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Archiv - Theater

Linz: »Ghost« (2017)

Eine Show, anhand derer man den Zustand der Musicalkritik derzeit ganz gut belegen kann, ist »Ghost« (Bruce Joel Rubin, Dave Stewart und Glen Ballard). So schreiben die »Oberösterreichischen Nachrichten«: »… und Peter Lewys Preston überzeugt in seiner Darstellung von Carl, Sams vorgeblichem Freund.« Die »Tiroler Tageszeitung« dagegen meint »Lediglich Peter Lewys Preston blieb in der Rolle des Carl etwas blass.« 
Das sind zwei Pole. Man kann nicht »überzeugen« und dabei »blass bleiben«. Waren wir nicht alle in derselben Vorstellung, in der Premiere?
Ich habe Peter Lewys Preston vor seinem Engagement in Linz als Singer/Songwriter schätzen gelernt. Auf seiner ersten (zum Teil per Crowdfunding finanzierten) Solo-CD hat er nicht wie viele andere alte Hadern aus den immer gleichen Musicals nachgesungen oder versucht, sich von Songwritern und Managern mit Billigsdorfer-Pop auf Charts hinschnalzen zu lassen, sondern mit melodiösen Songs überzeugt. In Linz war Preston bisher in kleineren Rollen in »The Full Monty« zu sehen, in einer größeren und mit einem Solo-Song in »Prà©ludes« und schließlich in einer der Hauptrollen in »Ghost«. Was seine Performance in »Ghost« betrifft, so würde ich mich keiner der beiden Kritiken anschließen wollen. Weder war Preston blass, noch hat er vollkommen überzeugt. Stimmlich war er in »Prà©ludes« bei seinem Solosong in der von mir besuchten Vorstellung nicht zu hundert Prozent sicher, aber hervorragend inszeniert die ganze Show hindurch. Sein Solosong am Ende der Show war ein Event (eines von mehreren) innerhalb der Produktion. Schade, dachte ich mir damals, dass er diesen Moment nicht optimal nutzen konnte. In »Ghost« erlebte ich Preston sicherer als Sänger, aber schauspielerisch? Nicht wirklich. Vor allem zwei Szenen sind mir in Erinnerung, die man als Regisseur so nicht freigeben sollte. Gegen Ende des ersten Akts sucht Carl (Preston) Sams Mörder in dessen Wohnung auf. Der Dialog, den die beiden führen, ist nicht glaubhaft, sowohl was das Schauspiel betrifft als auch den Text selbst, mit dem eher dem Publikum noch einmal erklärt wird, was bisher geschah. Die Szene ist schon im englischen Original ein Schwachpunkt, in Linz ist sie um nichts besser. Preston hat hier nach der Premiere in einer Folgevorstellung leicht variiert (im Tonfall) und ist etwas glaubhafter geworden, aber nach wie vor gerät alles aus dem Ruder. Tonfall, Lautstärke, Mimik, Timing, er verliert hier die Kontrolle. Wenig später dann die zweite wenig geglückte Szene. In einem Wutanfall kokst Carl, dann krempelt er sich die Ärmel hoch, dann stampft er wütend durch die Szene, kickt mit einem Bein in die Luft – völliges Overacting. Das ist nicht »blass« oder »überzeugend«, es könnte aber ein Resultat von zu wenig Probenzeit sein, zu wenig Regiearbeit.
Was die Regiearbeit betrifft, so hakt es aber nicht nur in diesen Szenen. Erinnern wir uns an eine Szene am Anfang des Stücks. Sam und Molly sitzen in einem Restaurant, der Kellner kommt und schenkt nach. Molly hat mehr im Glas als Sam. Sam nimmt ihr Glas und schüttet etwas Wein von ihrem Glas in seines. Nun haben beide gleich viel Wein und zehn Sekunden später gehen sie, ohne davon etwas getrunken zu haben. Währenddessen lässt man auf der rechten Bühnenseite schon die ganze Zeit über reichlich Nebel in die Szene. Vielleicht gibt es dafür ja eine Überlegung. Auf der Hand liegt sie nicht.
Die Londoner Inszenierung war eine exakt komponierte Show aus Ton, Licht, Effekt, Schauspiel, Tanz. Was passiert, wenn man hier an den Feinheiten rummurkst, hat man nach dem Transfer an den Broadway gesehen. In London musste die Show bald schließen, weil man die beiden Hauptdarsteller Richard Fleeshman und Caissie Levy, die von Beginn der Entwicklung des Musicals an dabei waren, an den Broadway exportiert hatte, und am Broadway wollte die Show nicht in die Gänge kommen. Ein Popmusical hat es am Broadway schon aus Prinzip bei Kritikern schwer. In diesem Fall entschied sich auch das Publikum dagegen.
In Linz funktioniert die Show vor allem deshalb, weil sie es schafft, Gefühle zu erzeugen, weil die entscheidenden Momente, und das sind nicht unbedingt jene, für die man Spezialeffekte benötigt, überzeugend gespielt werden. Da funktioniert die Chemie zwischen Riccardo Greco und Anaà¯s Lueken, das zärtliche Spiel mit der Liebe, dem Tod, der Melancholie und der Sehnsucht. In einem Musicalmagazin habe ich über die Musik der Show gelesen, dass die Songs nicht für die Kategorie »Ohrwum« taugen. Interessant, so ungefähr formulierten es auch die Wiener Kritiker bei »Rudolf«, dem Musical von Frank Wildhorn. Beide Shows sind wahre Hitfeuerwerke mit tollen Melodien. Man muss ja für Popmusicals nichts übrighaben, aber man sollte funktionierenden Melodien nicht ihre Wirksamkeit absprechen. Wer Lieder hören will, die nicht funktionieren, muss nur nach Wien fahren und sich »Don Camillo und Peppone« ansehen.
»Ghost« funktioniert in Linz sicher nicht aufgrund der Spezialeffekte. Was mich interessieren würde: Ist das eine Probeversion für die deutsche Version, das heißt, werden die Effekte noch verbessert, oder war’s das? In einem Online-Magazin stand zu lesen, dass Linz die »schwierige Aufgabe hatte, keinen Klon aus London zu produzieren, sondern eine eigene Inszenierung zu liefern, die sich jedoch nicht hinter der bekannten verstecken muss. Gleichzeitig sollte sie tourneetauglich sein und sich am deutschen Markt behaupten können. Dieses Kunststück ist gelungen. Von Anfang bis Ende wohnt der Show unter der Regie von Matthias Davids ein Zauber inne.« Nett, doch übersehen wir nicht die Tatsache, dass Stage Entertainment hier angeblich Geld investiert hat in die »Tricks«, in die »Illusionen«. Dafür ist die Wirkung aber dann doch etwas bescheiden. Das bekommt das Theater der Jugend in Wien bei ihren oft fantasievollen Bühnenillusionen auch ohne deutsche Partner hin.
