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Christoph Wagner-Trenkwitz: Willkommen, bienvenue, welcome! (2022)

Vor 15 Jahren, zu Beginn der Direktionszeit von Robert Meyer an der Volksoper Wien, hat Christoph Wagner-Trenkwitz (CWT, so das für ihn gängige Kürzel) das Buch »â€šEs grünt so grün …‘ Musical an der Wiener Volksoper« veröffentlicht. Im Vorwort schrieb Meyer: »Musical gehört in dieses Haus. Wir wissen, dass dieses Genre von der Volksoper aus seinen kontinentaleuropäischen Siegeszug angetreten hat. Jedem Volksopern-Direktor muss es daher ein Anliegen sein, Musical hier zu pflegen.« Leicht überspitzt formuliert könnte man dieser Tage meinen: Mag sein, aber vielleicht nicht jeder Volksopern-Direktorin …
In ihrer ersten Saisonpräsentation am 20. April 2022 war die Wortspende der neuen Direktorin Lotte de Beer zum Thema Musical im Bereich der Wiederaufnahmen angesiedelt. Wortwörtlich sagte sie: »Und ‚Anatevka‘, wobei wir Dominique Horwitz gefunden haben, um Tevje zu spielen.« Das war’s, kein weiteres Wort zum Thema Musical.
Objektiv gesehen kann man noch nicht sagen, welchen Stellenwert Musical an der Volksoper unter de Beer haben wird. Objektiv gesehen muss man aber auch sagen, dass es in der ersten Spielzeit von Robert Meyer (der Publikumsliebling bleibt der Volksoper als Ensemblemitglied in diversen Übernahmen weiterhin treu; CWT verlässt das Haus und bindet sich als Dramaturg stärker ans Gärtnerplatztheater) ebenfalls keine Musical-Neuproduktion gab. Die Schlussworte von CWT in seinem neuen Buch »Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien«, das in Kooperation von Amalthea Verlag und Volksoper entstanden ist, lauten: »Ein Schlusswort? Das erscheint nicht nötig, denn das Thema ‚Musical an der Volksoper‘ ist keineswegs abgeschlossen und wird es wohl auch nie sein. Aber, so viel steht bereits fest, das Musical wird zunächst keine so prominente Rolle mehr spielen wie in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten. Für die erste Saison unter der Direktion von Lotte de Beer ist keine Premiere in diesem Genre angekündigt, doch kann sie, was Repertoirestücke und potenzielle Wiederaufnahmen betrifft […], aus dem Vollen schöpfen. Künstlerische, aber auch kommerzielle Überlegungen werden wohl dafür sorgen, dass das Publikum der Volksoper wieder bei einer Musical-Neuproduktion willkommen geheißen wird!«
Kann man daraus tatsächlich ableiten, dass ein Schatten über der näheren Zukunft des Musicals an der Volksoper liegt? Ich glaube, es verhält sich ein wenig wie mit Schroedingers Katze. Liest man die von CWT verfasste Passage, vielleicht. Da aber Michael Bertha, ein Pressesprecher der Volksoper, in einer Aussendung Anfang Mai formulierte »Musical in Wien ist ohne die Volksoper nicht vorstellbar. Und umgekehrt ist dieses Haus ohne Musical nicht vorstellbar«, warten vielleicht einige Überraschungen.
Musicalgeschichte wird zuerst gemacht – auf der Bühne – und danach geschrieben, meist von Kritikern und im Anschluss daran von Autoren, die zu Themen, Genres oder einer bestimmten Epoche Analysen verfassen. Aus der Sicht eines Theaters/einer Intendanz ist es klug, ein eigenes Reading der konzipierten und verwirklichten Ära schriftlich festzuhalten. Schon wenige Jahre nach ihrem Abtreten ist nicht mehr gar so viel problemlos zu recherchieren, was denn tatsächlich stattgefunden hat, wie Produktionen entstanden sind. Immer weniger an Hintergrundgeschichten bleibt in erzählbarer Erinnerung, es mag auch das Interesse daran schwinden. Ein Buch ist eine gute Möglichkeit, Anekdoten auszugraben, interessante Hintergrundgeschichten zu formulieren, eine Ära also im Rückblick gut auszuleuchten. CWT macht das in seinem Buch ausführlich. Ein Mal noch zieht er erzählerisch den Bogen ganz zurück bis in die Ära von Marcel Prawy, rafft die Musicalgeschichte der Volksoper Wien von 1952 bis 2007 auf 128 Seiten zusammen, um sich danach auf rund 120 Seiten der Ära Meyer zu widmen. Die Bausteine seiner Erzählung sind Gespräche mit Mitwirkenden, Anekdoten, in denen er Begegnungen mit Protagonisten der Musicalgeschichte wie Stephen Sondheim schildert, aber auch Blicke hinter die Kulissen auf Castingprozesse, dramaturgische Entscheidungen. Und ironisch formulierte Abrechnungen mit Kritikern, wenn sie nicht mit der nötigen Genauigkeit gearbeitet haben. Eine Premierenkritik zu »Hello, Dolly!« (2010) etwa kommentiert CWT wie folgt: »Die einzige abfällige Kritik stammte aus der Feder des Musical-Skeptikers Heinz Sichrovsky (‚News‘), die sich selbst allerdings schon mit der Einleitung richtete: ‚Unter den spärlichen [!] Meisterwerken des Genres hatte Jerry Hermans Musical ‚Hello, Dolly!‘ nie Platz [!]. Die klassische Verfilmung und das Titellied camouflierten die musikalische und literarische Substanzarmut der kuriosen Nestroy-Adaption John Steinbecks.‘ Wohl wurden im Programmheft einige Zitate Steinbecks abgedruckt, doch fußt das Musical auf einer Komödie von Thornton Wilder, wie bereits auf der ersten Seite des betreffenden Heftes nicht verschwiegen wurde …«
Zahlen und Daten kommen in dem Buch nicht zu kurz. Prägnant lässt sich damit die Bedeutung des Musicalgenres in der Ära Meyer illustrieren: In der Spielzeit 2009/2010 wurde an 27 Abenden Musical gegeben. In der letzten Saison (2021/2022) werden es 70 gewesen sein. In der Ära Prawy (1956–1972) gab es 7 Musicalpremieren, von 1972 bis 2007, dem Beginn der Direktion Meyers brachten 6 Direktoren ebenfalls 7 Musicalpremieren auf die Bühne. In Meyers Amtszeit, die 15 Jahre umfasst, waren es 23 Premieren, davon 15 Volksopern-Erstaufführungen. Das Resümee der Wiener Volksoper von 1952 bis 2022: 1 Europäische Erstaufführung (»Wonderful Town«), 8 Österreichische Erstaufführungen (»Porgy and Bess«, »Kiss me, Kate«, »Show Boat«, »South Pacific«, »Brigadoon« sowie die deutschsprachigen Erstaufführungen »Annie Get Your Gun« »West Side Story« und »Karussell«), 3 Wiener Erstaufführungen (»La Cage aux Folles«, »Der Zauberer von Oz«, »Gypsy«) und 1 Uraufführung (»Vivaldi«).
Für den Anhang des Buches hat Rainer Schubert, der Vizedirektor der Volksoper, für alle Produktionen seit 1952 die Vorstellungszahlen inkl. Premiere und Voraufführungen exkl. öffentliche Gastproben zusammengestellt. Mit Stand 9. April 2022 kommt er auf 2299 Aufführungen von 29 verschiedenen Werken in 44 Inszenierungen. Die vollständige Besetzung (inkl. der Zahl der Vorstellungen die jede Darstellerin bzw. jeder Darsteller gespielt hat) kann via QR-Code abgerufen werden und ist Teil der E-Book-Ausgabe. Im Buch aufgelistet sind alle Inszenierungen mit den Premierendaten, Angaben zum Dirigenten, zur Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme … Eine gelungene letzte Zugabe der Ära Meyer.
Christoph Wagner-Trenkwitz: Willkommen, bienvenue, welcome! Musical an der Volksoper Wien. Amalthea, Wien 2022. ISBN 978-3-99050-224-2. € 30,–. www.amalthea.at

