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Archiv - Rezensionen

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals (2020)

broadway2010.jpgMit diesem Band hat Dan Dietz seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« weiter ausgebaut – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2010er-Jahren geschlossen vor. Wer alle zehn Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5620 Seiten zu einem Preis von rund 1440 US-Dollar.
In diesem Band behandelt Dietz 240 Shows, die am Broadway vom 1.1.2010 bis 31.12.2019 Premiere hatten. Eine kleine Unschärfe zieht sich durch die Buchreihe: Inkludiert sind neben Musicals auch verwandte Genres. Für die 2010er-Jahre sind erfasst: »sixty-one book musicals with new music; twenty-nine book musicals with mostly preexisting music; seven operas; two plays with incidental music; four dance musicals; thirty-six shows that fall under such categories as revues, concerts, comedy stands, and the always helpful ‚miscellaneous‘ category (such as the In Residence on Broadway series); eight magic shows; eighteen imports; fifty-two revivals and return engagements; and twenty-three pre-Broadway closings«.
Wie auch in den anderen Bändern versucht Dietz Trends zu isolieren. So war in der 2010er-Dekade die Rückkehr des Book Musicals mit neu komponierter Musik festzustellen. Gab es in den zehn Jahren davor nur 37 Premieren dieser Art, zählte Dietz in den 2010er-Jahren 61. Kleiner Haken dabei: Bei etlichen davon handelt es sich um Musicals, die auf Filmen der 1980er- und 1990er-Jahre basieren. Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er-Jahren liest sich die Zahlenfolge der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37-61.
Die Zahl der Revivals und Wiederaufnahmen ist gesunken, in diese Kategorie fallen 52 Shows (in den zehn Jahren davor waren es 58). So viel zu den Good News. Ein negativer Trend ist die Verdoppelung der Zahl der Musicals mit recycelten Songs, im Wesentlichen also Jukebox-Musicals (15 in den 2000er-Jahren, 29 in den 2010er-Jahren).
Ein interessantes Addendum bietet Dietz, das in die Periode der Corona-Pandemie verweist. Elf Musicals, die in den 2010er-Jahren Premiere feierten, fielen 2020 in die Phase des Broadway-Lockdowns. Sie waren mit Stichtag 15. März nicht abgespielt und warten offiziell darauf, den Spielbetrieb wiederaufnehmen zu können (in Klammer das Premierenjahr/die Zahl der bisherigen Aufführungen): »Ain’t Too Proud: The Life and Times of the Temptations« (2019/407), »Aladdin« (2014/2506), »The Book of Mormon« (2011/3748), »Come from Away« (2017/1251), »Dear Evan Hansen« (2016/1363), »Hadestown« (2019/376), »Hamilton« (2015/1919), »Jagged Little Pill« (2019/112), »Mean Girls« (2019/804), »Moulin Rouge!« (2019/262) und »Tina: The Tina Turner Musical« (2019/143).
Ein üppiger Band, detailreich wie immer mit allen relevanten Statistikangaben zu den angeführten Shows und interessanten Charakterisierungen und Einordnungen in die Musicalhistorie. Eigentlich unentbehrlich.

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2020. 532 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-2632-5. $ 140,–.rowman.com

Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires (2020)

misfires.jpgMöchte man sich über Broadway-Musical-Flops informieren, greift man für Produktionen bis 1989 zu Ken Mandelbaums »Not since Carrie – 40 Years of Broadway Musical Flops« (1991). Für den Zeitraum ab 1990 bietet sich »Musical Misfires«, das neue Buch von Mark A. Robinson und Thomas S. Hischak an. Es ist mitten in der Pandemie erschienen, und nur als E-Book, was für ein Werk von Hischak ungewöhnlich ist, gilt er doch als einer der renommiertesten Autoren auf dem Gebiet des Showbusiness mit Werken wie »The Mikado to Matilda: British Musicals on the New York Stage« (2020), »Off-Broadway Musicals Since 1919« (2011) »The Oxford Companion to the American Musical« (2008) oder »The Tin Pan Alley Encyclopedia« (2002), um nur einige zu nennen
151 Flops behandeln die Autoren. Vorangestellt: eine Begriffsklärung, was man heute als Flop bezeichnen kann und warum sich die Autoren darauf geeinigt haben, lieber den Alternativbegriff »Misfires« (in etwa Fehlzündung) zu verwenden. Der Begriff Flop habe sich im Lauf der Zeit gewandelt. Früher bezeichnete man Flops als Shows, die aus den verschiedensten Gründen kein Geld eingespielt haben. Da sollte man nun doch differenzierter argumentieren. Geld einzuspielen wurde ab den 1990ern zunehmend schwieriger. Musicals laufen zu lassen, in der Hoffnung, sie würden sukzessive ihr Publikum finden, ist nicht mehr möglich. Erweist sich eine Show nicht als Instant-Hit, war’s das, egal wie die Produktion bei Kritikern abgeschnitten hat. Das Autorenduo plädiert dafür, gefloppte Shows überlegter zu labeln. Es hat andererseits keine Scheu, Kultshows als Flops einzustufen, von denen man es nicht angenommen hätte. Ein Beispiel? »Sunset Boulevard«.
Robinson und Hischak haben ein recht interessantes Repertoire an Kategorien entwickelt, in die sie die von ihnen besprochenen Musical Misfires ablegen. So etwa »What a Horror« (»Dance of the Vampires«, »American Psycho« …), »Too Unique For Broadway« (»James Joyce’s The Dead«, »Head Over Heels« …), »Is There An Audience For This?« (»The Wild Party«, »Marie Christine« …), »Costly Conclusions« (»Rocky«, »The Scarlet Pimpernel«, »King Kong« …) oder auch: »Disguised as Success«, Shows also, die gemeinhin als Erfolg gelten, aber ihr Geld nie eingespielt haben. In dieser Kategorie angeführt: »Passion«, »Victor/Victoria«, »Young Frankenstein«, »American Idiot«, »SpongeBob SquarePants: The Broadway Musical« und »Sunset Boulevard«. Alle diese Shows mögen Erfolge gewesen sein, was Presse und Preise betrifft, doch letzten Endes: Alles nur Illusion, erfolgreich von Marketingabteilungen erzeugt, denn sie haben nie Gewinn gemacht. Im Fall von »Sunset Boulevard«, das sieben Tony Awards gewonnen hat, überraschend. Die Show ist in London, Los Angeles, New York, Kanada und Australien gelaufen, finanziell aber ohne Erfolg? Das Musical gilt doch geradezu als Musterbeispiel der Erfolgsstorys von Andrew Lloyd Webber. Glenn Close trat als Norma Desmond fast 1000 Mal am Broadway auf. Aber genau das mag auch der Grund der finanziellen Misere gewesen sein. Patti LuPone war ursprünglich vorgesehen, nach ihrem Londoner Erfolg als Norma Desmond auch am Broadway damit anzutreten. Für eine Produktion der Show in Los Angeles hatte man einige Zeit davor allerdings einen echten Kinostar engagiert: Glenn Close. Und die kam so phänomenal gut an, dass man LuPone ausbootete. Für Los Angeles engagierte man als Close-Ersatz Filmstar Faye Dunaway, entschied dann aber kurzfristig, die Produktion doch abzusetzen. Das Resultat: Man musste zwei Diven finanziell abfertigen und eine bezahlen. Horrende Kosten, nicht einzuspielen.
Wie immer lernt man von den Geschichten, die Hischak in seine Bücher einbaut, auch einiges. Ab und an begründen die Autoren den Misserfolg der besprochenen Beispiele fast mit einer Art tiefenpsychologischem Ansatz. Zum Beispiel ein Musical der Kategorie »It’s not where you start …« Die Grundthese für diese Kategorie besagt, dass eine Show zwar am Broadway floppen mag, aber dafür in Hunderten Produktionen amerikaweit oder auch weltweit weiterleben kann. Musterbeispiele: »Parade«, »All Shook up«, »Big Fish«, »The Bridges of Madison County«. Und: »Finding Neverland«. Hier wird der Misserfolg auf die Eskapaden eines Neulings im Musicalbusiness zurückgeführt, der mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen die Broadway-Community vor den Kopf gestoßen hat. »Finding Neverland« feierte 2011 am La Jolla Playhouse Premiere, 2012 in England. Und dann kam er an Bord: Harvey Weinstein, erfolgreich und mittlerweile berüchtigt. Seine Entscheidungen im Kurzdurchlauf: Er tauschte das Kreativteam, und er tauschte Jeremy Jordan gegen den damals durch »Glee« gerade populären Matthew Morrison. Als die Show 2015 am Broadway an den Start ging, waren die Kritiken mau, Tony-Nominierungen blieben aus. Gegen die Tradition, Tony-Jurymitglieder zur Show einzuladen, zog Weinstein beleidigt die Einladungen zurück. Weinsteins Verhalten wäre vielleicht ein gutes Fallbeispiel für eine Neuauflage des Bestsellers »Die Macht der Kränkung« des Psychiaters Reinhard Haller.
Frank Wildhorn kommt natürlich mehrere Male mit seinen Versuchen, am Broadway Erfolge zu landen, im Buch vor. Interessant sind hier die kleinen FunFacts, die Hischak, einstreut. Als »Bonnie & Clyde« 2012 nach nur 36 Vorstellungen abgesetzt wurde (aus Gründen, die ausführlich im Buch besprochen werden), sah es so aus, würde es nicht einmal zu einer Cast CD kommen: »When it looked like no original cast recording was forthcoming, members of the cast, crew, creative staff, and even the ushers pooled their money to pay for a cast recording. Broadway Records was founded to release the recording. Almost immediately productions of Bonnie & Clyde started appearing internationally […]. In the States, the musical has found a home in regional theatres, summer stock, community theatres, and schools. It seems there is an enduring and widespread fascination with Bonnie Parker and Clyde Barrow. This romantic musical about their tragic lives will likely continue to benefit from that fascination.«
Hunderte kleine Geschichten, verpackt in eine Historie der Musical-Flops ab 1989. Sehr empfehlenswert.