Nehmen wir nur den Moment, in dem Sam als Geist durch eine Tür geht. Während man am West End hier tatsächlich eine perfekte Illusion kreiert hat, für die es immer Szenenapplaus gab, hat es in Linz den Anschein, als würde sich der Darsteller einfach durch einen kleinen Spalt seitlich an der knallrot beleuchteten Tür durchzwängen. Nicht wirklich ein toller Effekt. Carl lässt man an einer Wand durch »Geisterkraft« hochschweben. Nur schade, dass man genau sieht, wie das gemacht wird. Andererseits auch logisch, weil ja die Darsteller keine Illusionisten sind. Man könnte natürlich etwas besser kaschieren, dass Preston in der Szene unter seinem Hemd einen Gurt trägt, sich mit einem am Haken an einer Vorrichtung an der Wand einhakt und dann nach oben geliftet wird. Das könnte man etwa durch Licht kaschieren. Da haben wir aber das nächste Problem. Die ersten Reihen des Theaters bekommen von dem im Ansatz vorhandenen Versuch, durch grelles Licht das Publikum abzulenken, nicht viel mit, weil die Spots eher nach hinten ausgerichtet sind. Hinten hat man den Eindruck, dass es viel zu wenig Scheinwerfer sind, um wirklich einen tollen Effekt (welchen auch immer, man wundert sich bisweilen über die Blendlichter) zu haben. An den Dimensionen des Theaters scheitert auch ein eigentlich recht netter Trick. Um zu lernen, wie man als Geist physische Objekte tatsächlich fassen kann, statt nur hilflos durch sie hindurchzugreifen, stellt Sam eine Zigarettenschachtel auf eine Bank. Die ersten Male hat es den Anschein, als würde er durch die Packung einfach durchgreifen, doch schließlich klappt es, und er kann sie bewegen. Zwei Probleme haben wir bei diesem Trick. Von weiter hinten bekommt man nicht mit, dass auf der Bühne überhaupt eine Illusion stattfindet, und in der ersten Reihe sieht man natürlich, dass beim »Durchgreifen« die eine Packung nach unten kippt und dahinter eine nächste Packung hochkippt. Es müssen also in einer Art Rad mehrere Zigarettenpackungen angebracht sein. Dass man das sieht, macht den Trick nicht besser, so funktionieren Illusionen nicht. Aber wie gesagt, die Darsteller sind keine Illusionisten.
Ich hoffe, die Szene, in der der U-Bahn-Geist auf eine Turnmatte in den Orchestergraben jumpt, wird nicht in die Reihe der Illusionen eingereiht, das ist eher einer der albernsten Momente des Stücks. Am besten funktionieren immer noch die »Illusionen«, für die man keine Technik braucht, sondern vor allem der Fantasie des Publikums vertrauen muss. Etwa, wenn der Geist Sam in das Medium Oda Mae Brown »schlüpft«. Licht, Verkleidung Schatten und danach gelungenes Schauspiel und perfekte Songs. Das reicht.
Vielleicht reichte am Ende einfach das Budget für bessere Tricks nicht oder die Zeit war zu knapp. Anders ist es auch nicht erklärbar, dass man den Song »Rain« zu Beginn des zweiten Akts gestrichen hat. Hier hätte der Choreograf Lee Proud seine Chance gehabt, sich so richtig auszutoben. Er hat großteils zwar einen fabelhaften Job gemacht, und das Ensemble tanzt sensationell, exakt, aber die überschüssige Energie, mit der Herr Proud »I’m outta here« einen Showstopper des Musicals, zuerst glänzend aufgebaut und im zweiten Teil beinhart zerstört hat, hätte er lieber in »Rain« investieren sollen. »I’m outta here«, das Solo von Ana Milva Gomes, ist das Powerstück der Show, eine Tanznummer, in der Proud die Fetzen fliegen lässt, leider im wortwörtlichen Sinn. Es ist der Song, in dem Oda Mae Brown davon fantasiert, was sie mit dem vielen Geld, das sie in Form eines Schecks vermeintlich durch Sam bekommen hat, anstellen will. Sie singt davon, auf die Bahamas zu fliegen … Ein großartiges Tanzstück von Gomes und Ensemble, rasant bis … Nein, hab ich mir in dem Moment gedacht. Bitte, das machen die nicht wirklich jetzt … Statt diese Szene ganz auf Gomes zu fokussieren und spannend zu bleiben, beginnt sich das Ensemble auszuziehen, auf einmal stehen sie in knallbunten Badehosen da und Bikinis. Man kann es nicht anders bezeichnen als den Einbruch der Peinlichkeit in eine perfekte Szene. Billigstes Musicalklischee, kunterbunter Schwachsinn. Warum kann es nicht ein Mal ein Musical geben, für das man sich nicht zumindest in einer Szene fremdschämen muss. Nichts ist weniger sexy als sich angestrengt aus ihren Klamotten schälende Tänzer, die so tun, als würden sie das wahnsinnig elegant und lasziv durchziehen können. Gleichzeitig lenken sie alle von Gomes ab. Aus. Die Szene ist kaputt. Besser könnte es Gergen auch nicht. Jetzt hätte nur noch gefehlt, dass ein paar Leute vom linken Bühnenrand zum rechten Bühnenrand gehen, und wie am Handy die Szenerie freiwischen.
»Ghost« zeigt die Grenzen des Musiktheaters Linz auf. Soundtechnisch gesehen schrammt die Produktion nahe an der Katastrophe vorbei. Sitzt man hinten, versteht man akustisch kaum was, selbst in der ersten Reihe kommt der Ton extrem hallig rüber. Was mich interessieren würde, ist, wie sich die Darsteller selbst auf der Bühne hören. Man hat den Eindruck, dass einige Probleme haben. Lichttechnisch hat Michael Grundner zwar die gegebenen Möglichkeiten gut ausgenutzt, aber eine Show wie »Ghost« hätte mehr vertragen. Erinnern wir uns, wie »We Will Rock You« ins Raimund Theater eingezogen ist und Lichttechnik bis zum Anschlag aufgefahren hat. Mit dem vorhandenen Budget wird man aber wohl kaum Besseres bekommen.
»Ghost«, um zum Schluss zu kommen, funktioniert, weil es eine packende Geschichte erzählt und das hat, was jedes gute Musical hat: ein bisschen Magie, und die kommt nicht von den »Zaubertricks«, oder sagen wir: nicht nur. Die Show hat Szenen, die man nicht vergisst und die man noch einmal sehen möchte. Und das ist das Wichtigste überhaupt: dass ein Theaterereignis süchtig macht, nach dem Kick, den man in einer Vorstellung bekommt. Das Musicalensemble und die Gäste spielen in dieser Produktion groß auf. Allen voran Riccardo Greco, der in dieser Saison einen Lauf hat, für jede Produktion eine überzeugende Interpretation gefunden hat und sich als Leading Man des Ensembles etablieren konnte. Ana Milva Gomes erhält aufgrund ihrer derzeitigen »Dancing Stars«-Prominenz viel Extraapplaus, hätte ihn sich aber auch so aufgrund ihrer Powerhouse-Leistung verdient. Eine Show zum Immerwiedersehen.