Heinz Rudolf Kunze: Werdegang (2021)

Heinz Rudolf Kunze: Werdegang (2021)»Hör mal, Heinz, ich bin gerade mit Falco auf Tour und habe den Artikel gelesen, den du in der Männer Vogue über ihn veröffentlicht hast. Großartiger Text. Allein schon, was du über den Kommissar geschrieben hast – eine mürbe, ironische Koks-Feier, ein Rap mit einem böhmisch-jiddischen Zungenschlag, hahaha! Und du hast natürlich völlig recht, Falco ist im Moment der einzige Künstler, den wir hierzulande haben, der Bowie das Wasser reichen kann. Genau so will ich das! So einen Tonfall brauche ich von dir.« Mit diesen Worten startete der deutsche Konzertveranstalter Marek Lieberberg 1987 in ein Gespräch mit dem deutschen Rocksänger, Liedermacher und Schriftsteller Heinz Rudolf Kunze. Worum es in dem Telefonat ging? Kunze: »Ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach. Marek fuhr fort: Sagt dir das Musical Les Misà©rables etwas? Ich habe die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung gekauft. Das Ganze wird in Wien stattfinden, im Raimund Theater. Ich mache das zusammen mit Peter Weck. Und du wirst den Text übersetzen! […] Auf zwar wenigen, aber faszinierenden Seiten skizziert Kunze (in Zusammenarbeit mit Oliver Kobold) seine zweite Karriere als Übersetzer. »Marek, es freut mich wahnsinnig, dass du an mich gedacht hast. Aber wieso denkst du denn, dass ich dafür der Richtige sein könnte? Ich habe in meinem Leben nur Lola von den Kinks übersetzt, mehr nicht. Und mit Musicals kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich habe nicht mal ein einziges auch nur gesehen. Das ist mir egal. Ich weiß, dass du das kannst. Höchste Zeit, dass mal ein frischer Wind reinkommt bei den deutschen Musical-Texten. Und du bist der richtige Mann dafür. Ich will einen anderen Zungenschlag, einen anderen Tonfall. Genauer, poetischer, musikalischer. Ich gebe dir drei Monate Probezeit, dann sehen wir weiter.« In den darauffolgenden Passagen schildert Kunze seine Arbeit am Text und in Wien vor Ort in der letzten heißen Phase vor der Premiere der Show 1988: »Der erste große Dialog zwischen Valjean, dem ehemaligen Häftling, und Javert, dem Polizisten, schnürte mir die Kehle zu. Enthüllt wird die Ähnlichkeit der beiden Männer, denn Javert ist selbst im Gefängnis aufgewachsen, als Sohn eines Wärters. Das ist der Grund für die Unerbittlichkeit, mit der er Verbrecher jagt – sie halten die Erinnerung an seine Kindheit wach, die er so gerne hinter sich lassen würde. Im Original lautete sein Geständnis: You know nothing of Javert / I was born inside a jail / I was born with scum like you / I am from the gutter, too! Besonders die Zeile I was born inside a jail kostete mich Nerven. Ich fand und fand keine Entsprechung, die mir gefiel. Erst als ich den Teil fürs Ganze nahm, wurde es Poesie und war nicht mehr nur Dienstleistung: Ich liebe die Zeilen bis heute. Was weißt du schon von Javert? / Gitter brach mein Wiegenlicht / Dreck sah meiner Mutter zu / Ich stamm aus dem Dreck wie du. Während der Proben in Wien holten sie bei solchen Passagen kurz Luft und steckten die Köpfe zusammen: Hos d’ dös g’hert, wos der do gschrieb’n hot?« »Miss Saigon«, Andrew Lloyd Webbers »Joseph« und »Rent« sind Kunzes weitere Karrierestationen als Übersetzer. Mit viel Witz und auch gnadenloser Offenheit skizziert er seine Sicht auf die Musicalbranche. Am Beispiel »Rent«: »An der Qualität des Musicals bestand keine Zweifel. Aber ob das deutsche Publikum wirklich zu einer Konfrontation mit dem richtigen Leben bereit war, noch dazu ohne entlastenden Orchesterschmelz, sondern mit der Wucht einer richtigen Rockband […]« Wir wissen, wie es ausging. »Rent« lief in Düsseldorf 1999 keine drei Monate, in Berlin nur wenig länger. Kunze: »Das deutsche Publikum fand keinen Zugang zu dem Stück und blieb beim Bewährten. Bei Zuckerguss und Utopie.« Aber nicht nur die Musicalpassagen entwickeln einen beeindruckenden Sog. Kunzes Autobiografie ist voller Anekdoten mit deutschen, österreichischen und internationalen Stars. Spannend, oft berührend, eine großartige Biografie, immer im Bestreben, den richtigen Tonfall zu treffen: »Peter Weck kam vorbei […] und wollte sich persönlich vom Fortgang der Proben überzeugen: »Na, Kinder, wos hobt’s Schöns ’mocht? Darf i amoi schaun? Charme, den man nicht lernen, nur haben kann. Das Wien von Sissi und Hans Moser; das Wien, das an der schönen blauen Donau liegt und wo im Prater wieder die Bäume blühen – wenn Peter Weck den Raum betrat, existierte es noch immer. Er setzte sich zwischen Gale Edwards und mich und ließ sich einige Szenen zeigen, erst nach einer Weile traute ich mich, den Kopf zu drehen. Weck liefen die Tränen übers Gesicht. Er weinte vor Glück. Und ich war plötzlich zehn Zentimeter gewachsen.«
Heinz Rudolf Kunze: Werdegang. Reclam, Ditzingen 2021. ISBN 978-3-15-011379-0. $ 19,90 €. www.reclam.de

