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Was ist ein Musicaldarsteller?

Jüngst erregte ein Beitrag des Kultur-Channels etwas Befremden. Der Grund dafür ist die Frage, ab wann man sich als “Musicaldarsteller” bezeichnen “darf” und wann nicht. Genauer, ab wann man jemanden als Musicaldarsteller bezeichnen darf und wann nicht - und ob man denn die vielen “ausgebildeten” Musicaldarsteller nicht vor den Kopf stoßen würde, wenn man ihre jungen oder auch nicht mehr jungen Kollegen (wenn man sie denn so bezeichnen darf) bezeichnungsmäßig ebenbürtig betitelt(e).
Die ganze Diskussion halte ich persönlich für überzogen. Im Entertainmentbereich ist eine Ausbildung ganz gewiss nicht zu unterschätzen, aber sie ist keineswegs die einzige Voraussetzung beispielsweise dafür, Erfolg zu haben, zu unterhalten. Sie ist auch nicht die einzige Voraussetzung dafür, ob jemand auf der Bühne Leistung erbringen kann oder nicht. Sowohl im Schauspielbereich wie auch im Film, und so auch im Musicalbereich, wird es immer Quereinsteiger geben, und das ist auch gut so, denn Talent wird Wege finden, sich zu zeigen. Die verbeamtete Laufbahn, in der man Zeugnisse, Diplome, was auch immer erwirbt, mag in Deutschland und auch in Österreich eine gängige sein, man merkt das, wenn man das voller Stolz präsentierte DIPLOMDARSTELLER sieht. DIPLOMDARSTELLER, wunderbar, das ist, unbestreitbar, ein Leistungsbefähigungsnachweis.Das mag als Zulassungsvoraussetzung zu vielen Auditions zählen, aber sonst? Ist Robert Stadlober Schauspieler oder nicht, denn eine abgeschlossene Ausbildung hat er nicht. Ist er Musiker, denn eine Musikausbildung hat er nicht. Ab wann war man berechtigt, ihn als Schauspieler zu bezeichnen? Wir reden hier nicht von Mathematikern, Steuerprüfern und Buchhaltern, wir reden von Entertainment, von einem äußerst vielschichtigen Bereich, der von wenig anspruchsvollen Kellermusicals (und auch anspruchsvollen Kellermusicals) bis hin zu Stücken reicht, für die man tatsächlich eine ganz besondere Ausbildung haben muss, um sie souverän zu performen. Aber wem steht es zu, demjenigen, der am Anfang seiner Karriere steht, zu sagen: Nein, mach du erst mal eine Ausbildung, bevor du das, was du machst, auch definieren darfst. Muss ein Schriftsteller erst einmal in einem Verlag ein Buch publiziert haben, um als Schriftsteller zu gelten? Muss er von seinem Buch 100 Stück, 200 Stück oder mehr verkauft haben, um sich eine Berufsbezeichnung zulegen zu dürfen?
Ein Musicaldarsteller ist jemand, der in einem Musical etwas darstellt, so simpel definiert Wikipedia den Begriff “Musicaldarsteller” im Kern. Ja freilich, mag man da einwenden, aber das Musical muss dann schon “professionell” aufgezogen sein. Und wann sprechen wir von einem “professionell” produzierten Musical? Und warum sollte dieses Kriterium gelten?
Mich erinnert diese Definitionsklauberei wenigstens an etwas, was unbestreitbar Kunst ist, in dem Fall Dichtkunst und die Kunst des Definierens:

Gedichte
ein Gedicht ist etwas inmitten einer weißen Ebene,
von sich umzäunt und umschlossen
von den Schalen seiner Zeilen
es hat zwar vergessen, wo und wie es geworden ist,
aber es ist kein verflogener Vogel,
denn es spiegelt, indem es nur sich selber spiegelt,
auch die Gemütsverfassung, aus der es geworden ist,
wider
ein Gedicht ist ein Fenster,
in eine fremde Wirklichkeit geöffnet,
hinter der nur die eines Gedichtes sichtbar wird,
oder eine Mauer mit blinden Fenstern
der Augenblick Schmetterling,
bevor er in Staub zerfällt
ein verletztes Siegel
eine Zeichen- und Bilderschrift aus
einander widersprechenden Bildern und Zeichen
eine Muschelschale ohne Meeresrauschen
die Geisterstunde eines Gegenstandes
ein Apfel an einem Winterbaum,
aber nicht eine von Reif versehrte Rose
etwas, das an etwas erinnert,
woran es keine Erinnerung gibt
das letzte einer Reihe
sich ins Unendliche verkleinernder Bilder
ein Zeichen für etwas,
wofür es nur in Gedichten Zeichen gibt,
die Nachbildung von etwas nicht einmal Geträumtem
etwas, das in unterirdischen Quellen
mit sich redet, Verschubbahnhof spielt,
Mondphasen aneinanderkettet
und Wörter mit Landschaften belehnt
eine Sprachinsel,
eine Spiegelung in einem blinden Spiegel
etwas, das die Wortwörtlichkeit der Wörter
so verkoppelt, daß aus der Verkoppelung
Bildbedeutungen entstehen
eine gefälschte Banknote
ein Sternbild,
das mit seinem Namen nicht übereinstimmt
eine Haustür inmitten einer Wiese,
ein Stück Tapete in einem ausgebrannten Haus
ein Fußballspiel als Vorwand, daß die Spieler
Farben und Linien zusammenführen
die Differenz zwischen einer wirklichen
und einer gezeichneten Taube
eine reine Gegenwart
jedes Gedicht ist die Schale
um einen möglicherweise verglühten Kern
jedes Gedicht ist eine Übersetzung
des einen Gedichtes,
das es nur in Übersetzungen gibt
ein Gedicht ist, was sich als Gedicht erklärt
(Julian Schutting)

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