GHOST
Musikalische Leitung/Stefan Diederich
Nachdirigat/Borys Sitarski
Inszenierung/Matthias Davids
Choreografie/Lee Proud
Bühne und Videodesign/Hans Kudlich
Kostüme/Leo KulaÅ¡
Lichtdesign/Michael Grundner
Sounddesign/Andreas Frei
Videoanimation/Atzgerei
Illusionen/Nils Bennett
Dramaturgie/Arne Beeker

Sam Wheat/Riccardo Greco
Molly Jensen/Anaà¯s Lueken
Oda Mae Brown/Ana Milva Gomes
Carl Bruner/Peter Lewys Preston
Krankenhaus-Geist, Detective Beiderman, Furgeson/Rob Pelzer
U-Bahn-Geist, Ensemble/Gernot Romic
Clara, Officer Wallace, Ensemble/Ariana Schirasi-Fard
Louise, Ensemble/Gina Marie Hudson
Willie Lopez, Ensemble/Mischa Kiek
Ensemble/Nicolas-Boris Christahl, Rachel Colley, David Eisinger, Ruth Fuchs, Andrà© Naujoks, Raphaela Pekovsek, Thomas Karl Poms, Anna-Julia Rogers, Jan-W. Schäfer, Rita Sereinig, Nina Weiß

Swings/Wei-Ken Liao, Lynsey Thurgar
(Angaben zur Vorstellung am 2.4.2017)

Neulich bei Aschenbach

Unlängst in Baden bei einer Musicalpremiere. 1. Rang, Loge. Es erscheint eine Kabarett-Diva des legendären Simpl. Das breite Lächeln strahlt bis ins Parkett. In der Hand hat sie eine Sektflöte. Die stellt sie gleich mal auf die Balustrade. Ihr Leben hat sie dem Theater gewidmet, 40 Jahre, 50 Jahre. Das hindert sie freilich nicht daran, sich wie jemand zu gebärden, der noch nie im Theater war. Ein Billeteur verschafft sich Zutritt zur Loge, schnappt sich das Sektglas und verschwindet wieder. Nun stellt die Diva ihr Handtäschchen auf die Balustrade. Scheinbar hat sie nicht begriffen, dass es nicht um den Sekt ging. Der Billeteur klärt sie freundlich auf.

Hinter mir angeregtes Geplauder übers Theater. »Demut braucht ein Schauspieler am Theater.« Demut? Gerade das Gegenteil ist am Theater notwendig. Mut. Und Wahrheit. Demut ist am Theater oft nur eine Umschreibung für Verlogenheit. Ich kann mich an einen besonders entlarvenden »Auftritt« eines Musical-Couples erinnern. Es war bei der Premiere eines neuen Musicals, Schlussapplaus. Hmm, es kommen nicht wirklich Standing Ovations zustande, da stehen die beiden auf und applaudieren mit weit von sich gestreckten Händen demonstrativ. Blicken sich um, klatschen weiter. Ja Kinder, alle sehen, was ihr macht. Ein paar Minuten später, nach der Show: Man plaudert. Und hört unfreiwillig mit, wie die beiden nicht gerade positiv über das Stück reden, das sie ein paar Minuten zuvor eifrig beklatscht haben. So viel zur Wahrheit am Theater. Wirkt natürlich gut, wenn der Intendant sieht, wie die Mitarbeiter ihr Bestes geben, um den Eindruck eines geradezu fulminant-rauschhaften Premierenerfolgs zu erzeugen. Und das kommt auch billiger als die Claqueure, die man sich doch gerne ab und zu leistet.
Noch eine Erinnerung. Interview mit der Dame des Couples. Sie hat interessante Ansichten. Durchaus provokant, auch kritische, die Produktion betreffend. Die Pressedame winkt ihr kurz. Kristallklar-beißende Freundlichkeit im Gesicht, die eindeutige Botschaft: Bei FUSS. Ein paar Minuten später kommt die junge Darstellerin retour, offensichtlich auf Schiene gebracht. Die Welt ist wunderbar, die Show ist wunderbar, die Story ist wunderbar. Besser könnte selbst Scientology Menschen nicht in ihrer Meinungsfreiheit kastrieren. Scheiß auf die Demut.

Die Show in Baden ist eine der besseren. Lediglich der Tanz ist bisweilen irritierend. Junge Tänzer des Ballettensembles geben sich die Choreografie, als wäre sie ihnen um 200 Prozent zu leicht. Und gerade ihre Lässigkeit ist grandios. Der Choreograf – hat er aus Kostengründen eine Tanz-/Singrolle übernommen? – vermittelt einen angestrengten Eindruck, der mich an ein legendäres Event erinnert. Als Marika Rökk sich zu ihrem 70. Geburtstag 1983 im Wiener Raimund Theater noch mal die Ehre gab und im »Ball im Savoy« auftrat, da konnte sie natürlich noch ihre weltberühmten Haxen schwingen wie eine Junge. Aber das ist der Punkt. »Wie eine Junge«. Das angestrengt wirkende Zwangsgrinsen im Gesicht, getreu dem Motto: Wenn’s unten schiefgeht, Hauptsache im Gesicht passt’s, erregte letzten Endes Mitleid. Und so ist es auch in Baden. Die Strapazen sind dem Choreografen ins Gesicht gemeißelt. Das Zwangsgrinsen ist ausdruckslos. Da kann alles technisch so perfekt wie nur möglich sein, im Kontrast zu den sich mit der Choreografie spielenden Ballettbuben ist der Choreograf der Aschenbach der Produktion.