Mark A. Robinson; Thomas S. Hischak: Musical Misfires. Three Decades of Broadway Musical Heartbreak. Bookbaby Publishers, 2020. (eBook) ISBN 978-1-0983293-1-0. $ 28,27,–. bookbaby.com

Wolfgang Jansen: Willi Kollo (2020)

kollo.jpgWolfgang Jansens Biografie des Autors und Komponisten Willi Kollo birgt einige Wahrheiten, die abgesehen vom Thema, um das es eigentlich in dem vorliegenden Buch geht, ganz allgemein gelten. Wahrheit, damit sind Journalisten, Autoren oder auch Experten nicht selten konfrontiert, wird oft als Bedrohung aufgefasst. Jemand, der nach Wahrheit oder auch nur kritischer Distanz strebt, wird bisweilen mit Entschiedenheit bekämpft und/oder diskreditiert.
Die wichtigste Passage in Wolfgang Jansens Buch findet sich auf den Seiten 332 und 333: »Ein gutes Image des Produkts und des Komponisten oder Autors ist bei der erfolgreichen, langfristigen Platzierung von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dabei folgen die Beteiligten dem Grundsatz: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Insofern ist die Neigung verbreitet, Misserfolge, die zwangsläufig immer wieder in künstlerischen Prozessen auftreten, nach einigen Jahren zu übergehen oder umzudeuten. Wahrheit ist dabei im Zweifelsfall keine Kategorie, der man sich verpflichtet fühlt. Und kommen Lebensbeschreibungen auf den Markt, dann haben diese die Erfolge des Porträtierten darzustellen. Sachliche, distanzierte oder gar wissenschaftlich-kritische Biografien mögen bei historischen Persönlichkeiten oder Politikern angemessen erscheinen, im Sektor der populären Kultur gelten sie als kontraproduktiv.«
Willi Kollo (1904–1988), das eigentliche Thema des Buches, dient Jansen als Spiegel, um die Folgen des Aufschwungs, die das Theater ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionierten, zu illustrieren. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand eine Infrastruktur, die dem Theaterleben eine bis dahin unvorstellbare gesellschaftliche Breite verlieh. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1869 konnte jeder Staatsbürger ohne Einschränkung eine Spielstätte errichten. Die Zahl der Bühnen nahm sprunghaft zu, ein neuer Markt entstand, Bedarf nach Schauspielern, Sängern, Musikern etc. Ab 1900 kam es zur Gründung angesehener, privatfinanzierter Theaterschulen. Der Markt für dramatische Werke explodierte, neue Gattungen eroberten den Markt. Operette, Varietà©, Revue, Extravaganza, Feerie, Cafà©-concert, Kabarett. Eine komplette neue Branche entstand: Direktoren, Agenten, Verleger, eine neuer Typ von Darsteller und Komponist. Dynamisiert wurde diese Entwicklung durch die Erfindung der Schallpatte in den 1890er-Jahren und die Filmindustrie, den Rundfunk und das Fernsehen.
Willi Kollo war der Sohn des Operettenkomponisten Walter Kollo. Er begann seine Karriere in den 1920er-Jahren als Liedautor, bald schon komponierte er Schlager, Stücke für Revuen, das Kabarett, die Operettenbühne. Er trat als Interpret auf, nahm als Sänger Schallplatten auf, komponierte für den Film. Kollo war Theater- und Filmproduzent eigener Werke, Regisseur und musikalischer Leiter an selbst gegründeten Theatern, leitete einen Musik- und Bühnenverlag, und es gibt auch einen direkten Musicalbezug: 1959 brachte Kollo in einem kleinen Saal im ersten Stock der ehemaligen Vorderfront des Berliner Großraumvarietà©s Scala das Werk »Wer hat Angst vor dem starken Mann?« heraus und bezeichnete es als »Musical«. Über dem Eingang des Theaters war ein Schild mit der Aufschrift »Berlins erstes Musical-Theater« angebracht. Musical in Deutschland hatte damals, so Jansen, das Image von Modernität, Jugend und Zukunft. Kollo bewarb sein Stück als Musical das »nicht nur ins Ohr eingehen und erheitern, sondern auch politisieren solle«. Die Produktion floppte, nach sechs Wochen holte Kollo ein Kabarettgastspiel ins Haus.
Es gibt viele verschiedene Herangehensweisen, die Biografie eines Menschen in Buchform aufzubereiten. Will man am Markt reüssieren, bietet sich etwa der Anekdoten-Bildband an oder gleich der Bildband mit einigen Anekdoten. Wolfgang Jansens Biografie kommt ganz ohne Bilder aus. Abbildungen reißen in die Kalkulation von Buchprojekten oft ein großes Loch. Sich dagegen zu entscheiden, ist legitim, wenn und in diesem Fall: da der Text die nötige Qualität hat. Das Buch ist, obgleich leicht und spannend zu lesen, ein Fachbuch mit exakter Zitierung, akribisch zusammengestelltem Quellenverzeichnis, transkribierten Dokumenten am Ende jedes Kapitels, Literaturliste, Werkverzeichnis, Discografie und Register.
Um jetzt aber den Bogen zu schließen und zum Thema Wahrheit zurückzukehren. Dieses Buch beruht auf Arbeiten, die großteils in den Jahren von 1991 bis 1994 durchgeführt wurden. 1994 war ein Buchverlag gefunden, der Vertrag unterschrieben. Als der Autor sein Manuskript zur Freigabe an die Familie Willi Kollos schickte, war die Reaktion »ablehnend, heftig und kompromisslos. Ohne ein Gespräch zu suchen, ließ man mich durch eine angesehene Rechtsanwaltskanzlei wissen, dass man die Publikation des Textes verhindern werde«. Der Alptraum für einen Autor und einen Verlag. Die Angelegenheit landete vor Gericht, zwei Jahre später wurde der Text »im Namen des Volkes« zur Publikation freigegeben. Da machte der Verlag einen Rückzieher. Erst 1997 erfuhr Jansen, was die Familie am Text gestört hatte. Er war, um das Ganze abzukürzen: zu »wahr« und verschwieg nicht die Zeit des Nationalsozialismus. Jansen: »Lieber verzichtet man also auf jede Biografie, als widerstandslos zuzusehen, wie ein Buch erscheint, das nicht der Verwertungsmaximierung dient. Offensichtlich war meine erste Textfassung in diesem Sinne nicht marktgeschmeidig genug.« 2020 liegt der Text nun endlich in Buchform vor. Das Resümee kommt diesmal aus der Bibel: »Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbieten.« (5. Mose 25, 4) Wahrheit setzt sich am Ende durch.

