem Missverständnis, aus dem Leben eines Menschen, der, anders als Kaiserin Elisabeth von Österreich, nicht mit seiner Biographie, sondern durch seine Musik zu unsterblichem Ruhm gelangte, ein Musical anzubieten, dessen ohrenbetäubende, nur oberflächlich Stimmungen andeutende Musik nicht mehr als eine Beleidigung für Mozart! [sic!] ist.«
Nicht nur stilistisch ist das ein Satz, der nicht passt. Nicht nur die Schreibweise “Mozart!” ist falsch, gemeint ist ja der Komponist und nicht das Musical, auch inhaltlich ist diese Aussage nicht haltbar. Oder um es mit Oscar Hammerstein II. (oder wahlweise Jerome Kern, auch ihm wird das Zitat zugeschrieben) zu formulieren: »Ein Musical kann alles sein, was es will, es muss nur eines haben: Musik!« Es gibt unter den kreativen Menschen dieser Welt wohl nur wenige, die sich der von Siedhoff vertretenen Ansicht anschließen würden, man dürfe zum Beispiel über einen Komponisten kein Musical schreiben. Auch das von Siedhoff gefällte Urteil über die Kompositionen Sylvester Levays kann man nur verwundert schmunzelnd zur Kenntnis nehmen. Levay steht, soviel ist sicher, auf der Abschussliste des Autors. So findet sich auf Seite 21 folgendes Zitat:
»Levay und Kunze setzten für die deutschsprachige Szene mit (…) »Elisabeth« in der Inszenierung von Harry Kupfer ein sehr bemerkenswertes Signal, mit einem stringenten, wirkungsvollen Buch, aber mit einer Musik, die den Charakter der Konfektion kaum abstreifen kann, der ein wirklich eigenes kompositorisches Profil fehlt. Derart prominent eingeführt und damit einen Welterfolg hervorgebracht habend, folgten die nur noch routinierten Nachfolger dieses Gespanns mit MOZART! und REBECCA.”
»Elisabeth« reiht der Autor dann doch überraschenderweise in die seiner Meinung nach rund 250 wichtigsten Musicals ein. Freilich nicht ohne, stilistisch wieder problematisch, zu vermerken: »Levay erfand für die Titelfigur ein schlichtes durchgängiges Thema, quasi als Pop-Konstante, das ihre Balladen »Ich gehör’ nur mir« und »Ich will dir nur sagen«, aber auch Rudolfs »Wenn ich dein Spiegel wär’« beherrscht. Luchenis aggressiv skandierende Ballade »Kitsch!«, deren Duktus mit geringerem Tonumfang in »Mein neues Sortiment« aufgegriffen wurde, gehört ebenso zu den wenigen musikalischen Höhepunkten wie die zynischen Kommentare des Wiener Hofstaat-Ensembles »Sie passt nicht« und dem gespenstischen Marsch der Kaffeehausbesucher in der »Fröhlichen Apokalypse«. Dramatische Steigerungen werden in der bisweilen eindimensionalen Instrumentation leider allzu häufig nur durch Lautstärke suggeriert, weniger durch wirkliche Melodieerfindungen.«
Das »Handbuch des Musicals« ist für alle jene enttäuschend, die sich gerade in Bezug auf die jüngsten Entwicklungen dieses Genres eine tiefergehende Analyse erwartet haben. Vom Zeitraum 1998 bis 2007 haben es gerade mal zwölf Musicals in das Buch geschafft, aus den Jahren 1988 bis 1997 25. Insofern gibt es wenig neue Erkenntnisse, sind doch die Werke vor 1987 längst von diversen, auch deutschsprachigen, Werken von verschiedensten Gesichtspunkten aus durchleuchtet worden. Nicht ganz nachvollziehbar sind die Auswahlkriterien des Autors, so pickte er beispielsweise aus sämtlichen Premieren der Jahre 1988/89 die Musicals »Ragtime«, »Der Glöckner von Notre Dame« und »Contact« heraus, ignorierte aber »Hedwig and the Angry Inch«, »Mamma Mia!«, »Mozart!«, »Parade« oder »Fosse«, um nur einige zu nennen. Thomas Siedhoff hat sich weiters dazu entschlossen, kein einziges Werk von William Finn (»A New Brain«, »Falsetto«-Trilogie, »25th Annual Putnam County Spelling Bee«, »Elegies – A Song Cycle«) aufzunehmen, nicht einmal in eine als »Chronologie« bezeichnete Übersicht, die neben den rund »250« wichtigsten noch weitere wichtige Premieren auflistet. Kein Werk von Jason Robert Brown hat Eingang gefunden in dieses Buch, keines von Adam Guettel. Bill Russell (»Elegies for Angels, Punks and Raging Queens«, »Side Show«) wird nicht einmal in seiner Funktion als Komponist erwähnt. Aus den Jahren 2004 bis 2007 hat Siedhoff nur ein einziges Musical aufgenommen: »Spamalot«. Nicht vertreten sind zum Beispiel »Spring Awakening«, »Grey Gardens«, »The Drowsy Chaperone«, »Jersey Boys«, »The Color Purple«, »The Boy from Oz« oder »Taboo«. Was man stattdessen im Buch findet: Ausführungen zu »Im Weißen Rössl«, »Linie 1«, »Helden, Helden« oder »Ludwig II. Sehnsucht nach dem Paradies«.