Ariane Swoboda: Mein Audition-Journal (2021)

Ariane Swoboda: Mein Audition-Journal (2021)Die Situation kennt jeder. Man steht vor einer Herausforderung und sucht … Orientierung, Tipps, Hilfe, möglichst in einer Form, die eine Instant-Erleichterung verschafft, etwa indem grundlegende Fragen leicht erfassbar erklärt werden, Aspekte, die man vielleicht auf den ersten Blick gar nicht als wichtig erkannt hat, thematisiert werden. Profis mit möglichst reicher Erfahrung sind in all diesen Fällen die Ansprechpartner der Wahl.
Ariane Swoboda arbeitet seit vielen Jahren in der Musicalbranche. Sie hat am Konservatorium der Stadt Wien sowie am Tanz-Gesang-Studio im Theater an der Wien, das Peter Weck 1984 gegründet hat (und das Mitte der 1990er-Jahre geschlossen wurde), studiert und ist seit ihrem Abschluss Anfang der 1990er-Jahre in zahlreichen Rollen, etwa bei den Wiener Produktionen von »Grease«, »Die Schöne und das Biest«, »Elisabeth«, »Tanz der Vampire«, »The Producers« »Evita«, und vielen anderen zu sehen gewesen, 2021 als Olivia in »I Feel Love«, einer Produktion der Vereinigten Bühnen Bozen. An der Wiener Broadway Academy gibt sie Audition Classes und unterrichtet Liedinterpretation.
Ihr Ratgeber startet mit Tipps für die Zeit des Studiums. Methodisch geschickt werden Anleitungen in leicht zu merkenden Schritt-für Schritt-Programmen formuliert, organisatorische Rahmenbedingungen wie Jahrgangsprüfungen besprochen, ebenso Bewerbungstools oder der Umgang mit Social Media. Man findet Listen von Agenturen, nützliche Hinweise für den Bereich Finanzen (steuerliche Absetzbarkeit von Fotos; Audition-Bestätigungen/Reisekosten für die Steuererklärung) und einen Test, der einem dabei hilft, zu erkennen, welcher Audition-Typ man ist. Infos zu E-Casting und About-me-Videos gibt es ebenso. Im Tonfall wertschätzend, Wissen und Erfahrung vermittelnd, reicht das Buch von sehr konkreten Tipps, etwa was man zu Fotoshootings alles mitnehmen muss, bis zu Praxisübungen, zum Beispiel, welche Erkenntnisse man daraus gewinnen kann, Theater aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen: »Ich möchte, dass Sie ins Theater gehen! Sie werden sagen: Das mache ich sowieso – Ich liebe Musicals. Aber ich möchte, dass Sie sich diesmal nicht verzaubern lassen. Dieses Mal möchte ich, dass Sie sich Notizen machen. […] Seien Sie analytisch – am besten gehen Sie alleine. Kaufen Sie sich ein Ticket weiter hinten – damit Sie die ganze Bühne übersehen. […]« Punkt für Punkt wird skizziert, welche Aspekte der Show analysiert werden sollten. Die Vorgehensweise entspricht in etwa jener, die Theaterkritiker anwenden, wenn auch mit einem anderen Resultat. Dem Dechiffrieren von Auditionausschreibungen folgt im Hauptteil eine ausführliche Anleitung, wie man in fünf Schritten zu einer organisierten Präsentation kommt und einen Auditiontag zu einem Erfolg für sich gestaltet, egal ob ein konkretes Jobangebot am Ende steht oder nicht.
Ariane Swoboda hat nicht nur einen Ratgeber und ein Arbeitsbuch (mit Arbeitsblättern) verfasst, sondern auch ein Motivationsbuch. Praxistipps von u. a. Simon Eichenberger (Regisseur, Choreograf, Agent), Stefan Huber (Regisseur), Carsten Paap (Dirigent), Koen Schoots (Dirigent, Arrangeur), Andreas Gergen (Regisseur), Sascha Oliver Bauer (Regisseur), Josef E. Köpplinger (Staatsintendant), Matthias Davids (Regisseur und künstlerische Leitung Landestheater Linz), Bettina Bogdany (Musicalsängerin, Pianistin, Musikkabarettistin, Songschreiberin und musikalische Leiterin), Jerà´me Knols (Choreograf und Dance Captain), Alex Balga (Intendant der Sommerfestspiele Amstetten und Regisseur), Caspar Richter (Musikdirektor), Christopher Tölle (Regisseur, Choreograf), Bela Fischer Jr. (Musiker), Ricarda Regina Ludigkeit (Regie, Choreografie, Tanzpädagogik) und Christian Struppeck (Musicalintendant VBW) zeigen, was bei Auditions von Praktikern konkret erwartet wird.
Zurück zu den am Beginn angesprochenen Aspekten, die manche eventuell gar nicht im Fokus haben. Koen Schoots: »Jede*r musikalische*r Leiter*in, jede*r Dirigent*in wird sich freuen, wenn im Lebenslauf bei der Auflistung der Produktionen nicht nur der*die jeweilige Regisseur*in und Choreograph*in genannt werden, sondern auch der Musikdirektor. Jedenfalls hat der*die Bewerber*in dann bei mir schon ein paar Pluspunkte gutgeschrieben, denn das zeugt von Respekt für unseren Beruf, der mit den Jahren leider immer weniger respektiert wird.«
Ariane Swoboda: Mein Audition-Journal. Wegbegleiter & Arbeitsbuch für Musicaldarsteller*innen. myMorawa, Dataform Media GmbH, Wien 2021. ISBN 978-3-99125-717-2. $ 19,90 €. www.morawa.at

Fritz Wepper: Ein ewiger Augenblick (2021)

