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Theaterablenkungen

So ungefähr zweieinhalb Jahrtausende nach der Premiere habe auch ich eine Vorstellung von «Guys and Dolls” in der Wiener Volksoper besucht. Eine ausführliche Rezension über eine Show zu schreiben, die gerade noch drei Mal am Spielplan steht, das muss nicht unbedingt sein. Auch war ich ja nur als einfacher Konsument in der Show, der viel aufzuholen hat an nicht besuchten Produktionen in den letzten Jahren. Ein paar salopp formulierte Worte wären: behäbige Inszenierung, furioses Bühnenbild, extrem fad wirkender Hauptdarsteller (Herrig), entzückend Sigrid Hauser, und für alle Fans des Operettentimbres Johanna Arrouas, die nicht nur stimmlich, sondern irgendwie auch in ihrer Körperhaltung ein gewisses dominantes Maß an Operette ausstrahlt, das muss man mögen, meine ich, und erlaube mir, es nicht zu mögen in einem Musical, gar nicht. Oder sagen wir so: Die Show war einfach nicht so ganz mein Fall, als einfacher Konsument, der sich nur mal nen schönen Abend machen wollte, kann man ja pauschal so formulieren.
Worauf ich aber kommen wollte, war die Reaktion des Publikums, und da auf sagen wir einer Mikroebene, nämlich das unmittelbar mich umgebende Publikum und dann wiederum die mich umgebenden Sitznachbarn: Vermutlich liegts an mir, vermutlich bin ich zu leicht ablenkbar, kann sein, dass ich auf akustische Störungen unangemessen reagiere, und es ist ja nicht das erste Mal, dass ich darüber schreibe. Eine neue Form der Ablenkung erfuhr ich jedenfalls in eben jener Vorstellung von «Guys and Dolls”. Um diese Ablenkung zu verstehen, muss man sich Fingerkuppen vorstellen, raue Fingerkuppen, vielleicht sogar mit extrem rissiger Haut, ganz ausgetrocknet, Fingerkuppen, mit denen man an feiner Wolle fast hängenbleibt. Mein Sitznachbar hatte solche rauen Fingerkuppen, und ab einem gewissen Zeitpunkt der Show fing er an, mit seinen Fingern an seiner Anzughose zu reiben, an ihr entlangzufahren, vermutlich ein Akt der Ablenkung, Gedankenlosigkeit, der Gewohnheit. Nun sollte man annehmen, dass man dieses Entlangstreichen von rissiger Haut an weichem Anzugstoff nicht allzu laut hören kann, und laut war es auch nicht, aber dieses beständige Geräusch verstärkte sich in Minuten, Viertelstunden, Halbstunden zu einem extremen Störfaktor, dem ich machtlos ausgeliefert war. Denn was hätte ich den armen Mann bitten sollen, ohne merkwürdig zu klingen.
Wie gut, dass von einem hinteren Sitznachbarn leises Schnarchen nach vorn drang, das das beständige Reiben teilweise überlagerte. Doch dann, im Abstand von wenigen Sekunden - KLAPP - KLAPP - KLAPP -, knallten drei der recht schweren und großartig gestalteten Theaterprogramme von anderen drei Besuchern auf den Boden. Dieses dreifaltige - KLAPP - KLAPP - KLAPP - war derart befreiend, unglaublich. Mein Sitznachbar verschränkte seine Hände, der Schnarcher hinter mir war wieder munter, und ich, ich konnte wieder ohne Einschränkung «Guys and Dolls” genießen.