Wolfgang Jansen: Willi Kollo. Autor und Komponist für Operette, Revue, Kabarett, Film und Fernsehen. 1904–1988. Waxmann, Münster 2020. 394 Seiten. (Softcover) ISBN 978-3-8309-3995-5. € 39,90. waxmann.com

Richard Barrios: »West Side Story«

west-side-story.jpgDas vorliegende Buch ist nicht zuletzt aufgrund eines Ereignisses entstanden, das am 18. Dezember 2020 in den USA und bereits am 17. Dezember in Deutschland stattfinden soll. Wenn die Pandemie es zulässt, wird an diesen Tagen die Neuverfilmung der »West Side Story« Steven Spielberg (Regie) und Tony Kushner (Drehbuch) die Lichtspieltheater erreichen. Das Ganze wird anders ablaufen als gewohnt. Noch kann man zum Beispiel nicht abschätzen, welche Teile der USA tatsächlich »bespielt« werden können. In Anspielung auf den Begriff Cinemascope haben US-Medien lakonisch den Begriff Coronascope geprägt. Spielbergs Film ist nun nicht einfach einer von mehreren programmierten Blockbuster-Hits der Weihnachtszeit, die Medien reihen ihn in die Gruppe jener Streifen ein, die in der Lage sein könnten, »Hollywood [finanziell] zu retten«. Die Dreharbeiten konnte das Coronavirus zumindest nicht beeinflussen, die waren im Oktober 2019 abgeschlossen. Die Message, mit der Spielberg den Film ins Rennen um die Zuschauergunst und die Oscars schickt, ist formuliert: »This story is not only a product of its time, but that time has returned, and it’s returned with a kind of social fury. I really wanted to tell that Puerto Rican, Nuyorican experience of basically the migration to this country and the struggle to make a living, and to have children, and to battle against the obstacles of xenophobia and racial prejudice.« Das Branchenblatt »Variety« sagt für die »West Side Story« derzeit mögliche Oscarnominierungen in neun Kategorien voraus, was auch immer man von solchen frühen Prognosen halten mag. Was feststeht, sind die Daten des Originals aus dem Jahr 1961: Der Film lief buchstäblich jahrelang in den Kinos, brachte 44 Millionen Dollar Einspielergebnis und zehn Oscars. Leicht wird es die Neuverfilmung nicht haben, denn am 18. Dezember starten auch: »Coming 2 America« (Eddie Murphy), »Dune« (Timothà©e Chalamet) und vor allem: »The Father« mit Anthony Hopkins und Olivia Colman, laut »Variety« ein heißer Kandidat für eine Vielzahl an Oscarnominierungen.
Richard Barrios widmet der Neuverfilmung in seinem Buch zwar nur wenige Seiten, bietet aber interessante Überlegungen, etwa, was die erste Verfilmung so einzigartig macht und eine Neuverfilmung nie erreichen kann: »In 1961, West Side Story was, for all but those who had seen the show, an unknown quantity. Perhaps they knew the music, but there were many millions of people who went to see it and were all but unprepared. What did those audiences feel? The film was so immediate and audacious that its impact was probably like that legendary early movie screening when the spectators in the first rows leaped from their seats to avoid being run down by the train they saw barreling toward the camera. With the poetry and tragedy of the love story, the emotional and physical violence of the conflict, and the constant momentum of the music and dance, this was new, all new. An audience seeing West Side Story in 2020 is carrying far different baggage, both going to the movie theater and then departing it. For one thing, the basic material is far more familiar than it was when the first film opened; everyone, essentially, knows West Side Story now. And, among the millions who know and love the original film, apprehension and suspicion about a new version are likely.« Kein Wunder, dass der Drehbuchautor der Neuverfilmung Tony Kushner schon im Vorfeld meinte: »Regardless of merit or quality, a film can be remade, but it cannot be replaced.« Carole D’Andrea, die in der Broadway-Produktion als Velma zu sehen war: »It is so wonderful they are giving a new generation a chance to make and experience this beautiful classic.«
Aber die heiße Phase der Filmpromotion steht erst bevor, Bücher über die Neuverfilmung werden eventuell noch erscheinen. Barrios konzentriert sich in erster Linie auf den Film von 1961 und auf die erste Broadway-Produktion. Sein Werk ist eine Fundgrube an Geschichten und Fakten und nicht zuletzt auch an Fun Facts. So kosteten etwa Tickets für die Broadway-Produktion der »West Side Story« 1957 zwischen 2,50 und 8,05 Dollar (für die 2020er-Produktion zahlt(e) man zwischen 49 und 299 Dollar). Für die Filmrechte bezahlten die Produzenten bescheidene 350.000 Dollar. Nur wenige Jahre später wechselten für die Rechte an »My Fair Lady« 5,5 Millionen Dollar die Besitzer. Der Grund dafür? Geringe Erwartungen an die verfilmte »West Side Story«, immerhin lief die erste Broadway-Produktion weniger als zwei Jahre (732 Vorstellungen), »My Fair Lady« dagegen mehr als sechs (2712 Vorstellungen). Leonard Bernstein und Stephen Sondheim akzeptierten in ihren Verträgen einen Paragrafen, der besagte, dass sie für (zusammen) 7500 Dollar drei neue Songs für den Film schreiben würden, sofern das die Produzenten wünschten. Das Produktionsbudget für den Film betrug am Beginn fünf Millionen Dollar.
Detailliert schildert der Autor den Entstehungsprozess des Films, etwa die anstrengenden Tanzszenen. »The dancers spent hours, days even, down on their knees, and found to their great pain that the knee pads they wore offered precious little protection. Finally, after the directors ordered ‚Print‘ for the last time, they gathered up those pads for a ceremonial bonfire. […] the blaze occurred in front of [Jerome] Robbins’s office.The aching knees, sore muscles, and pneumonia were not isolated cases by any means. Susan Oakes’s knee was punctured by a nail when she jumped down onto the floor, and there were countless torn ligaments, sprains, shin splints, scrapes, and burns, as well as dehydration and mononucleosis.«
Kleines Detail am Rande: Der Designer des Logos der »West Side Story«, also der Kombination aus Schrift, Stiegen und stilisierten Tänzern, stammt von Joseph Caroff, einem Künstler des Grafikgewerbes, der später mit seinem Design des 007-Logos der James-Bond-Filme in die Geschichte einging.

Richard Barrios: West Side Story. The Jets, the Sharks, and the Making of a Classic. Turner Classic Movies, Inc. / Running Press. Hachette Book Group, New York 2020. 232 Seiten. (Hardcover) ISBN 978-0-76-246948-2. $ 28,00. runningpress.com

PS: Aufgrund der Pandemie-Dynamik wurde der Premierentermin auf Ende 2021 verschoben.