Fritz Wepper: Ein ewiger Augenblick (2021)Im Mai 1973 eröffnete sich dem deutschen Schauspieler Fritz Wepper die Chance seines Lebens. Im Zuge eines Promotion-Trips nach New York für das Filmmusical »Cabaret« hatte der 31-Jährige ein Meeting mit der Music Corporation of America (MCA), der damals einflussreichsten Schauspieleragentur Hollywoods, bei der Größen wie Kirk Douglas, Fred Astaire, James Stewart und Bette Davis unter Vertrag standen. Die Vertreter kamen mit konkreten Angeboten: ein Theaterstück am Broadway, danach ein Film in Kanada und ein weiterer in Los Angeles. Auf die Frage nach seinen terminlichen Verpflichtungen antwortete Wepper bei diesem Treffen: »I’m busy this year and I have an option for next year.« Ein fataler Fehler. »Forget it, Fritz. Good luck«, war die Antwort der Vertreter der Agentur. Der Grund für die Abfuhr: Der Begriff »Option« bedeutet im Deutschen für einen Schauspieler ein Rollenangebot, das er auch ablehnen kann. Im amerikanischen Fachjargon besagt eine solche Aussage allerdings, dass man vertraglich gebunden ist. Die MCA ging davon aus, dass Wepper nicht vor 1975 verfügbar sei, und hatte ihr Interesse an ihm verloren.
Fritz Wepper widmet »Cabaret« demgemäß in seiner Autobiografie zwar ein Kapitel, aber ein mit 18 Seiten recht schmales. Doch erstens sind O-Töne, so kurz sie auch sein mögen, stets Gold wert, und immerhin bietet der Schauspieler kurze Einblicke in die Zeit der Auditions und Dreharbeiten für »Cabaret«: »In der Bavaria kannte ich fast alle Bühnenbildner und Beleuchter, schließlich hatte ich dort schon mit zwölf meinen ersten Film gedreht. Einen fragte ich: Wie läuft’s denn so? Und er antwortete: Du, der Fosse sagt mir bei jedem Nagel genau, wie ich den in die Deko haun’n soll. Der hat ’ne klare Vision. […] Bob Fosse rauchte ziemlich viel. Mit Fluppe im Mund gab er ständig Anweisungen. Wenn einer von uns vieren [Liza Minnelli, Michael York, Marisa Berenson und Fritz Wepper] in Großaufnahme zu sehen war, stellte er die anderen neben die Kamera und forderte sie auf, möglichst intensiv zu spielen. So wollte er dafür sorgen, dass alle ihr Bestes gaben, Wer gerade im Bild war, wurde also nicht zum pausierenden Stichwortgeber, sondern forderte seine Kollegen richtiggehend heraus, das sieht man auch am Ergebnis. So was hatte ich vorher noch nie erlebt. Das war handwerkliches Neuland für mich.« Innerhalb dieses Abschnitts konzentriert sich die weitere Erzählung dann auf die Freundschaft mit Liza Minnelli und Treffen mit Showgrößen der damaligen Zeit. Wepper abschließend zu diesem Kapitel in seiner Karriere: »Hollywood habe ich im Nachhinein nie ernsthaft vermisst, denn es öffneten sich für mich stattdessen viele andere Türen.«
Fritz Wepper: Ein ewiger Augenblick. Die Autobiographie. Heyne, München 2021. ISBN 978-3-453-21819-2. $ 20,– €. www.heyne.de