Nochmal zurück zur Demut und Verlogenheit, zum Gehorsam dem Theater gegenüber, weil wir gerade bei Thomas Mann waren. Der hätte auch dazu einiges auf Lager gehabt. Etwa: »Euer Gehorsam ist grenzenlos, und er wird, daß ich es euch nur sage, von Tag zu Tag unverzeihlicher.«

Max Reinhardt Seminar: Premieren nun als Livestream

Am 14. Dezember 2016 bringt Simon Dworaczek, Regie-Student am Max Reinhardt Seminar, seine Diplominszenierung »Frei heraus!« zur Aufführung. Das Stück ist auf der Neuen Studienbühne des Max Reinhardt Seminars zu sehen – und es wird erstmals live auch per Stream live im Netz gezeigt. (–> MDW-Mediathek)

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Frei heraus!
Ein Stotterstück von Simon Dworaczek
Diplominszenierung

Cast
Eva Dorlass, Maria Lisa Huber, Philip Leonhard Kelz, Christoph Florian Kohlbacher, Tony Marossek

Leading Team
Regie: Simon Dworaczek
Bühnenbild und Kostüme: Lea Steinhilber
Licht: Gerhard Fischer
Choreografie: Grant McDaniel
Musik und Sounddesign: David Lipp
Regieassistenz: Simon Scharinger
Inspizienz: Hans-Christian Hasselmann

Termine
Mi 14. Dezember 2016 | Premiere
Die Premiere ist im Livestream der mdw-Mediathek zu sehen!

Do 15. | Fr 16. | Sa 17. Dezember 2016
Beginn jew. 19.30 Uhr

Aufführungsort
Neue Studiobühne im Max Reinhardt Seminar
1140 Wien, Penzinger Straße 7

Karten
Bestellung per E-Mail oder Tel. 01 711 55 2802
Preise: € 10,– / ermäßigt € 5,–

Das Phänomen des Stotterns begleitet uns, seitdem es Sprache gibt. Circa ein Prozent der Menschheit stottert. Seit Aristoteles versuchen Experten und Betroffene, dieses Phänomen zu ergründen. Doch die Wissenschaft tappt noch immer im Dunkeln. Sowohl in der Literatur als auch am Theater sind stotternde Figuren entweder »Deppen« oder hyperintelligente Autisten. Damit ist nun Schluss.
»Stottern ist der große Weiße Wal der Sprechstörungen«, sagt der international renommierte Sprachforscher Oliver Bloodstein. »Scharen von Suchenden spürten ihm mit Hingabe, ja Besessenheit in den entlegensten Winkeln nach. Doch all denen, die die Kühnheit besitzen, sich mit ihm anzulegen, macht es immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Das Stottern bewahrt seine Geheimnisse.«
Der 23-jährige Regisseur Simon Dworaczek stottert seit frühester Kindheit. Bereits im Kindergarten entdeckte er, dass er beim Spielen von Rollen nicht stottern musste. Er flüchtete ans Theater. 18 Jahre später stellt er sich zusammen mit seinem Ensemble jener Macht, die ihn dorthin trieb. Ist das Stottern wirklich ein Fehler? Wie fühlt es sich an? Wie geht unsere Gesellschaft damit um? Und kann nicht jede Schwäche auch eine Stärke sein?
Entstanden ist eine komödiantische Reise des Andersseins auf der Suche nach der eigenen Identität.

Weitere Infos: –> hier

Wenn der Kritiker den Schauspieler zwei Mal ignoriert

Folgendes Szenario. Ein Schauspieler tritt in einer Sommertheaterproduktion auf, er hat nicht einmal eine so kleine Rolle und wird vom Sommertheaterpublikum frenetisch gefeiert. Euphorisch gestimmt, liest er sich die Kritiken durch. All die süßen Regionalblättchen bilden seinen Triumpf in blumigen Phrasen ab. Er ist zufrieden.

Szenenwechsel. Wann immer ich mit Schauspielern ins Gespräch komme, lenke ich das Gespräch irgendwann auch auf das Thema Kritiken. Wie sie mit Kritiken umgehen, wann und ob sie sie lesen. Immer wieder erfahre ich von neuen Umgangsweisen mit Kritiken und auch Kritikern. Es sind immer durchaus interessante Gespräche. Von einem jüngst verstorbenen Publikumsliebling habe ich den Spruch: »Positive Kritiken lese ich immer gern zwei Mal, negative vier Mal, und Kritiken von Produktionen, in denen ich mitgespielt habe, in denen ich aber nicht namentlich erwähnt werde, sechs Mal.«

Führen wir beides zusammen. Unlängst gab es den Versuch eines Schauspielers – ich habe leider den Namen der Produktion und auch jenen des Darstellers bereits wieder vergessen –, in den sozialen Medien eine Art Shitstorm zu provozieren, weil er in einer Kritik doch tatsächlich nicht erwähnt wurde. Ich interpretiere seine Meinungsäußerung dahingehend, dass er dem Rezensenten (den ich nicht kenne), böse Absicht unterstellen wollte. In Wirklichkeit lässt der Darsteller erkennen, dass er eine ganz bestimmte Vorstellung davon hat, wie Kritiken auszusehen haben. Ganz bestimmt, unterstelle ich ihm, fordert er, dass alle wichtigen Darsteller (aus wessen Sicht?) erwähnt werden. Das muss eine Kritik aber nicht. Es kann Gründe geben, die zu der Entscheidung führen, bestimmte Rollen oder Darsteller im Kontext einer Produktion nicht zu erwähnen. Welche das sind, ist irrelevant. Wichtig ist, dass es solche geben kann. Vielleicht ist ein Rezensent zu der Auffassung gelangt, dass eine Interpretation dermaßen schlecht war, dass sie eine Erwähnung schlicht nicht verdient. Die Reaktion des Publikums vor Ort ist kein Gradmesser für einen Kritiker. Wie oft musste ich selbst schon Darbietungen etwa von Musicalsängern hören, die jenseits von Gut und Böse waren – aber den Fans war das egal. Jeden falschen Ton haben sie einzeln bejubelt. Nein, der Maßstab eines Kritikers ist sein Erfahrungshorizont. Und eine Kritik ist kein allumfassender »Bericht« einer Vorstellung, sondern eine Beurteilung. »Kritik« stammt aus dem Griechischen und bedeutet: »Kunst der Beurteilung«. Berichte kann man in Klatschmedien verfolgen, in den »Seitenblicken«, das ist ein gänzlich anderes Genre.