Stacy Wolf: »Beyond Broadway«

stancy_wolf.jpgAm 5. November 1987 ging im Martin Beck Theatre (heute: Al Hirschfeld Theatre) nach 43 Previews die Broadway-Premiere von Stephen Sondheims Musical »Into the Woods« (ITW) über die Bühne. Die Kritiker reagierten damals, sagen wir, nicht überschäumend. Frank Rich schrieb in der »New York Times«: »Unfortunately, the book is as wildly overgrown as the forest. […] Mr. Sondheim’s numerous songs, though often outfitted with incomparably clever lyrics, sometimes seem as truncated as the characters, as if they were chopped off just when they got going to make way for the latest perambulations of the book.[…] The show stands still during the huffing and puffing of voluminous plot information. Worse, the convoluted story has a strangulating effect on the musical’s two essential sources of emotional power, its people and its score.«
Drei Tony Awards und 765 Vorstellungen. Es wurde kein Flop für Sondheim, doch dessen Blick auf diese Show war ohnedies ein gänzlich anderer: Er spekulierte damit, mit ITW einen Moneymaker für den Rest seines Lebens im Köcher zu haben. In seinem Buch »Look, I Made a Hat« (2011) schrieb er: »At one point in the collaborative joy of our early discussions I brashly predicted that if the piece worked, it would spawn innumerable productions for many years to come, since it dealt with world myths and fables and would therefore never feel dated.« Sondheim spürte: »[ITW] would appeal to schools and amateur theatres as well as professional ones, expecially in conservative parts of the country which are hesitant to support shows that deal with contemporary themes in contemporary ways and use four-letter words (there are none in the show). I predicted that ITW could be a modest annuitiv for us.«
Im vorliegenden Buch analysiert Stacy Wolf, was alles »beyond Broadway« in Amerika über die Bühne geht und wiederum erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass Broadway-Shows überhaupt entstehen können. Ein Standbein ist das High School Musical, das sie ausführlich anhand von ITW auf etwa 46 Seiten untersucht. Warum diesem Werk Sondheims ein solcher Stellenwert eingeräumt wird? In den 2010er-Jahren erreichte ITW zum ersten Mal die Top 3 der »Most Popular High School Musicals«, die NPR für jede Dekade zusammengestellt hat. Es landete auf Platz zwei nach »Beauty and the Beast« und vor »Little Shop of Horrors«, »The Addams Family«, »The Wizard of Oz« und »Seussical«. In den 1990er-Jahren hatte die Show Platz 13, in den 2000er-Jahren Platz 7 belegt. Wie viele Schulproduktionen von ITW stattfinden, lässt sich nicht beziffern. Stacy Wolf schreibt von Hunderten pro Jahr. Seit drei Jahrzehnten also bewahrheitet sich die Prognose Sondheims.
Jede Schule setzt bei ihrer Inszenierung auf andere Schwerpunkte. Die Autorin hat sich drei Schulen und ihre Umsetzungen näher angesehen. Sie porträtiert die Bildungsstätten, die Lehrer, die Schüler, schildert die Proben … Natürlich kommt sie auch auf die Kosten zu sprechen. So hat die Worthington High School in Worthington, Minnesota, dem Lizenzgeber MTI 365 Dollar pro Vorstellung an Lizenzgebühren bezahlt, plus 600 Dollar für Text- und Notenmaterial sowie 100 Dollar extra, damit die Schüler schon vor den Weihnachtsferien über das Material verfügen konnten und genügend Vorbereitungszeit hatten. Große Ausgaben für eine kleine Schule mit 823 Schülern. Die Aufführungen fanden in Worthingon in einem Art-deco-Theater mit 680 Sitzplätzen statt, das 1931 errichtet worden war. Erst vor Kurzem wurde in eine moderne Lobby investiert. Vor drei Jahren brachte die Schule eine Produktion von »Little Mermaid« auf die Bühne. Die Studenten entwarfen und fertigten dafür derart beeindruckende Kostüme, dass die Schule diese seitdem gegen ein Entgelt verleiht und so die Kosten für neue Shows gegenfinanzieren kann. Man lernt viel aus den Erzählungen Stacey Wolfs über die Probenarbeiten. Etwa welche Probleme sich bei dieser komplexen Show für junge Darsteller ergeben und wie Schulen versuchen, eine bestimmte Thematik, die ihnen wichtig ist, zu betonen. An der Garrison Forest School etwa, einer Privatschule für Mädchen in Baltimore, Maryland, nutzte man ITW, um das Thema Rassismus nach dem Tod von Freddie Gray aufzuarbeiten. Gray war 2015 nahe seiner Wohnung in einem von Armut und Kriminalität geprägten Viertel der Stadt Baltimore wegen des Vorwurfs verhaftet worden, im Besitz eines illegalen Springmessers zu sein. Zu diesem Zeitpunkt war Gray bei guter Gesundheit. Ihm wurden Handschellen und Fußfesseln angelegt, er wurde im Arrestantenwagen aber nicht angeschnallt. Eine Stunde später lag er mit einer schweren Wirbelsäulenverletzung im Koma und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Er starb sieben Tage später. Die Polizisten, die ihn verhaftet hatten, stritten ab, Gray misshandelt zu haben. Keiner der sechs Polizeibeamten wurde verurteilt. Die Hinterbliebenen erhielten von der Stadt Baltimore 6,4 Millionen Dollar, damit sie auf eine Klage gegen die Stadt verzichteten. An der San Francisco Jewish Community School wiederum wurde die Show dafür verwendet, jüdische Werte zu thematisieren. Stacy Wolf liefert anschauliche Milieuschilderungen, mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben.
Die Autorin, heute Professorin am Lewis Center for the Arts an der Universität Princeton, war in ihrer Kindheit selbst begeisterte Darstellerin in Schulaufführungen und hatte mit elf Jahren schon in Produktionen wie »The Sound of Music«, »The King and I«, »The Music Man« und »How to Succeed in Business Without Really Trying« mitgewirkt. Tanzunterricht bekam sie in einem sogenannten Dinner Theatre. Dinner Theatres ist ein zweites großes Kapitel in diesem Buch gewidmet. Sie entstanden 1959 in Chicago oder 1960 in Washington, DC, zuerst in den Stadtzentren, danach wanderten sie in die Vororte ab. Ihre Blütezeit erlebten sie Mitte der 1970er-Jahre., als es amerikaweit mehr als 250 von ihnen gab. Professionelle Darsteller boten das Broadway-Repertoire für die Zuschauer zu einem Schnäppchenpreis, zudem wurden auch noch Häppchen bzw. eben ein Dinner serviert. Die Autorin besuchte einige heute noch existierende Dinner Theatre in Colorado und schildert, welch wichtige Funktion sie in ihrer Region besitzen.
Weitere Kapitel sind der Bedeutung des Community Theatre gewidmet, dem »Musical Theatre at Girls’ Jewish Summer Camps«, dem »Outdoor Summer Musical Theatre« (am Beispiel von »The Sound of Music«) und der Firma Disney, deren Marketingstrategien ausführlich besprochen werden. Etwa am Beispiel von »Newsies«. »[The show] was never intended to enjoy a long Broadway run. The musical just needed to play in New York long enough to earn the as seen on Broadway imprimatur. For Disney, scores of local productions of Newsies were always the goal. In this way, local musical theatre, more and more, inspires the repertoire.«
Im Epilog schreibt Wolf: »Beyond Broadway tells a story about entertainment, civic engagement, community conections, identity formation, and creative expression. It also tells stories about the value and importance of doing something for fun. […] These stories are about kids who do musical theatre with no professional aspirations, about adults who spend their leisure time working at a theatre, and about the professionals who sustain a vast national network of local, often amateur practices. […] In a 2011 New York Times article, Robin Pogrebin observes that much of America’s artistic activity does not happen in major recital halls and theaters, but rather in places like Lucas, Wichita and Junction City, Kansas. My travel across the United States proved this to be true.« Lesenswert.

Stacy Wolf: Beyond Broadway. The Pleasure and Promise of Musical Theatre Across America. Oxford University Press, New York 2020. 384 Seiten. (Softcover) ISBN 978-0-19-063953-2. $ 29.95. oup.com

Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall) (2020)

Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall).22 Titel umfasst die Buchserie »The Fourth Wall«, die der Verlag Routledge 2016 mit einem Band zu Harold Pinters »Party Time« startete. Der Verlag charakterisiert die Reihe folgendermaßen: »Fourth Wall books are short, accessible accounts of some of modern theatre’s best loved works. They take a subjective but easily digestible approach to their topics, allowing their authors the opportunity to explore their chosen subject in a way that is absorbing enough to be of use both to lovers of theatre and those who are being asked to study a play more deeply. Each book in the series looks at a specific play, variously exploring its themes, contexts and characteristics while prioritising original, insightful writing over complexity or scholarly weight.« Acht Bände widmen sich Musicals: »My Fair Lady«, »Sunday Afternoon«, »Into the Woods«, »Sweeney Todd«, »Les Misà©rables«, »Hedwig and the Angry Inch«, »The Book of Mormon« und, 2020 erschienen: »The Sound of Music«.
Eine erstaunliche Verlagsstrategie vorab. Band 1 (»Party Time«), ist (nach wie vor) in drei Kaufformaten erhältlich. Das 70 Seiten starke Buch kostet in der Hardcover-Ausgabe nicht weniger als 160 Pfund, als E-Book & Paperback 8,99 Pfund. 2017 senkte man den Hardcover-Preis neu erscheinender Titel auf 120 Pfund, seit 2018 werden keine Hardcover-Ausgaben neu veröffentlichter Werke dieser Serie angeboten. Nicht wirklich verwunderlich.
Julian Woolworth, Schauspielschulleiter, Regisseur und Schriftsteller, analysiert in seinem Büchlein zu »The Sound of Music« in erster Linie das Bühnenmusical, widmet sich aber auch den Filmversionen. Seine Methodik beruht darauf, Bezüge herzustellen. Er ordnet ein, etikettiert. So zeigt er Parallelen zwischen »The Sound of Music«, »King and I« auf. Das Musical sei »a rewrite of The King and I, a kindly governess battles a despotic father for the love of the children and brings liberalism into the household«m verortet das Werk in der Biografie von Rodgers und Hammerstein in vielerlei Hinsicht, flicht ein, dass »Edelweiss« das letzte gemeinsam geschriebene Lied ihrer letzten gemeinsamen Show sei. Er vernetzt das Musical mit der Gegenwart, etwa indem er die Bedeutung des Songs »Edelweiss« als Titelmelodie (gesungen von Jeanette Olsson) der nach einer literarischen Vorlage von Philip K. Dick entstandenen Fernsehserie »The Man in the High Castle« (Amazon Studio, 2015–2019) analysiert. Die Methode der Amerikaner, aus der Geschichte der Trapps und dem deutschsprachigen, in den USA gefloppten Film »Die Trapp Familie« (1956) letztlich einen Erfolg auf der Bühne und im Film zu machen, bezeichnet er als »Ghosting«: »As is so often the case with true stories, the effect is to alter the perception of the real events so that, after time, audiences believe they are seeing something that is closer to the truth than they actually are in reality and the adaptive choices made by writers are ignored. This is sometimes referred to as ghosting; a process by which stories become reinterpreted creatively and the true story becomes merely a ghost in the background.« Ein eigenes Kapitel ist dem späten Erfolg der Bühnenversion in Österreich gewidmet, hier illustriert er auf amüsante Weise, welche Bedeutung die Show da hat: »In 2014 a contestant on Die Millionen Show was asked a € 70,000 question that would surely have been in an earlier round in any other country: What small flower is the title of a song from The Sound of Music?. The contestant didn’t know the answer and, even after phoning a friend, she chose another flower, despite Edelweiss being the national flower of Austria.« Flott geschrieben, interessante Details als Highlights. Empfehlenswert.
Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall). Abingdon 2020. 74 S.; (Paperback) ISBN: 978-1-138-68283-2. £ 6.99 routledge.com

Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter (2020)

Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter.Deutschland 1932. Die Brüder Peter und Alfred Rotter bespielen neun Theater: das Metropol-Theater (dessen Kern in der heutigen Komischen Oper erhalten geblieben ist), das Theater des Westens, das Lessing-Theater, den Admiralspalast, Lustspielhaus, Zentraltheater Berlin, Zentraltheater Dresden, Alberttheater Dresden, Mellini-Theater Hannover. Für Komödien und Dramen haben sie auch noch das Deutsche Künstlertheater und das Theater in der Stresemannstraße (heute: Hebbel am Ufer) in ihrem Portefeuille. Und die Plaza in Friedrichshain mit 3000 Sitzplätzen. Sie manövrieren mit Wagemut zwischen Erfolg und Bankrott, mitten in der Wirtschaftskrise.
In der Weimarer Republik galten die Rotters als die Theatermacher, 1929 schrieb die »New York Times«: »The Berlin operetta situation is in the hands of the Rotter brothers.« Kaum ein Operettenschlager dieser Zeit, der nicht auf ihren Bühnen seinen Ausgang genommen hat: »Friederike«, »Land des Lächelns«, »Ball im Savoy«. Aber »in Wirklichkeit sind die Rotters […] längst weiter – auf einer neuen Spur. Ralph Benatzkys Mit dir allein auf einer einsamen Insel nach einem Libretto von Arthur Rebner weist bereits den Weg zum deutschen Musical. Diese Benatzky-Operette, die zuvor am Residenz-Theater in Dresden – ebenfalls eine Rotterbühne – uraufgeführt worden ist und mächtig eingeschlagen hat, kommt im Mai 1930 ausgereift ans Metropol-Theater, dem Haupthaus der Rotters, und verdrängt Tauber und Das Land des Lächelns in die Abspielstätte Theater des Westens. Benatzky entwickelte das musikalische Singspiel – ein Genre, in dem er führend wurde.«
Kamber, ein Schweizer Soziologe, Theater- und Romanautor sowie Journalist, der in Berlin lebt, beschäftigte sich viele Jahre mit der Biografie der Berliner Theaterdirektoren Peter und Alfred Rotter. Sein Buch ist akribisch recherchiert, jedes Detail mit überprüfbaren Fakten untermauert. Es ist erstaunlich, was er an Daten und Geschichten aus den zeitgenössischen Quellen zu dieser packenden Biografie destillieren konnte. Und der Verlag Henschel hat diesem Buch ein elegantes Layout (Layout/Satz von flamboyant) anpassen lassen: liebevolle Details, perfekte Papierwahl, ein Lesebändchen, eine Vielzahl an Bildern, wirksam eingesetzt. Ein Traum von einem Buch in jeder Hinsicht für alle, die an Theatergeschichte interessiert sind.
Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter. Henschel, Leipzig 2020. 504 Seiten.; (Hardcover) ISBN 978-3-89487-812-2. € 26,–. henschel-verlag.de

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals (2019)