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)Sieht man sich auf amazon.com die Bewertungen der Käufer des hier besprochenen Buches an, fällt der relativ hohe Prozentsatz an Ein-Stern-Urteilen auf. Mehr als 30 Prozent entschieden sich dafür, dem Buch die schlechteste aller möglichen Noten zu geben. Der Großteil davon gibt als Grund nicht etwa den Text an, sondern bemängelt die Herstellung des Buchs an sich. Der Buchblock habe sich vom Einband gelöst, der Buchkern sei aufgebrochen. Warum der Verlag eher eine günstigere Herstellungsweise einkalkuliert haben könnte, ist aber vielleicht ironischerweise an genau diesen Bewertungen abzulesen. Auf amazon.com haben das im April 2021 erschienene Buch 18 Käufer, auf amazon.de um sechs weniger bewertet. Wünschen darf man sich viel, auch teuer produzierte Bücher, aber Verlage müssen die finanziellen Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer absetzbaren Auflage im Auge behalten. Früher oder später werden Fachbücher wie diese vielleicht nur mehr digital angeboten. Der Preis wird dann nicht wesentlich tiefer liegen.
Doch wie kam es zur Entstehung des vorliegenden Werks? Im Jahr 2018 entwickelte man im Verlagshaus Rowman & Littlefield den Plan, die bestehende Enzyklopädie-Reihe mit einer Ausgabe über Stephen Sondheim zu erweitern, und auf der Suche nach einem Autor kam man auf den Theaterkritiker und Musikjournalisten Rick Pender. Er hat von 2004 bis 2016 mehr als 40 Ausgaben des Magazins »The Sondheim Review« als Herausgeber und Chefredakteur betreut und nach dessen Einstellung (ohne Erfolg) versucht, mit »Everything Sondheim« ein Online-Nachfolgemodell zu etablieren. Pender glaubte anfangs, man wolle ihn als Herausgeber verpflichten und ihm die Aufgabe übertragen, die Beiträge aller engagierter Autoren zu einer Einheit zu formen, doch der Verlag machte ihm rasch klar, dass man aufgrund des begrenzten Budgets nur einen Autor verpflichten wolle, nämlich ihn. In seinem Autorenvertrag fand sich unter dem Punkt »geplanter Umfang« folgende Angabe: 300.000 Wörter. Das gedruckte Buch umfasst 638 Seiten, Pender arbeitete daran zwei Jahre.
Nicht unwesentlich bei diesem Projekt ist die Frage, ob Sondheim selbst involviert war. Hier meinte Pender in einem Radiointerview, er habe sich an die drei Mantras Sondheims gehalten (die er auch im Buch beschreibt): 1. »Content Dictates Form.« 2. »Less Is More« und Punkt 3: »God Is in the Details.« Letzterem folgend habe er den Komponisten gebeten, den ausführlichen biografischen Beitrag zu lesen und zu korrigieren. Für weitere Detailfragen stand Sondheim dem Autor per Mail zur Verfügung und antwortete meist innerhalb von 24 Stunden.
Das Nachschlagewerk ist alphabetisch in 133 Einträge gegliedert. Pender hatte ursprünglich mehr als 200 Einzelbeiträge in seinem Konzept vorgesehen, aber, um wieder auf die einleitenden Sätze Bezug zu nehmen: Der Verlag ersuchte um Reduktion (in dem Fall wohl eher nicht auf Sondheims Mantra »Less Is More« anspielend).
Natürlich findet man in Penders Buch ausführliche Darstellungen aller 18 großen Sondheim-Musicals (aber eben nicht einiger kleinerer Werke), man findet Biografien der wichtigsten Darsteller, Regisseure, Designer und weiterer wesentlichen Personen in der künstlerischen Umsetzung von Sondheims Werk (zum Beispiel auch ein Kapitel über Barbra Streisand). Es werden essenzielle Lieder aus den Werken näher beleuchtet, wie etwa »Children Will Listen«, »Not a Day Goes By« oder »Sooner or Later«. Als Hauptquellen benützte Pender die rund 80 Ausgaben der »Sondheim Review« sowie jene Bücher, die bisher über Sondheim erschienen sind, sowie Radio- und Zeitungsinterviews. Für die Songanalysen erarbeitete er Zusammenfassungen der von Mark Eden Horowitz für »The Sondheim Revue« verfassten Reihe »Biography of a Song«. Am Ende jedes Eintrags liefert der Autor stets eine Liste seiner Quellen.
Was der Verlag sich wünschte, war ein Standardwerk. Hauptzielgruppe von Rowman & Littlefield sind bei dieser Enzyklopädie Universitäten und Bibliotheken – ebenfalls ein Grund für die Preisgestaltung. Penders Aufgabe war es also, ein fundiertes und auf seine Richtigkeit überprüftes Werk zu schaffen, das man als erste Anlaufquelle in Sachen Sondheim verwenden kann, und gleichzeitig eine Fülle an weiterführenden Tipps anzubieten. Das ist rundum gelungen.
Neben den Haupteinträgen erarbeitete Pender eine Reihe von, wie er es in einem Interview bezeichnet hat, »Sidebars«. Zum Beispiel eine Liste von Lieblingsfilmen des Komponisten (kompiliert aus Gesprächen mit Sondheim und diversen anderen Quellen). Nicht fehlen darf eine halbe Seite zu den Lieblingsbleistiften Sondheims (Blackwing, und zwar das Modell »slate-gray 602«): »Blackwings are special pencils that Sondheim preferred because of their very soft lead, which makes them not only easy to write with (although extremely smudgy) but also encourages the user to waste time repeatedly sharpening them, since they wear out in minutes.« Auf knapp sechs spannenden Seiten beleuchtet Pender im Spiegel einer Fülle von Zitaten Sondheims ambivalentes Verhältnis zur Oper. Sondheim: »Opera isn’t primarily about storytelling, therefore I get impatient, although part of me knows I shoudn’t.«
Weitere »Sidebars«: »Contributions to Works by Others, »International Productions«, »Juvenile Works«, »Libraries and Archives«, »Lyric Studies«, »Movie Musicals« oder auch »Musical Likes (and Dislikes). In einem eigenen Kapitel wird Sondheims Liebe zu »Puzzles, Games, and Mysteries« untersucht, Weggelegtes in »Unproduced and Abandoned Projects« behandelt. Ein eigenes Kapitel widmet Pender der TV-Serie »Topper«: Nach dem College versuchte sich der junge Sondheim in Hollywood als Drehbuchschreiber. Im Sommer 1953 machte Oscar Hammerstein II ihn auf einer Dinnerparty mit George Oppenheimer bekannt. Der bekannte Drehbuchautor hatte gerade den Auftrag für eine Pilotfolge der Serie »Topper« erhalten und suchte einen »assistant writer«. Für 300 Dollar die Woche arbeitete Sondheim gemeinsam mit Oppenheimer an einigen Folgen der Serie. Auch das eine von vielen spannenden Geschichten, die Pender für seine sehr empfehlenswerte Enzyklopädie eigens recherchiert hat.
Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia. Rowman & Littlefield, Lanham 2021. ISBN 978-1-5381-1586-2. $ 135,00. www.rowman.com

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism (2020)