Szenenwechsel. Soziale Medien. Eine Kritikerplattform postet in einer »Gruppe« eine Kritik über eine Vorstellung an einer angesehenen deutschsprachigen Sprechtheaterbühne. Eine positive Kritik. Ein Schauspieler dieser Bühne, der aber in der besprochenen Produktion nicht mitgewirkt hat, postet daraufhin: »Jetzt mal ganz ehrlich: Wen interessiert deine Meinung. Warum schreibst du das? Würde mich interessieren.« Auch ein spannender Zugang. Warum schreibt man über das Theater. Nächstens fragt noch wer, warum man eigentlich Theater spielt.

Die Mary-Poppins-Killer: Dinosaurier! in Wien

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Ehrlich gestanden hätte ich mir ja nie im Leben gedacht, mir jemals freiwillig ein Musical über Dinosaurier anzusehen. Ich bin vermutlich einer der wenigen, die schon bei Elton Johns König-der-Löwen-Odyssee spätestens nach gefühlten 599 Minuten selig entschlummert sind und reflexartig bis heute runterratschen: Hast du die ersten fünf Minuten vom König gesehen, hast du alles gesehen. Mehr kommt dann eh nich mehr.

Heute also »Dinosaurier!«, ein Musical von Robert Reale (Musik) und Willie Reale (Buch und Texte). Machen wir’s kurz, soll auch nur ein schneller Eindruck sein: Was ich heute im Renaissancetheater gesehen habe, war ein perfekter zweiter Akt. Wer auch immer sich mit Musicals beschäftigt, sollte versuchen, ein Ticket für diese Show zu bekommen. Jeder Platz, der leer bleibt (und das sind ohnedies nicht viele), wäre eine Schande. Das muss man einfach gesehen haben.

Man kann über den ersten Akt diskutieren, freilich sollte man nicht vergessen, dass hier viel von jener Dynamik aufgebaut wird, die im zweiten Akt wie ein einstündiges Feuerwerk über das Publikum hereinbricht: glänzende Soloszenen von Carin Filipcic, von Patricia Nessy, Lukas Satori, Armin Kahl, vom gesamten Ensemble. Ein Highlight nach dem anderen. Jazzy Balladen, poppige Songs, all das oft so subtil und wahnsinnig witzig als Parodie angelegt und manchmal als richtige Hammer-Showstopper. Eine glaubhafte Figurenzeichnung, so wohl dosiert in Komik und Outrieren, und auch hier wieder vom gesamten Ensemble umgesetzt. Wie umwerfend etwa Patricia Nessy die Sängerin Carlotta Devries anlegt, die nichts sehnlicher als an ihrem Comeback arbeitet und sich in … Aber hier ist jetzt keine Zeit, den Plot zu erzählen. Oder Carin Filipcic, die in einer furios-grandiosen Szene den Saal zum Kochen bringt, in der sie uns lehrt, wie Dinosaurier die Spaghetti erfunden haben. Und bleiben wir doch gleich bei den Spaghetti. Da fällt mir Mary Poppins ein … und die »sentimentalen Erinnerungen«, die viele angeblich damit verbinden. Bullshit. Ich frage mich ja nach wir vor: Wer bitte hat in Österreich »Mary Poppins« gelesen, wer hat den Film im Kino gesehen, und wie alt sind diese Leute heute? Ich schätz mal 70+, der Rest hat den Film vielleicht mal im TV gesehen, aber kann man davon »sentimentale Erinnerungen« ableiten? Von Thema/Bekanntheitsgrad/Relevanz her ist diese Show ein ebenso großer Fehlgriff wie »Legally Blonde«. Kinder werden wohl dieses Ronacher-Ammenmärchen sehen, wenn ihre Großeltern sie reinschleppen. Die hilflosen Hascherln. Fragt sich, was sie dann davon haben. Wie ich auf »Mary Poppins« komme? Im Gegensatz zu der realitätsfremden Kindermädchenstory haben die Dinos eine Message: Vegan ist hier ein Thema, und für Lehrer ist das ganz sicher ein interessanter Ansatzpunkt, über dieses Thema mit den Kindern zu reden.
Armin Kahl. Wie groß ist die Gefahr, als T-Rex Reginald van Cleef, Anführer der Rà©sistance gegen die Fleischfresser und tougher Super-Dino, zum lächerlichen Tiefpunkt der Show zu werden, wenn man so, wie man es von einigen Musicaldarstellern kennt, hemmungslos outriert, und wie gut spielt er diese Rolle. Lukas Satori, als Swifty Malone, ehemals »Vorgruppe« von Sängerin Carlotta Devries: was für eine Bandbreite an Talent von Stand-up bis Step, elegant mit Understatement serviert. Simon Eichenberger (Choreo) macht hier wieder vieles wett, was er beim »Besuch der alten Dame«, dem für mich schlechtesten Musical, das die VBW jemals aufgeführt haben, »verbrochen« hat. Hier passen die Choreografien, hier arbeitet er sogar mit genialen Zitaten, das macht Sinn und zeugt wohl auch davon, dass bei dieser Show mit Werner Sobotka ein Regisseur leitend war, der tatsächlich weiß, was Musical ist, was Humor ist, und was Timing ist, und: wie man das alles zu einem perfekten Ganzen kombiniert. Dazu gehört etwa auch das Licht. Das Lichtdesign stammt von Michael Grundner, und die Vielzahl an Stimmungen, die er schafft, ist nicht allein eine Ausgeburt des Rekordwahnsinns, damit der Intendant dann bei einer PK von 3,9 Millionen Lichteinstellungen, die in 276 Wochen programmiert werden mussten, faseln kann, sondern, und vor allem bei den Dinos, das Licht erzählt die Geschichte mit, und bei den Dinos mehr als bei vielen anderen Musicals. Aber das sollte jeder selbst miterleben. Nähere Infos –> hier.