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals (2019)Dan Dietz hat wieder zugeschlagen und seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« ergänzt – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2000er-Jahren geschlossen vor. Wer alle neun Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5088 Seiten zu einem Preis von rund 1300 US-Dollar.
Für die Statistiker ist dies eine wunderbare Edition. Man kann anhand der Daten spannende Zeitläufte ablesen. Wobei die 1920er-Jahre geradezu eine Blütezeit darstellen. Für diesen Zeitraum listet Dietz eine Einheit von 287 Book Musicals, neuen Opern sowie Book Musicals, die in Europa entstanden sind und am Broadway ihre US-Premiere feierten, auf. Diese Musicals aus Europa wurden im Allgemeinen mit zusätzlichen Songs amerikanischer Texter und Komponisten bestückt. Im Jahrzehnt darauf war die Situation bereits eine ganz andere: In den 1930er-Jahren gab es nur mehr 128 Produktionen dieser Art. Und bis zu den 2000er-Jahren sank der Output auf 57 Produktionen.
Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er Jahren lassen sich interessante Zahlenabfolgen ablesen: Die Anzahl der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) entwickelte sich folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37. Dem entspricht die Risiko-Kurve: Von den 1930er- bis zu den 2000er Jahren überstanden immer mehr Shows die Tryout-Phase: Am höchsten war die Anzahl der Shows, die es nicht bis zur Premiere schafften, in den 1940ern (56), in den 1970ern waren es 29 Produktionen und in den 1990ern und 2000ern 16 bzw. 13.
Aber zurück in die wilden Zwanziger: Was die Long Runs dieses Jahrzehnts betrifft, so brachten es 18 Shows auf mehr als 400 Vorstellungen. Die Top 3: »The Student Prince« (608 Vorstellungen; Buch/Texte: Dorothy Donnelly; Musik: Sigmund Romberg), »Show Boat« (572 Vorstellungen; Buch/Texte: Oscar Hammerstein II; Musik: Jerome Kern) und »Sally« (570 Vorstellungen; Buch: Guy Bolton; Texte: Clifford Grey; Musik: Jerome Kern).
Nicht in den Top 3 vertreten, aber als größte finanzielle Erfolge des Jahrzehnts gefeiert: »No, No, Nanette« (Buch: Otto Harbach, Frank Mandel; Texte: Irving Caesar, Otto Harbach; Musik: Vincent Youmans) und »Rose-Marie«/Texte: Otto Harbach, Oscar Hammerstein II; Musik: Rudolf Friml, Herbert Stothart), die auf Tourneen erfolgreich waren und sich international durchsetzen konnten.
Von »No, No, Nanette« gab es in 27 Ländern Produktionen, am Broadway reichte es indes nur für 321 Vorstellungen, und das, obwohl aus dieser Show die Evergreens »Tea for Two« und »I Want to Be Happy« stammen. Bereits vor der Broadway-Premiere (16.9.1925, Globe Theatre, dem heutigen Lunt-Fontanne Theatre) wurden am 14. Mai 1925 die Notenblätter zu »No, No, Nanette« publiziert. »Tea for Two« wurde zum Hit und danach zum Evergreen, von dem mehr als 80 Coverversionen veröffentlicht wurden. 1963 zählte das Lied zu den 16 erfolgreichsten Musikwerken aller Zeiten. Aber worauf ist das bescheidene Abschneiden des Musicals damals in New York zurückzuführen? Zum einen auf eben die erfolgreiche Tour vor der Broadway-Premiere, absolviert von drei parallel spielenden Companies mit mehrmonatigen Spielserien in Detroit, Chicago, Boston und Philadelphia. Sechs Monate vor der New Yorker Premiere war das Musical auch in London schon am Spielplan. Und dann war da noch etwas: »The season was rich in new hits, and in fact Nanette’s opening was part of a history-making Broadway week. Within the seven-day period of Nanette’s premiere, three other successes opened (Richard Rodgers and Lorenz Hart’s Dearest Enemy, Rudolf Friml’s The Vagabond King, and Jerome Kern’s Sunny), and never before and never again would four consecutive smash hit musicals open during such a short time period. And soon more new shows were on the boards, some hits, others not, but all in all, they constituted more choices for the public: Jerome Kern’s The City Chap, Sigmund Romberg’s Princess Flavia, Irving Berlin’s The Cocoanuts, the Gershwins’ Tip-Toes, George Gershwin (and Herbert Stothart’s) The Song of the Flame, and Rodgers and Hart’s The Girl Friend. In addition to a number of well-received revues, there were hold-overs from the previous season, including Rose-Marie, The Student Prince in Heidelberg, and Louie the 14th.
Die ausführliche Beantwortung solcher Fragen macht die Schmöker von Dan Dietz so lesenswert. Es handelt sich nämlich natürlich auf der einen Seite um Nachschlagewerke mit enzyklopädischem Charakter. Für jede Show gibt es Angaben zu Aufführungsort, Premierendatum, Anzahl der Aufführungen, Kreativteam, Cast; eine Auflistung aller Songs und Awards sowie eine Inhaltsangabe. Zusätzlich jedoch liefert Dietz ausführliche Kommentare und Texte etwa zur Rezeptions- und Produktionsgeschichte, seine Einschätzung, Bewertung anhand von Kritiken und Zeitungsartikeln und Angaben zu etwaigen Revivals. Im Fall von »Nanette« kam es am Broadway 1971 zu einer Neuproduktion (Premiere 19.1.1971 im 46th Street Theatre, dem heutigen Richard Rodgers Theatre), die es auf 863 Aufführungen brachte. 1986 gingen fünf konzertante Vorstellungen in der Carnegie Hall über die Bühne, 1988 kam es zu 32 Vorstellungen einer Produktion der New Yorker Equity Library, und schließlich gab es am 8. Mai 2008 einer Aufführung im Rahmen der Encores!-Serie im New York City Center. Auch für all diese Produktionen liefert Dietz interessante Facts. Weiters bespricht er die Verfilmungen des Musicals aus den Jahren 1930, 1940 und 1950 (»Tea for two«) und noch so vieles mehr.
Reichlich Stoff zum Nachschlagen und Googeln bieten die diversen Anhänge. Etwa jener, der Shows auflistet, die ihre Proben-Phase nicht überlebten. Da findet man etwa 1929 »The Dutchess of Chicago« (»Die Herzogin von Chicago«), Emmerich Kà¡lmà¡ns Operette, die 1928 ihre Uraufführung im Theater an der Wien erlebt hatte. Besser erging es einer Produktion, die 1924 im Theater an der Wien ihre Uraufführung hatte und am 18. September 1926 ihre Broadway-Premiere feierte: »Countess Maritza« (»Gräfin Maritza«), ebenfalls von Emmerich Kà¡lmà¡n und mit 321 Vorstellungen ein Erfolg.
Hoffentlich lässt Dietz demnächst noch einen Band zu den 2010er-Jahren nachfolgen.

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2019. 652 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-1281-6. $ 150,–. rowman.com

Wiener Volksliedwerk: »Musiker.Leben 2«

Im Wiener Volksliedwerk ist noch ein Mal am kommenden Samstag, dem 29.2. (Beginn: 19:30 Uhr), »Musiker.Leben 2« mit Bettina Bogdany, Daniela Fuchs, Hannah Berger und Gerhard Maxymovitz zu sehen. Idee und Konzept zu diesem Theaterabend mit Musik stammen von Erhard Pauer, der auch inszeniert hat.
Die Idee hinter dieser Produktion: Ein Mal im Jahr kommen die vier Protagonist*innen dieses Projekts zusammen (heuer das zweite Mal), erzählen von Wendepunkten in ihrem Leben und singen Lieder, die Teil des Soundtracks ihres Lebens geworden sind.
Im Fall von Bettina Bogdany ist ein Song zu hören, den sie komponiert. Komponiert …, weil er noch nicht fertiggeschrieben ist. Aber wann ist ein Song fertig, und wann weiß man, ob man die richtige Richtung im Leben oder in der Arbeit (was man, lebt man etwa in freien Berufen, nicht trennen kann) eingeschlagen hat? Es ist ein Abend, der nicht gescriptet ist, der jederzeit eine eigene Dynamik gewinnen könnte. Es ist kein Abend, in dem gelacktes Schauspiel geboten wird. Erhard Pauer hat mit den Darsteller*innen in Gesprächen den Verlauf der Show abgesprochen, gemeinsam hat das Ensemble einen sehr persönlichen Abend entwickelt, der vom authentischen Tonfall lebt und deswegen zu berühren vermag, weil jeder im Publikum ähnliche Schicksalsschläge oder Triumphe wie die erzählten selbst durchgemacht oder gefeiert hat.
Diese Show findet auf einem Gebiet statt, das Musicals immer seltener betreten: jenem echter Gefühle. Ein interessanter Aspekt: Bettina Bogdany singt unter anderem diverse Songs aus Produktionen von Disney, dem Spezialisten für gefühlsfreie Unterhaltung. Aber ebenso einen Song von Michael Legrand – und zwar gerade in dem Moment, in dem es um ein einschneidendes persönliches Erlebnis geht. Es mag nicht beabsichtigt gewesen sein, doch treffender kann man Songs, die Gefühle triggern (wie es Disney-Songs oft tun, die Erinnerungen an die Kindheit auslösen, aber selbst völlig steril in ihrer schleimerischen Vorgaukelei von Gefühlen sind. Milan Kundera würde das als »Kitsch« bezeichnen, der »zwei nebeneinander fließende Tränen der Rührung hervorruft. Die erste Träne besagt: wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: wie schön ist es doch, gemeinsam mit der ganzen Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein!«) und Songs, die echte Gefühle auslösen, kaum einsetzen.
Infos und Tickets gibt es –>hier.