jansen-2021.jpgVorliegendes Buch ist eine Zusammenstellung von Beiträgen, die für ein Symposion erarbeitet wurden, das 2017 in Freiburg stattfand. Etwas allgemeiner formuliert war der Anlass für den Band der Umstand, dass die Geschichte der Kunstform Musical (und der Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist.
Ein paar Bemerkungen zu dieser grundlegenden Problematik am Beispiel Österreich: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. Berücksichtigte man jene Bände nicht, die in Zusammenarbeit mit Theatern (oft in gewisser (finanzieller) Abhängigkeit) erscheinen, es bliebe praktisch nichts übrig. Die letzten beiden Jahrzehnte sind unbeleuchtet. Die Gründe? Zum Beispiel der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden daher immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Symptomatisch der Titel einer aktuellen Diplomarbeit zum Thema: »Wien 1970–2000: eine Musicalmetropole?« (Jasmin Kofler, 2020). Die letzten beiden Jahrzehnte werden gar nicht berücksichtigt, der Rest infrage gestellt. Als Einleitungszitat steht eine Sentenz aus »Schikaneder« – einer Show, die nicht in den Untersuchungszeitraum fällt. Was fehlt, sind Erzählerpersönlichkeiten. Marcel Prawy war ein Botschafter der Oper, Operette und des Musicals. In seiner Nachfolge hat Christoph Wagner Trenkwitz eine Aufarbeitung der Geschichte des Musicals an der Volksoper in Angriff genommen. Sein Buch »Musical an der Wiener Volksoper« behandelt die Geschichte des Hauses bis 2007. Die Geschichte des Musicals am Theater an der Wien wurde von Peter Back-Vega, Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien, bis zum Jahr 2008 in einem Band bearbeitet. – Einzelpersönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren, was Bücher betrifft, nicht mehr der Musicalgeschichte gewidmet haben. Wen wundert es also, dass wir von der Musicalgeschichte anderer Länder, etwa den osteuropäischen, noch weit weniger wissen als von unserer eigenen.
Die Situation im Deutschland ist etwas anders, hier gibt es eine Erzählerpersönlichkeit: Wolfgang Jansen. 2008 veröffentlichte er mit »Cats & Co« seine »Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Raum«, bei Recherchen für einen geplanten Nachfolgeband zur Geschichte des Musicals in der DDR stellte sich ihm eine grundlegende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, die Geschichte des Musicals in der DDR abgelöst vom politischen, gesellschaftlichen System, in dem es sich entwickelte, zu schreiben? Hat das DDR-Musical eine singuläre Stellung oder ist es nur im Rahmen der allgemeinen Entwicklung des Genres im kommunistischen Osteuropa nach 1945 zu verstehen? Aufgrund der Sprachbarrieren war es Jansen nicht möglich, in einem zufriedenstellenden Ausmaß an Datenmaterial zu bekommen. So entstand die Idee zu einem Symposion mit dem Thema: »The development of operettas and musicals after 1945 unter the social and ideological conditions of socialism in the East European countries.« Die Hauptfragestellungen: »Did the uniform (prescribed) worldview lead to identical plays, or are there – in spite of transnational ideology – national specific differences? Were there specific aesthetic phases of national development? What influence did the import of works from abroad, from the fraternal socialist countries, or the capitalistic West have on the national production? Were there any governmental guidelines for authors and composers? When and under what conditions changed the repertoire to the musical? Which social, cultural and political value was measured by the state to the popular musical theatre? Who were the most important authors and composers? Was there a socialist operetta, a socialist musical, and what political, social and ideological issues were negotiated in the form of popular musical theater on stage.«
Beiträge von 14 Forscherinnen und Forscher aus der Sowjetunion, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Deutschland (für die ehemalige DDR) sind im vorliegenden englischsprachigen Band publiziert. Schwerpunktmäßig konzentriert sich das Buch auf Ungarn (83 Seiten) und die DDR (65 Seiten). Der Theaterhistoriker Gyöngyi Heltai etwa berichtet über die Rolle, welche ab den 1960ern dem Budapester Operettentheater im Rahmen der ungarischen Außenpolitik und Kulturdiplomatie zugewiesen wurde – bis in jüngste Gegenwart. Als etwa am 31. Mai 2011 die ungarische EU-Präsidentschaft mit einer offiziellen Schlussveranstaltung ausklang, ging im Bukarester Operettentheater eine zweisprachige Aufführung von Gà©rard Presguvics »Romeo & Julia« über die Bühne. Romeo sang auf Rumänisch, Julia auf Ungarisch. Diplomaten aus 40 Ländern besuchten die Produktion des Budapester Operettentheaters, die die negativen Auswirkungen von ethischen Konflikten zeigen sollte. Derartige Events des Operettentheaters fanden auch in Italien und England statt.
Pavel Bà¡r berichtet von der ersten Musical-Premiere in der Tschechoslowakei: »Finian’s Rainbow« (in einer bearbeiteten Version mit dem neuen Titel »Der wuntertätige Topf«), Anfang März 1948, nur wenige Tage nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948. Es war gleichzeitig die letzte Produktion eines amerikanischen Musicals bis 1963: »Kiss Me, Kate«. Allerdings kamen ab Ende der 1950er-Jahre Werke aus der DDR und Italien zur Aufführung. Zu einem völligen Neubeginn, so Bà¡r, kam es nach der »Samtenen Revolution« vom November 1989: »… the centrally planned economy was transformed into a capitalist system, and the transformation was naturally also reflected in the theatre culture: free private theatre business could return to the theatre system after more than 40 years. The previously unchanging theatre network, which was controlled by the state, started to change. In the summer of 1992, Adam Nà³vak, the first Czechoslovak musical producer, staged the famous Les Misà©rables. Thanks to the co-production with Cameron Mackintosh, this first production introduced Czechoslovak theatre to new qualities and foreign experience […]« Dieses Buch versammelt spannende Analysen, Geschichten, Daten und Fakten. Allein der Anmerkungsapparat vieler Artikel ist ein wertvoller Fundus. Unter musicallexikon.eu finden sich online (»Musicals nach Ländern geordnet«) ergänzende Angaben zum Kapitel DDR. Lesenswert.

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism. Operettas and Musicals in the Eastern European States 1945 to 1990. Waxmann, Münster 2020. ISBN 978-3-8309-4248-1. € 34,90. waxmann.com

Frank Wildhorn & Friends: Live From Vienna (2020, DVD)

Die Corona-Pandemie hat ganz unterschiedlich bei uns allen zugeschlagen, was Zeit und Kommunikation betrifft. Die einen hatten auf einmal viel Zeit zur Verfügung und versuchten sich in den diversen Pandemieablenkungen wie Brotbacken. Die anderen waren im Dauerstress. Etwa weil Abgabefristen noch volatiler wurden als sonst, sich laufend verschoben, plötzlich akut wurden. Die Kommunikation verlagerte sich bei vielen ins Digitale, und bei manchen scheint diese Volatilität wohl dazu geführt zu haben, ganz auf Kommunikation zu verzichten. So habe ich zum Beispiel erst Monate nach Erscheinen der DVD »Frank Wildhorn & Friends: Live From Vienna« erfahren, dass ich den Begleittext zu dieser DVD verfasst habe. Eine etwas kafkaeske Situation.
Ursprünglich hatte ich den Text vor elf Jahren für meine Website verfasst. Am 7. Oktober 2010 fragten die Produzenten der Show per Mail:

Lieber Martin Bruny,
ich bin die Künstlerische Produktionsleitung des Konzerts “Frank Wildhorn & friends” vom vergangen Montag in Wien.
Ich würde gerne aus Ihrem Artikel im Kultur-chanell.at den Teil, der sich direkt auf das Konzert bezieht, ins englische übersetzen und Frank Wildhorn resp. der amerikanischen PR zur Verfügung stellen.
Ebenso mit den Bildern unter Angabe des Fotografen.
Ich bitte um kurze Bestätigung und Angabe des zu nennenden Copyright-verweises.
Herzlichen Dank und liebe Grüße,
Renate Gritschke

Diese Verwendung war aus meiner Sicht kein Problem. Wo beziehungsweise ob dieser Text dann tatsächlich eingesetzt wurde, habe ich nicht weiter verfolgt. Als Monate später eine CD der Show veröffentlicht wurde, kontaktierte mich die ausführende Plattenfirma und fragte, ob es okay sei, den Text zu verwerten. Das war es.
Zehn Jahre später denselben Text ohne Nachfrage für eine DVD zu verwenden, ist aus meiner Sicht allerdings nicht mehr okay. Der Text war im Eindruck einer Liveshow entstanden, schon die Verwendung für eine CD-Veröffentlichung ist da nur gerade noch vertretbar. Dann aber nach zehn Jahren einen Text zu verwenden, der mit keiner Silbe auf die Bildebene eingeht, ist nicht mehr in Ordnung. Vor allem nicht ohne Kontaktaufnahme.
Ich würde ja eventuell nun noch ein paar Zeilen über die DVD schreiben, aber auch Belegexemplar ist keines angekommen.