Zu jedem der ausgewählten Werke bietet Siedhoff Angaben zu Werktitelei (gebräuchliche Titel in der Originalsprache, alternative originalsprachliche Titel, gebräuchliche Übersetzungstitel und leider auch eigentlich völlig unnötige wörtlich übersetzte Titel), Komponist, Autor der Gesangs- bzw. Liedtexte, Autor der Dialoge und des Szenariums, Choreografie, Tryouts, Uraufführung, Verfilmungen, Musiknummern, Inhalt, Rollenbezeichnungen, Stimmfachbezeichnungen, Cast und Orchesterbesetzung, Inhaber der Rechte, Literaturangaben, Hinweise zu Notendrucken und Textbüchern und zu erschienenen Tonträgern (CDs, DVDs). Weiters einen Kommentar, der mitunter verzopft formulierte und sehr eigenwillige Wertungen der besprochenen Musicals enthält. Im Anhang findet sich ein »Verzeichnis der wichtigsten Werke der Musicalgeschichte« und ein Nachweis der verwendeten Literatur, eine Beschreibung der wichtigsten choreografischen Erscheinungsformen des Musicals, eine Liste der »wichtigsten und zuverlässigsten Internetadressen«, wobei es ruhig ein paar mehr hätten sein dürfen. 24 Stück sind nicht ausreichend, und es ist auch nicht wirklich nachvollziehbar, warum der Link zu einer Sondheim-Site angegeben ist, aber sonst keine Hinweise auf Websites anderer Komponisten und Autoren vorhanden sind. Lückenhaft auch die Auflistung der Anschriften der »wichtigsten Rechtsinhaber«.
Im Buch sind zwei Bildteile zu je 16 Seiten vorhanden. Die Bilder sind alle in Schwarzweiß und zum Teil von entsetzlich schlechter Qualität. Die Beschriftung ist zum Teil falsch. So ist das stiefmütterlich behandelte Levay/Kunze-Musical »Elisabeth« auch im Bildteil Opfer einer gewissen Lieblosigkeit geworden: Abbildung 14 zeigt laut Bildlegende »Pia Douwes als Elisabeth und Uwe Kröger als Tod”, zu sehen sind aber Maya Hakvoort als Elisabeth und Leon van Leeuwenberg als Franz Joseph. Als Musterbeispiel, wie man es einfach nicht machen sollte, kann Abbildung 35 gelten. Zu sehen ist eine Szene aus »Les Misà©rables« – völlig verschwommen und unscharf. Bei vielen Abbildungen fehlt die Angabe der Darsteller gleich ganz. Auch bei der Konzeption des Buches für den Buchbinder ist einiges schiefgegangen. Der Einband bricht schon beim ersten Aufbiegen. Schlussendlich hat man das Buch dann im hinteren Bereich fast als Einzelblätter vorliegen.
Auf dem Cover des Buches sehen wir ein Szenenfoto aus «Wicked”. Man sollte sich allerdings nicht täuschen lassen und etwa davon ausgehen, dass ausgerechnet dieses Musical bei Thomas Siedhoff Gnade findet: »Bei der Lektüre des Buchs, das Vieles aus einer sprachlich bewusst alltäglich gehaltenen Märchenwelt in die heutige Zeit zu bringen vermag, gewinnen die Figuren manches Leben. Hört man die Musik, bleiben sie durch das Ausbleiben aller märchenhafter Assoziationen eindimensional, und, mit Ausnahme der exzentrischen Madame Morrible, zudem verwechselbar.« Es wäre nur logisch gewesen, wenn der Autor für das Cover beispielsweise eine Szene aus »Kiss me, Kate« oder »Das Wirtshaus im Spessart« ausgewählt hätte, da hat man sich aber wohl dann doch von Verlagsseite dazu entschieden, etwas Modernes zu nehmen. Und während sich die deutschen Produzenten begreiflicherweise dazu entschlossen haben, den Titel «Wicked« nicht ins Deutsche zu übersetzen, kann man bei Thomas Siedhoff nun nachlesen, was »Wicked« auf Deutsch heißt, nämlich »Verwünscht«. Abgefahren!

Thomas Siedhoff: Handbuch des Musicals – Die wichtigsten Titel von A bis Z. Schott Music GmbH & Co KG, Mainz 2007, 732 S.; ISBN 978-3-7957-0154-3. €29,95. www.schott-music.com

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