PS: Und wer ein Programmheft kauft, bekommt nen echten Dino dazu. Na, wenn das nicht wirklich sentimentale Erinnerungen weckt :)

Schaun Sie sich das an: [Title of Show] im Theater Drachengasse

Warum ich meine, dass man das Musical [Title of Show] gesehen haben sollte.

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Es gibt wahnsinnig viele Gründe, sich Musicals anzusehen oder auch nicht anzusehen. Oft sind all diese Beweggründe natürlich reine Geschmackssache und sprechen weder für noch gegen eine Produktion an sich. Fliegende Autos zum Beispiel oder fliegende Kindermädchen. Ich fand das schon als Kind sterbenslangweilig. Ich weiß auch nicht, welcher Rechtepool da übergeschwappt sein muss, dass wir derzeit in Wien und weiterer Umgebung (salopp definiert) mit all diesen Kinder- oder meinetwegen auch Familienmusicals geradezu überschwemmt werden. Ich lass mir noch einreden, dass das erste Musicaltheater der Stadt, die Wiener Volksoper, derartige Shows am Spielplan hat: »The Wizard of Oz« mit großem Orchester, das könnte ja wenigstens nett klingen. Ich schätze mal, man wird in Presseerklärungen des Hauses auch nirgendwo einen Satz finden wie: Leider dürfen wir aus rechtlichen Gründen nur die Version für arme Würschtln spielen, Sie wissen schon, uns sind die Hände gebunden, wir haben zwar 2809 Musiker, aber wenn unser geschätzter Rechtepartner will, dass wir nur 16 (fiktive Zahl) Musiker einsetzen, was sollen wir tun?
Wie auch immer, interessiert mich also nicht, kann man sich natürlich mal ansehen, um am Laufenden zu bleiben, outputmäßig.
Wobei ich mich frage: Gab’s früher so an ein oder zwei Häusern der Stadt nicht Musicals mit einem gewissen Kultfaktor? Shows, die man sich öfter angesehen hat? Und war nicht zuletzt das einer der Erfolgsfaktoren für den Wiener Musicalboom? Und sollen fliegende Kindermädchen ernsthaft da auch nur irgendwie anschließen? Hat man den Traum, mal wieder einen wirklichen Treffer landen zu können, eh schon mit der Außerbetriebsetzung der letzten Vampirfluganlage begraben?

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Thema? Ja. Was mich interessiert, also. Zum Beispiel ein Plot, der erzählt, wie ein paar junge Typen ein Musical schreiben. Als Hunter Bell und Jeff Bowen 2004 den Beschluss gefasst hatten, ein Musical beim New York Musical Theatre Festival einzureichen, hatten sie ein Problem. Sie wussten nicht, worüber sie ein Musical schreiben sollten. Die fliegenden Sekretärinnen und Kindermädchen waren wohl grad aus, fliegende Autos vermutlich etwas zu teuer, und die Idee, einen »Vampir« an einem Seil durch ein Theater zu ziehen, fanden sie wohl ziemlich deppert. So machten sie schlicht und einfach aus nichts eine Show. Im Formular, in dem im Feld »Title of Show« der Name der geplanten Show einzutragen war, trugen sie ein: »[Title of Show]«. Und wie wir alle wissen: Anzufangen ist schon mal die halbe Miete. Wie sie also aus nichts eine Show machten, die es schlussendlich bis zum Broadway brachte und dort gnadenlos floppte, das ist die Geschichte, die hier erzählt wird.
Das mit dem Flop am Broadway hat seine eigenen Gründe. »[Title of Show]« ist ein typisches Off-Broadway Musical, eventuell sogar Off-Off-Broadway, und als es am 2o. Juli 2006 im Vineyard Theatre Premiere feierte, kamen die Leute, weil sie neugierig waren. Im intimen Rahmen funktionierten die zahllosen Insider-Anspielungen auf den Musicalbetrieb bestens, die melodiösen Pop-Nummern hatten Power und boten diverse musikalische Anspielungen (etwa auf Stephen Sondheims »Into the Woods«). Das Ganze auf Broadway aufzublasen: schlechte Idee. Zehn Wochen spielte man mit tollem Erfolg Off-Broadway und genau für diese Dimension ist diese Show maßgeschneidert, also auch für das Theater in der Drachengasse.

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Drachengasse. Mein Lieblingstheater, was sehenswerte Musicals betrifft. Intimer Rahmen, die Darsteller spielen keinen Meter von den Zuschauern entfernt, und sie können spielen. Da das hier keine Kritik sein soll (die folgt in musicals im Dezember), lass ich das mal so pauschal formuliert stehen. Aber hier sind schon mal drei weitere Gründe, warum man »[Title of Show]« gesehen haben sollte:

a
Das Theater in der Drachengasse entdecken, falls man es noch nicht kennt, ist einer.

b
Ein weiterer: »[Title of Show]« wurde vom Vienna Theatre Project in Szene gesetzt, einer kleinen Gruppe von Leuten rund um Joanna Godwin-Seidl (Regie) und Birgit Zach (Musikalische Leitung), die englischsprachige Stücke in Wien produzieren, unter anderem auch Musicals, großteils ohne/mit wenig finanzielle(r) Hilfe. Die Musicals werden professionell und nicht mit dieser geschleckten Disney-Arschfreundlichkeit aufbereitet, sondern mit, na sagen wir: Herz. So was kann man dann auch mal mit einem Besuch unterstützen. Und jetzt hier der Megadeal: Kaufen Sie sich statt einer Kategorie-I-Karte einer VBW-Produktion doch mal eine etwas billigere, und schon ist der Besuch der Drachengasse querfinanziert. Und wer weiß, wo Sie dann besser unterhalten wurden.

c
Noch ein Grund: Oliver Watton entdecken. Es gibt Darsteller, die eine besondere Gabe haben. Er gehört dazu.