Musical Unplugged 2020 in Wien: Dragqueens, Hingabe, tote Orchestermusiker & Repertoire

1|Dragqueens
2004, vor 16 Jahren, gastierte Patti Labelle im Rahmen des Jazz Fest Wien in der Wiener Staatsoper. Es war ihr zweites Wien-Konzert, einige Jahre davor hatte sie einen legendären Auftritt im Wiener Konzerthaus. An den konnte sie nicht mehr ganz anschließen, aber ihre Diva-Glanzmomente hatte sie auch in der Staatsoper.
Ein wichtiger Teil ihres Showprogramms war und ist Publikumsbeteiligung. Labelles Performance lebt davon, das Publikum in ihre Performance zu inkludieren. Spürt sie die Zuschauer, zieht sie daraus das bisschen mehr an Energie, das aus einem guten einen sensationellen Auftritt macht. Mal holt sie Freiwillige zum Tanzen auf die Bühne, mal soll kurz jemand aus dem Publikum mitsingen … Bei jenem Konzert 2004 in der Wiener Staatsoper hielt es einen jungen Mann neben mir nicht mehr am Sitz, als die Frage nach einem Freiwilligen zum Mitsingen kam. Er sprang auf und lief nach vorn. Auf der Bühne bekam er seine Momente, danach kehrte brav zu seinem Sitz zurück. Interessant fand ich in den letzten 16 Jahren des Öfteren, wie dieses Mitsingen eines Zuschauers marketingmäßig verpackt wurde. Der junge Mann, so fand ich einige Zeit später heraus, war Musicalstudent gewesen, strebte dann scheinbar (wie so viele Musicalstudenten) eine Popkarriere an, landete bei einer Song-Contest-Vorausscheidung (dem fast sicheren Ende jeder Popambition in Österreich) und gründete schließlich eine Gospel-Formation. Er arbeitete als Musicaldarsteller, Choreograf, er unterrichtet. Mal hieß er Danià¨l Williams, dann Sankil Jones, seit 2018 nennt er eine Bühnenpersönlichkeit, die er geschaffen hat, Naomi King. Als Dragqueen Naomi King stand er 2020 bei der hier besprochenen Ausgabe der Konzertserie »Musical Unplugged« auf der Bühne des Studio 44. King verpasste ihren Auftritt, vergaß ihren Text, setzte falsch ein – und entsprach mit diesen inszenierten Hoppalas einigen der Klischeevorstellungen, die man von Dragqueens haben könnte. Trotz all dieser spaßigen Mätzchen servierte King eine eher relaxte Vorstadt-Dragqueen-Performance, positiv formuliert passte sie ihr Exaltiertheitsniveau dem gegebenen Rahmen an. Teile des Publikums lachten, damit entsprach die Performance auch der üblichen Auffassung: »Men in drag are funny; women in drag are powerful, and so dangerous.« Überzeugt hat mich dieser Teil der Performance von King nicht ganz. Interessant fand ich aber einen anderen Aspekt. Singt eine Dragqueen Songs von Levay/Kunze, bekommt ein Lied wie »Gold von den Sternen« eine doch andere Bedeutung. Das war clever gewählt. Die hinter dem Auftritt stehende Textarbeit war großartig. Probleme bei der Intonation irritierten zwar den ganzen Abend über, ebenso wie das ein wenig zirkushafte Wechseln vom derben Brustregister in die Höhen und Tiefen, aber was rüberkam, war die Stimme als inszeniertes Naturereignis mit überraschenden souligen Phrasierungen. Zwar scheinbar schwer zu kontrollieren, aber doch so eingesetzt, dass man sich dem Zauber nicht entziehen konnte. Insbesondere dann, wenn King bei Duetten einen Partner hatte, der willens war, die Dragqueen nicht zu überpowern. Christoph Apfelbeck ließ bei »Wenn ich tanzen will« King dominieren, machte mit seiner einfühlsamen Interpretation das Spiel mit der Herbheit der Queen zu einem Höhepunkt des Konzerts.

2|Hingabe und tote Orchestermusiker
Meine ersten beiden Besuche von Konzerten der Serie »Musical Unplugged« waren stark von der Persönlichkeit des jeweiligen musikalischen Leiters geprägt.

Florian C. Reithner präsentierte sich (2012) als zynischer Musicalhasser. Die Grenze, die den Ernst von der Attitude trennte, konnte man als Zuschauer nicht ausmachen. Das war Teil des Konzepts. Reithner spielte furiose Klaviersolos mit querbeet darin verwobenen musikalischen Zitaten. Er legte es darauf an, das Publikum so weit zu locken, bis es verloren war. Erkennen Sie die Melodie? Der Spaß war groß. War ein Seitenhieb aufs Musicalgenre besonders gelungen, wurde er mit einem Schluck Bier runtergespült. Seit 2016 steht Reithner in den Diensten der VBW (Audience Development, Education). Abgang.

Walter Lochmann, der zweite musikalische Leiter, den ich erlebt habe (2018), begleitet Sänger nie einfach nur, seine Körpersprache, seine Mimik strahlen seine Liebe zum Beruf aus. Er ist Dirigent und Orchester gleich dazu, überbordend, immer im Fluss der Melodie. Durch seine Hingabe ist es unmöglich, sich Lochmanns Wirkung zu entziehen. Der ehemalige Dirigent des Orchesters der VBW, kann, wenn er will, mit ganz feiner Klinge die Musicals, die die VBW im Programm haben, satirisch sezieren. Levay gegen Sondheim etwa, das gab’s einmal im Rahmen eines Lochmann-Auftritts in einem anderen Rahmen. Seitdem wünsche ich mir genau eine solch intelligente Musicalparodie-Show. Allein, Walter Lochmann scheint das Interesse an der Satire verloren zu haben. Man kann es ihm nicht verübeln. Derzeit geht es »Kritikern« mit den VBW wie Elfriede Jelinek mit der Regierung. In einem kleinen Begleittext zu ihrem neuen Bühnenstück »Schwarzwasser« schreibt sie:

»Ich möchte mich gern als Warnerin sehen, aber wahrscheinlich bin ich doch nur eine Nachahmerin, bestenfalls eben eine Parodistin von etwas, das jedoch ohnedies schon seine eigene Parodie ist. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine, singt und sagt Brecht im Lied von der Moldau. Genau das versuche ich. Das Große hinunterzuzerren und das Kleine groß zu machen (aus Gernegroßen können monströse Verbrecher werden), ja, das ist es vielleicht.«

Vielleicht packt ja Lochmann doch mal wieder die Lust, sich an dem, was sich bei den VBW musikalisch (nicht) tut, lustvoll am Piano abzuarbeiten.

Michael Römer war der dritte musikalische Leiter, den ich im Rahmen von Musical Unplugged, eben beim hier besprochenen Abend am 13. Jänner 2020, erlebt habe. Er hat seine Sache gut gemacht, bei ihm stand die Funktion des Begleiters im Vordergrund. Keine Solos, keine Mätzchen. Solide Arbeit.
Römer wirkt auf mich stets wie ein überaus loyaler Mitarbeiter der VBW. Im August des Vorjahres, als in den sozialen Medien mal wieder die Mär verbreitet wurde, das Orchester der VBW verfüge über einen »Pool von 80 Musikern«, habe ich mir erlaubt, das auf Facebook satirisch zu hinterfragen mit folgendem Text:

»Wenn jemand in einem Forum schreibt, dass das Orchester der VBW über einen Pool an 80 Musikern verfügt, ist das dann: a) unwahr, b) eine Lüge c) ein Zeichen von Unwissenheit oder d) eine sehr kreative Interpretation des Begriffs Pool.«

Michael Römer kommentierte:

»Inwiefern eine Lüge? Weil es faktisch mehr sind???« [Er hatte noch einen Smiley dazugesetzt.]

Die Taktik, wortwörtlich, und zwar ausschließlich wortwörtlich, zu interpretieren, macht jegliche weitere Diskussion sinnlos. Wer der Meinung ist, ein Orchester bestehe aus einem Pool an Musikern, hat eine Auffassung des Begriffs »Orchester«, die man sicher vertreten kann. Um zu verdeutlichen, was ich jedoch meinte, wäre lediglich eine simple Zahlenreihe nötig: Anzahl der fix angestellten VBW-Orchestermitglieder mit voller Verpflichtung 1987, 1990, 1995, 2000, 2005, 2010, 2015 und 2020. Ein Pool ist kein Orchester. Danke.

Ein ähnliches Verständigungsgproblem hatten Michael Römer und ich bereits bei einem anderen Thema, das Orchester der VBW betreffend. Konkret ging es um die »Struktur« des Orchesters. Ich hatte bei einem Organigramm, das auf der Website der VBW zu sehen ist, angemerkt, dass statt eines »Musikdirektors« nun ein »Orchestermanager« an oberster Stelle abgebildet erscheint. Das ist übrigens bis heute so (siehe -> hier)

Der Ausgangspunkt.
Anfang 2017 verabschiedete sich Koen Schoots als Musikdirektor des Hauses. Die VBW schrieben seine Stelle öffentlich aus. Mit 1. Oktober 2017 sollte die Stelle des »Musikdirektors der Musicalbühnen der VBW« neu besetzt werden. Einen Nachfolger haben die VBW indes bis heute nicht bestellt.