Eddie Shapiro: A Wonderful Guy (2021)

shapiro.jpgLange hat sich Eddie Shapiro Zeit gelassen für den Nachfolgeband der 2014 erschienenen Interviewsammlung »Nothing Like A Dame – Conversations with the Great Women of Musical Theater«. Scherzhaft erzählt er in Interviews gerne, dass die Arbeit an diesen beiden Büchern so lange gedauert habe, weil es so schwierig gewesen sei, Termine mit den Darstellern zu vereinbaren. Und dann so zeitaufwendig, die jeweils mehrere Sessions umfassenden und bis zu 14 Stunden dauernden Gespräche, die bei den Künstlern zu Hause stattfanden, zu verarbeiten. Die Arbeit an »A Wonderful Guy – Conversations with the Great Men of Musical Theater« begann Shapiro 2016, seit ein paar Wochen ist der Band am Markt, und als Leser hat man diesmal mit der Zusammenstellung der Interviewpartner ein noch größeres Problem als schon 2014 bei den Damen. Natürlich ist die Riege der 19 Männer, die hier in Interviewform porträtiert werden, herausragend: Joel Grey (89), John Cullum (91), Len Cariou (81), Ben Vereen (74), Michael Rupert (69), Terrence Mann (69), Howard McGillin (67), Brian Stokes Mitchell (63), Marc Kudisch (54), Michael Cerveris (60), Norm Lewis (57), Will Chase (50), Christopher Sieber (52), Norbert Leo Butz (54), Christian Borle (47), Raàºl Esparza (50), Gavin Creel (45), Cheyenne Jackson (45) und Jonathan Groff (36). Wer könnte sich da beschweren? Nichtsdestotrotz beträgt, um es ein wenig plump auf eine Zahl runterzubrechen, ihr Durchschnittsalter 61 Jahre. Der Autor spricht dies im Vorwort auch direkt an: »The primary prerequisite was that all the men in this book have a robust and ongoing career in musicals. Theater had to be the thing for which they are best known. There are fantastic performers who have done extraordinary work in musicals, but Broadway isn’t their primary residence (Hugh Jackman, Alan Cumming, Neil Patrick Harris). There are other greats who contributed more significantly as creators than performers (Tommy Tune, Lin-Manuel Miranda, Harvey Fierstein). And there are excellent working actors who may not yet have had the opportunity to shine as leading men, or to do quite as many shows (I love you, Ben Platt, but the list of shows we’d be able to discuss is a short one – at least as of this writing).« Ja, so kann man das sehen. Einen Mangel an Fragen, die man Ben Platt stellen könnte, würde man aber dann doch eher dem Autor anlasten wollen Und sind Jonathan Groff und Cheyenne Jackson tatsächlich noch vor allem aufgrund ihrer Karriere am Theater bekannt? Natürlich muss man berücksichtigen, dass eine Reihe an Broadwaystars kein Interesse hatte, interviewt zu werden (etwa Nathan Lane). Wie auch immer: Um auch einen Blick auf die ganz junge Generation zu bieten, hätte es nicht geschadet, etwa Wesley Taylor, Jeremy Jordan oder Jay Armstrong Johnson ins Gespräch zu holen.
Doch bleiben wir bei Jonathan Groff. Hat man das Interview mit ihm gelesen, ist es klar, warum er von Shapiro gewählt wurde und warum er am Cover abgebildet ist. Er mag zwar TV-Hitshows haben und ja, eine Rolle im programmierten Blockbuster »Matrix 4« (läuft ab Dezember 2021 in den Kinos), doch: »… his heart, says Groff, belongs to the theater. Even when I was doing the TV show, Boss, in Chicago, he tells me excitedly, I hired Sutton Foster’s understudy to teach me the tap dance from Anything Goes, which he performed at a benefit. In my world, in my mind, and in my heart, I am always thinking about theater.«
Sehr anschaulich beschreibt Shapiro in seinen Intro-Texten zu den Interviews die jeweiligen Settings, in denen die Gespräche stattgefunden haben (und wann sie geführt wurden), er bietet einen kurzen Überblick über das Schaffen seiner Gesprächspartner und ist dann bemüht, Highlights, aber auch persönliche Krisen anhand ihrer Arbeit herauszuarbeiten, indem er kurze Fragen stellt und hofft, dass die Leute etwas zu sagen haben und ins Reden kommen. Perfekt vorbereitet ging der Autor in seine Gespräche, eine bemerkenswerte Empathie ist aus seinen Fragestellungen abzulesen.
»A Wonderful Guy« ist voller wundervoller Geschichten. Etwa wenn Raàºl Esparza über seine Arbeit mit Stephen Sondheim an einem Song (aus »Sunday in the Park with George«) erzählt: »He was so specific with his notes and nothing seemed to be right. But I began to realize that everything he was working on with us was like opening a series of doors into the play. One idea after another after another was being released by tiny things, like, When these two notes happen in the orchestra, you’re changing brushes. It’s a new color. When this diminuendo occurs between them, it’s their whole relationship in one breath. They begin to sing loudly to each other and then they fade away. It’s not finished yet. The second time you say the word look it means something different and beautiful because you’re talking about change, and you’re talking about the passage of time.«
Offenheit zeichnet die Gespräche durch die Bank aus. Existenzielle Probleme werden schonungslos thematisiert. Etwa von Norbert Leo Butz, der 2001 zwei Broadway-Shows nacheinander hatte, die nach wenigen Wochen schließen mussten (»Thou Shalt Not« und »The Last Five Years«), der sich noch dazu zu jener Zeit in Scheidung befand und doch nur zögernd, nachdem er eine Audition abgelehnt hatte, eine Rolle in »Wicked« übernahm. Schon allein worauf er sein Engagement zurückführt, ist kurios: »And frankly, I think I got it because Kristin is so tiny and I’m only five seven. It would be hard to cast somebody who’s six foot two next to Kristin. So I did it.« Seine nüchterne Einschätzung dieser Erfahrung: »Personally, obviously, I was going through hell. But in the process I was really unhappy. They had such a difficult time trying to figure out what the play was and what it was about. The supporting roles got lost in the shuffle. I remember feeling hamstrung and like it wasn’t good enough material to work on. I was wanting more and I was wanting to make more of an impression on the play and to make it deeper. One of the producers joked to me, Who cares? It’s all about the girls, but I realized he was right. And the creative team had some differences of opinion about the way that it should go. So as an actor, it wasn’t completely fulfilling. But I was so grateful to have a paycheck. It just saved my butt. I kept thinking I was going to be fired any week. People were getting fired left and right from [the tryout in] San Francisco. I was so grateful when they kept me for New York.«
Shapiro ist schon an Band 3 der Buchserie dran. Geplanter Titel: »It Takes A Woman«. Darauf kann man sich freuen.