[Title of Show]: 4. Oktober und 6. bis 11. Oktober im Theater Drachengasse
Nähere Details: –> hier

»Musical Unplugged« in Carnuntum 2013

»Musical Unplugged«, eine Konzertserie, organisiert von Florian Schützenhofer mit einem Stammensemble und wechselnden Gastsängern, machte Ende August 2013 in Petronell/Carnuntum Station. In einem Zelt, das zwar manchmal den geräuschkulissenartigen Charme einer Ritterburg hatte, aber in dem der Abend bis inklusive des Caterings perfekt organisiert ablief, stand am 20. August die »Solo-Show« auf dem Programm. Jakob Semotan, Rory Six, Riccardo Greco, Luc Devens und Martin Pasching interpretierten, begleitet von Florian C. Reithner am Klavier, Musicalhits & Co.
Für mich haben Solokonzerte dieser Art vor allem dann einen Sinn, wenn man an den Interpretationen erkennt, dass der Sänger zu all den hinlänglich bekannten Varianten eine ganz eigene hinzufügen möchte. Es gibt freilich Musicalevergreens, da will man nicht zwingend noch eine Variante hören. Nummern wie »The Music of the Night« etwa, ein Song, der außerhalb des Kontexts der Show in den letzten Jahren immer wieder zu Tode geschächtet wurden. Könnte man vielleicht noch als Dubstep-Variante versuchen, mit einem Justin-Bieber-Rap-Solo, aber sonst? Der Pathos, der innerhalb einer Musicalproduktion wirkt, führt sonst leicht zum Fremdschämen (»Das ist so typisch Musical.«).
Wie auch immer, Martin Pasching hatte mit seiner »Musik der Nacht« einen schweren Einstieg. Fast hätte ich mir da gedacht: Das wird schlimm – so wie in den ersten Sekunden in Baden vor einigen Monaten, als die Tschinderassa-Formation des Orchesters sich an ELO-Hits versuchte – aber es sollte alles noch gut werden.
Jakob Semotans Variante von »Wie kann es möglich sein?« – die starke Schlusssequenz, das Waterloo für so manch Sänger, Semotan hat sie perfekt geliefert, auch mit seinem »Engel aus Kristall« konnte er punkten. Rory Six für »Musical Unplugged« zu verpflichten, war eine tolle Idee, verfügt er doch über eine geniale Gestaltungskraft und –kunst. In Carnuntum demonstrierte Six, was für Nuancen selbst in Levay- oder Disney-Songs enthalten sein können, wenn man in der Lage ist, sie zu fühlen und diese Gefühle auch für den Zuschauer fühlbar zu machen – nicht nur zu singen, sondern das, was man singt, auch zu meinen. Mit Riccardo Greco als weiteren Solisten konnte Schützenhofer einen der Aufsteiger schlechthin im Musicalbusiness der letzten Jahre engagieren. Seine Performances sind charmant – und stimmlich mutig, was auch einen großen Teil der Attraktion ausmacht, die er ausstrahlt: Er interpretiert und ist bereit, das Überschreiten von Grenzen nicht nur zu akzeptieren, sondern geradezu zu suchen. Der große Stilist Luc Devens lieferte in gewohnter Qualität virtuose A-Capella-Variationen zu Queens »Love of My Life« oder Andrew Lloyd Webbers »Heaven on their minds«. Einer der Höhepunkte des Konzerts war nicht ein Musicalsong, sondern Martin Paschings Version von Ulli Bärs Kultlied »Alle Lichter« – manchmal ist ehrlicher Dialekt die direkteste Verbindung vom Hirn zum Herz. Furios am Klavier begleitet wurden die Interpreten von Florian C. Reithner, der stets auf der Suche war, das Bekannte durch Unerwartetes, etwa in Form von Rhythmusvariationen oder muskalischen Zitaten, aufzufrischen. »Die Schatten werden länger« mit einem muskalischen Zitat aus dem Horrorfilm »Halloween« zu unterfüttern, das hat was. Ein gelungener Abend.

Theater in der Drachengasse: »Tick, Tick… Boom!« – Superb!

Foto: Ine Gundersveen

Was sucht man im Theater? … zum Beispiel Ehrlichkeit, echte Gefühle, vermittelt in einem Stück, das ein Thema so aufbereitet, dass man mitten reingezogen wird, dass man ab einem bestimmten Moment in einen Sog gerät, ein Theaterabend zu einem Erlebnis wird. Damit das gelingt, muss schon einiges passen, ganz gleich, ob es an einem großen Haus mit 150 Mitwirkenden umgesetzt wird – oder in einem kleinen Theater in der Drachengasse.

»Tick, Tick… Boom!«, ein Musical von Jonathan Larson, steht derzeit am Spielplan des Theaters in der Drachengasse, und ohne jetzt eine Kritik schreiben zu wollen (denn die erscheint in der nächsten Ausgabe von musicals): Für mich ist es immer das größte Erlebnis im Theater, wenn Hirn und Herz gleichermaßen angesprochen werden. Jonathan Larson hat einen großartigen Rockscore geschrieben über, ganz allgemein formuliert, einen Künstler, der knapp vor seinem Durchbruch am Verzweifeln ist. Joanna Godwin-Seidl hat das Gespür, Momente von großer emotionaler Intensität zu schaffen, Kieran Brown als Hauptdarsteller hat das Talent, dieses Stück zu tragen und diese vorhin angesprochenen echten Momente auf die Bühne zu zaubern, Momente, die auf ihre Weise unbezahlbar sind, unterstützt von einer umwerfenden Nina »I AM a Dancer« Weiss und Alan Burgon, der in diesem Stück wieder einmal ganz neue Facetten seines Könnens zeigt. Birgit Zach (Piano), Roman Schwendt (Gitarre) und Franz Hofferer (Percussion) bieten die musikalische Grundlage. Zwei Wochen Probenzeit, ein enges, knappes Budget, das ist Musical-Courage im ehemaligen zweiten Raum des »Theaters der Courage«. Musical, das lebt, aufregend ist, das man sich vor allem nicht entgehen lassen sollte. Zu sehen nur noch bis 12. Oktober.

Tickets –> hier.