Am 21. April 2018 merkte ich dazu an:

»Ein Jahr bald ist Koen Schoots nicht mehr Musikdirektor der VBW. Bis jetzt wurde der Nachfolger nicht bekannt gegeben. Stattdessen hat man einen Orchestermanager eingesetzt. Gründe? Eingesetzt ist falsch. Man hat ihn an die Spitze der Hierarchie gesetzt. Noch absurder.«

Michael Römer kommentierte:

»Welche Hierarchie meinen sie?!?!? Das wär mir jetzt neu wenn wir was verpasst hätten. Zumal es den Orchestermanager auch schon zu Koens Zeiten gab mit gleichen Standing?«

Bruny: Die Hierarchie, wie sie optisch auf der Website zu sehen ist. Es fehlt nach wie vor der Musikdirektor, an seiner Stelle steht der Orchestermanager.

Römer: Yep. Stimmt auch so. Die Dirigenten gehören von den Dienstverträgen her in eine andere Kategorie des Organigrams. Wir haben künstlerische Verträge, das Orchester einen anderen Kollektivvertrag. Aber ich verstehe was sie meinen. Das ist auf der reinen Orchester Mobilview Seite irreführend. Danke für den Hinweis.

Bruny: Wo würde denn ein Musikdirektor in diesem Organigramm stehen?

Römer: Beim Orchester sicherlich der Optik halber, aber direkt an die Intendanz gebunden. Bitte noch zu warten. Es ist alles in Arbeit. Wie gesagt … wir haben andere Verträge als unsere Musiker. Sonst müssten Carsten und ich ja auch als MDs beim Orchester für die laufenden Produktionen stehen. Über der Position des Managers.😬
Sie können also den Artikel von ihnen gerne korrigieren oder quasi löschen, da er so nicht stimmt.

Diese Unterhaltung ist nun bald zwei Jahre her. Ja, selbstverständlich werden die Dirigenten des Hauses nicht unglücklich darüber sein, dass durch die Nichtbesetzung des nach wie vor vakanten Postens des Musikdirektors ihre Stellung scheinbar aufgewertet zu sein scheint. Aber die Funktionen eines Musikdirektors haben sie nicht übernehmen können. Müssen wir uns darüber wirklich unterhalten? Sind die Funktionen eines MDs nicht klar? Sind die Auswirkungen des Fehlens eines MDs nicht evident? Schwache Intendanten engagieren nur selten starke Persönlichkeiten mit Ideen. Vor allem dann nicht, wenn man ihnen ohnedies kein Mitspracherecht bei der Planung einräumen möchte. Inwieweit das nun auf Christian Struppeck zutrifft, kann ich natürlich nicht beurteilen. Das Raimund Theater umbauen zu lassen, ohne eine alternative zweite Spielstätte für die Umbauzeit zu finden, ist allerdings absurd. Dass die Politik nicht reagiert und die Subventionen beinhart kürzt, ist unverständlich.

Zurück zum Orchester. Der Umgang der VBW mit ihrem Orchester ist seit der Ära Struppeck bemerkenswert. Nur ein kleines Beispiel. Mehr als ein Jahr nach dem Abgang von Koen Schoots als Musikdirektor sollte es dauern, bis die Marketingabteilung es schaffte, ein Bild des Orchesters auf die Website des Unternehmens zu stellen, auf dem man Koen Schoots nicht mehr sieht. Das bewerkstelligte man Anfang 2019. Das Foto, das nun nach wie vor hier zu sehen ist, (siehe –> hier) hat einen »kleinen« Makel. Schon Anfang 2019 waren einige abgebildete Musiker entweder in Pension oder bereits gestorben.

3|Repertoire
Die erste Ausgabe von »Musical Unplugged« fand im Jahr 2007 statt. Seit 13 Jahren bringt das Team rund um Florian Schützenhofer Jahr für Jahr mindestens eine Show auf die Bühne. Diese Konstanz ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele Veranstalter in diesem Zeitraum mit ihren Konzertserien bankrottgegangen sind, wie viele Vereine gegründet wurden von Leuten, die sich selbst als einflussreich verkaufen, die versprechen, ihren Einfluss geltend zu machen und karrierefördernd zu wirken und in Wahrheit nur die Zeit von jungen Talenten stehlen und nach der üblichen erfolgsfreien Produktion einen neuen Verein gründen. Von den VBW können wir natürlich auch hier wieder sprechen, die es nicht mal schaffen, regelmäßig Weihnachtskonzerte auf die Bühne zu stellen.
Mindestens zwei Faktoren sind für die Erfolgsserie »Musical Unplugged« ausschlaggebend: Geld und Publikum. Gerade in Zeiten, da es immer schwieriger wird, Sponsoren und Kooperationspartner für Kultur-Events zu finden, ist der finanzielle Aspekt nicht ganz uninteressant. Siehe dazu den offenen Brief von Jakub Kavin, dem Leiter von TheaterArche –> hier.
Ebenso wichtig ist es, nicht nur Publikum zu gewinnen, sondern auch zu halten. Das schaffen die Macher von »Musical Unplugged« unter anderem mit einem Mix aus Songs, der in den letzten 13 Jahren zwar immer wieder leicht variiert wurde, aber nicht allzu dramatisch. Nummern von Levay/Kunze wird man in jedem Programm finden, einen Lloyd-Webber, etwas aus dem Schaffen von Boublil/Schönberg, ganz sicher etwas aus »Tanz der Vampire«. Ein Lied von Frank Wildhorn. Das kann man kritisieren. Ich könnte mir vorstellen, dass man auch mit Songs von Jason Robert Brown (zumindest von seinen Solo-CDs) oder Stephen Sondheim das Publikum begeistern kann, Michael John LaChiusa oder Bill Russell würden sich ebenso anbieten und so viele tatsächlich wenig bekannte Musicalsongs jüngerer Komponisten. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass ein wesentlicher Faktor des »Musical Unplugged«-Konzepts diese Greatest Hits sind, und dann gibt es da noch einen wichtigen Aspekt: den Einbruch des Wahnsinns in die Realität. Wenn also Musical-Urgestein Randy Diamond ein paar Minuten nach einem großartigen »Dies ist die Stunde« (»Jekyll & Hyde«) nicht einen unbekannten Musicalsong vorstellt, sondern die Superschnulze »Delilah« gibt, dann ist die Fassungslosigkeit, mit der der eine oder andere reagieren mag, und ich ganz sicher, beabsichtigt. Dasselbe gilt übrigens für sämtliche Fendrich-Lieder, egal ob sie von den VBW durch den »I Am From Austria«-Kakao gezogen wurden oder nicht, und auch für Songs von Udo Jürgens (diesmal »Bleib doch bis zum Frühstück«). Für die einen sind das skurrile Momente im Rahmen einer soliden Musicalshow, für andere ist Liedgut dieser Art das, was sie lieben. Diese Schrulligkeit von »Musical Unplugged« hat auch einen gewissen Charme.
Noch ein letzter Erfolgsaspekt von »Musical Unplugged«: die Auswahl der Sänger*innen. Sie variiert bedeutend stärker als das Songrepertoire. Seit dem Beginn, also 2007, aber dabei: Jakob Semotan. Mir ist Semotan das erste Mal 2004 in einer Weihnachtsshow des Performing Center Austria aufgefallen. XMAS Dream Reloaded hieß sie (Bilder ->hier). Mittlerweile ist der junge Darsteller schon einige Jahre Ensemblemitglied der Wiener Volksoper und bei »Musical Unplugged« die Power-Stimme. Seine Entwicklung zu beobachten, macht Freude. Highlight in der besprochenen Show vom Jänner 2020: »Ein bissel fürs Hirn und ein bissel für Herz« (»Mozart!«). Mit dem scheinbar so einfachen Lied sind schon so manche Musicaldarsteller ordentlich baden gegangen. Sie könnten eine Masterclass bei Semotan buchen.

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Infos zu »Musical Unplugged« gibt es –> hier.

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