Eddie Shapiro: A Wonderful Guy. Conversations with the Great Men of Musical Theater. Oxford University Press, New York 2021. ISBN 978-01-909298-9-3. $ 39,95. global.oup.com

Stephen Purdy: Flop Musicals of the Twenty-First Century (2020)

flop.jpgAus nichts lernt man mehr als aus Fehlern. Stephen Purdy, Mitglied der Musical Theatre Faculty am Marymount Manhattan College in New York City, bietet unter dem Motto »How they happened, when they happened (and what we’ve learned)« eine ganze Reihe von Fehleranalysen, in diesem Fall auf dem Gebiet des Musicals. Die untersuchten Shows: »Spider-Man: Turn Off the Dark«, »Lestat«, »Urban Cowboy«, »The Pirate Queen«, »Rocky«, »King Kong«, »Escape to Margaritaville«, »Glory Days«, »Bullets Over Broadway« und »Dance of the Vampires«. Der Autor geht wie ein Detektiv an die Sache ran: «In this book, I don’t intend to offer a wholesale take on how the shows could have been fixed. If the most astute minds of the theatre couldn’t figure out how to have made these shows run on Broadway, then I certainly cannot. Instead, here I am keen to reveal what the ill-fortune of these shows may be able to teach us by discovering what went wrong along the way.« 13 Seiten der insgesamt 108 sind »Dance of the Vampires« gewidmet. Zum Einstieg formuliert Purdy eine recht blumige Beschreibung der VBW-Produktion: »With Tanz der Vampire (…) Austrian and German audiences got what they craved in the Wagnerian operatic sense, which, to wit, was through-composed, other-worldly, and possessed a certain mythical grandeur. With this in mind, to comprehend the true reality of the scope of the changes made to the production for the Broadway outing, one must recognize the specificities of the style that appeared in the German production, which one might classify in an era obsessed with labeling something like grand pop-opera. But when you give ’em what they want, you may be richly rewarded. Tanz der Vampire surely was. The stagecraft alone, that is to say the physical production, was likely enough to bring those who might find that the story was exasperating into the theatre to have a look. Big-budget sets and effects were aplenty and abundant enough to rival the visuals of the great European opera houses. Side by side with other operatic conventions like quintets that brought to mind those of the great opera makers of the 19th century and lovers whose togetherness was imperiled by other-worldly shenanigans, the show was a brazen example of the intertwining of musical theatre and operatic sensibilities – vampire style.«
Purdys flott geschriebene Einschätzung basiert auf bekannten Fakten, ist aber leicht unterfüttert mit Gerüchten, etwa in Bezug auf das tragische Ende von Steve Barton: »Steve Barton, the actor who had been promised the role for New York, was found dead the day after the announcement was made public that Crawford would play the role in what was rumored (although not substantiated) to be a suicide.«
Bahnbrechend neue Erkenntnisse darf man sich in diesem Buch generell nicht erwarten, aber eine gut geschriebene Zusammenschau wesentlicher Meilensteine zu einem gelungenen Musical-Misserfolg.

Stephen Purdy: Flop Musicals of the Twenty-First Century. How They Happened, When They Happened (And What We’ve Learned). Routledge, New York 2020. 108 S.; (Hardcover) ISBN 978-036717331. $ 150,–. routledge.com

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals (2020)

broadway2010.jpgMit diesem Band hat Dan Dietz seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« weiter ausgebaut – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2010er-Jahren geschlossen vor. Wer alle zehn Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5620 Seiten zu einem Preis von rund 1440 US-Dollar.
In diesem Band behandelt Dietz 240 Shows, die am Broadway vom 1.1.2010 bis 31.12.2019 Premiere hatten. Eine kleine Unschärfe zieht sich durch die Buchreihe: Inkludiert sind neben Musicals auch verwandte Genres. Für die 2010er-Jahre sind erfasst: »sixty-one book musicals with new music; twenty-nine book musicals with mostly preexisting music; seven operas; two plays with incidental music; four dance musicals; thirty-six shows that fall under such categories as revues, concerts, comedy stands, and the always helpful ‚miscellaneous‘ category (such as the In Residence on Broadway series); eight magic shows; eighteen imports; fifty-two revivals and return engagements; and twenty-three pre-Broadway closings«.
Wie auch in den anderen Bändern versucht Dietz Trends zu isolieren. So war in der 2010er-Dekade die Rückkehr des Book Musicals mit neu komponierter Musik festzustellen. Gab es in den zehn Jahren davor nur 37 Premieren dieser Art, zählte Dietz in den 2010er-Jahren 61. Kleiner Haken dabei: Bei etlichen davon handelt es sich um Musicals, die auf Filmen der 1980er- und 1990er-Jahre basieren. Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er-Jahren liest sich die Zahlenfolge der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37-61.
Die Zahl der Revivals und Wiederaufnahmen ist gesunken, in diese Kategorie fallen 52 Shows (in den zehn Jahren davor waren es 58). So viel zu den Good News. Ein negativer Trend ist die Verdoppelung der Zahl der Musicals mit recycelten Songs, im Wesentlichen also Jukebox-Musicals (15 in den 2000er-Jahren, 29 in den 2010er-Jahren).
Ein interessantes Addendum bietet Dietz, das in die Periode der Corona-Pandemie verweist. Elf Musicals, die in den 2010er-Jahren Premiere feierten, fielen 2020 in die Phase des Broadway-Lockdowns. Sie waren mit Stichtag 15. März nicht abgespielt und warten offiziell darauf, den Spielbetrieb wiederaufnehmen zu können (in Klammer das Premierenjahr/die Zahl der bisherigen Aufführungen): »Ain’t Too Proud: The Life and Times of the Temptations« (2019/407), »Aladdin« (2014/2506), »The Book of Mormon« (2011/3748), »Come from Away« (2017/1251), »Dear Evan Hansen« (2016/1363), »Hadestown« (2019/376), »Hamilton« (2015/1919), »Jagged Little Pill« (2019/112), »Mean Girls« (2019/804), »Moulin Rouge!« (2019/262) und »Tina: The Tina Turner Musical« (2019/143).
Ein üppiger Band, detailreich wie immer mit allen relevanten Statistikangaben zu den angeführten Shows und interessanten Charakterisierungen und Einordnungen in die Musicalhistorie. Eigentlich unentbehrlich.

Dan Dietz: The Complete Book of 2010s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2020. 532 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-2632-5. $ 140,–.rowman.com

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