»A Tribute to Hans Salomon« – oder: Säge nicht den Ast ab, auf dem du sitzt

Als gestern Abend das Orchester der VBW unter der Leitung von Herbert Pichler den ABBA-Song »Mamma Mia!« spielte, war das nicht etwa eine Machtdemonstration. Die Vorgehensweise des Geschäftsführers des Unternehmens, Nichtverlängerungen vorzunehmen, ohne vorab die Steuerzahler zu informieren, demonstriert eindeutig, wer die Macht im Hause VBW hat. Nein, es war eine Demonstration, was dieses Orchester könnte.
Um diese Demonstration zu verstehen, muss man wissen, dass die ABBA-Show »Mamma Mia!« 2014 im Wiener Raimund Theater in einer Version zu sehen sein wird, für die sieben Musiker gebraucht werden, die wohl großteils Maschinen bedienen und Einspielungen starten. Nun wollen wir nicht weiter darüber nachdenken, dass diese Version so existiert und es auch eine für neun Musiker geben soll. Der Ausgangspunkt gestern war: ABBA-Songs können auch wirklich fantastisch klingen, wenn echte Instrumente eingesetzt werden. Hinweise wie, dass es vertragsrechtlich nicht möglich ist, eine anders instrumentierte Version zu spielen, sind keine Argumente, denn dann fragen wir uns doch, wieso »Mamma Mia!« überhaupt nach Wien kommt.
Gegeben ist in Wien ein hochsubventioniertes Haus, das die Aufgabe hat, Musicals zu schaffen, die sich weltweit verkaufen lassen, gegeben ist ein Orchester (und keine Band), und dafür gilt es, Stücke entweder zu beauftragen oder einzukaufen, man kann natürlich nicht immer Neues schaffen. Das Orchester ist essenzieller Teil der Produkte der Musicalmarke VBW, wer immer das Orchester kannibalisiert, sägt den Ast, auf dem er sitzt, ab. Ziel muss es demnach sein, Stücke zu wählen, die die Kapazitäten des Orchesters nutzen. Und ein Geigerl mehr bei einem Nichts wie »Sister Act« ist kein Beispiel dafür, wie man Kapazitäten nutzt.
Werden also Stücke wie »Mamma Mia!« gewählt, so wird es sich die Geschäftsführung der VBW gefallen lassen müssen, dass man die Auswahl so für sich begründet: Erstens ist eine Kooperation mit Stage Entertainment gegeben, zweitens braucht man kein Orchester dafür (außer man definiert sieben Musiker als Orchester). Ansonsten ist »Mamma Mia!« nicht weiter relevant, fast schon Jahrzehnte nach der Uraufführung, nach Dutzenden Möglichkeiten, die Show in Wien und Deutschland zu sehen. Was kommt als Nächstes? Nur mehr Kooperationen? Etwa Gergens »Sound of Music« oder die Stage-Show »Mary Poppins«? Nein, derart abstruse Ideen würden wohl nicht mal der VBW-Intendanz kommen.
Wollen wir also hoffen, dass sich die VBW-Obersten den gestrigen Abend zumindest via Webcam angesehen haben, sie hätten da zumindest ein Mal gehört, wozu ihre »Angestellten«, von denen sieben wohl genau rechtzeitig zum Weihnachtsfest ihre Nichtverlängerung zugestellt bekommen (fünf haben sie schon), fähig sind.

EMS Lounge: Cirque Eoloh!

Foto: Martin Bruny

Machen wir es doch so, wie es in der einen oder anderen Marketingstube heutzutage üblich geworden ist. Zählen wir mal ein paar der Ingredienzen auf, die der derzeit in Wien gastierende Cirque Eoloh! zu bieten hat, als da wären:

– 20 Zirkusartisten
– 13 Techniker und 3 Anhänger, die von Stadt zu Stadt reisen
– 120 Stück originelle Kostüme und Requisiten
– 8 Geräte, die in 13 verschiedenen Zirkusnummern verwendet werden, die alle Spezialitäten der Zirkuskunst abdecken
– Eine Windgeschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde, schnell genug für eine Propellermaschine zum Abheben
– UND 10 KILOGRAMM »Schneefall«

Die Künstler kommen aus Kolumbien, Polen, der Ukraine, Äthiopien, Frankreich, Russland und Spanien, sie bieten klassische Tricks mit dem Russischen Balken, Akrobatik mit dem Reifen, dem Trapez, wir sehen Schlangenmenschen und (Magier-) Clowns. Was wir definitiv nicht sehen, sind Zirkusviecherl, denn Tiere gibt es in diesem Zirkus nicht, und das ist auch gut so. Wer braucht schon etwa ein armes kleines Hundsi auf einer Bühne, das vor jedem Auftritt einen Einlauf verpasst bekommt, damit es nicht vor lauter Schreck auf die Bühne kackt. Nein, beim Cirque Eoloh! stehen die Artisten im Vordergrund, und Effekte.
Worum es aber beim Zirkus eigentlich immer geht, ist die Frage, ob das Kind in einem zum Leben erwacht, außer man ist natürlich selbst noch Kind. Bei erwachsenen Erwachsenen kann es schon mal vorkommen, dass ein Zirkus sich elendiglich viel Mühe geben muss, bis die Artisten endlich das in den Gesichtern der Zuschauer finden, was sie die ganze Zeit über gesucht haben: Staunen, Freude. Ich hatte meine Anlaufschwierigkeiten, da meckert man im stillen Gespräch dann mit sich selbst schon mal rum, dass das doch wohl alles nicht wahr sein kann, dass das eine oder andere professioneller sein müsste, mehr auf Wirkung inszeniert. Aber auch ein Zirkus braucht seine »Vorgruppe« ab und zu. Und schon bald hatte mich dieser Zirkus auf seiner Seite. Durchaus mit den einfachsten, aber umso wirkungsvollsten Magierclown-Tricks, spätestens in dem Moment, als Naturgewalten in den Saal gezaubert wurden, ein Schneegestöber, ein Lichterzauber, ein Sturm – allein diese paar Momente waren für mich den Besuch der Show wert, aber wie effektvoll auch die Nummer »Notlandung« von Trompolin – Trampolin-Springern, die eine Hauswand scheinbar emporlaufen, sich aus Fenstern stürzen.

Foto: Martin Bruny

Wie sagt es Jonathan Baker, der in dieser Show den Clown Donimo gibt:

»Der Clown ist ein Symbol für das Kind, das nach wie vor in jedem von uns steckt. Wir sollten es öfter zeigen. Das wäre gut für uns alle!«

Der Cirque Eoloh! gastiert noch bis 9. Juni in Wien.

Event-Info
11. Mai - 9. Juni 2013
EMS Lounge – 1030 Wien, Dietrichgasse 25

Ticket-Info
Kat A Erwachsene 49,- EUR | Kinder (2-12 Jahre) 25,-EUR
Schüler, Studenten (bis 24 Jahre), Behinderte 28,- EUR
Kat B Erwachsene 39,- EUR | Kinder (2-12 Jahre) 22,-EUR
Schüler, Studenten (bis 24 Jahre), Behinderte 25,- EUR

Buchungen unter
tickets@ems-entertainment.com oder telefonisch unter 01/714 88 77

Link
- www.emslounge.at/

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