Jahrelang arbeitete Carol de Giere als Bibliothekarin in Mason City, USA, bis sie den Drang verspürte, auch selbst kreativ tätig zu werden. Sie studierte “professional writing” und startete eine neue Karriere als Freelancer-Autorin für lokale und regionale Publikationen. Eines Tages wurde sie damit beauftragt, für eine neu gelaunchte Website Texte über Musiker zu schreiben. Und zwar über Musiker, deren Namen mit einem “S” beginnen. »John Schneider«, »Diane Schuur« – »Stephen Schwartz« … Dieser Name kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie recherchierte im Netz, loggte sich bei www.StephenSchwartz.com ein und war von seiner Biographie beeindruckt. Ihr Lieblingsmusical “Godspell” hatte ja er geschrieben! Sie beschäftigte sich eingehend mit den Texten, die Schwartz auf seine Homepage gestellt hatte und war fasziniert, wie eingehend sich der Komponist und Texter mit den Fragen seiner Fans auseinandersetzte, wie glaubwürdig seine Antworten waren, wie gekonnt er eines beschreiben konnte: den kreativen Prozess des Komponierens und Textens, des Erarbeitens einer Show.
Und genau das ist der Punkt, der diese Biographie so lesenswert macht. Wer im Musicalbereich versucht, abseits der üblichen Fragen etwas tiefergehend den Entstehungsprozess von Shows zu ergründen, wird oft einerseits einem gewissen Misstrauen begegnen, und andererseits auch oft der Unfähigkeit, diese Prozesse zu kommunizieren. Zu sehr setzen Produzenten darauf, ihre Shows zu mystifizieren, ja nicht zu viel vom Entstehungsprozess nach außen zu tragen. Fragt man Komponisten/Texter nach ihrer Arbeitsmethode, nach dem kreativen Prozess des Komponierens oder Textens, kommen des Öfteren nebulose Leerformeln und ein abschließendes “Musik muss man hören”. Nur ganz wenige sind in der Lage, ihre Arbeitsmethode anderen vermitteln zu können.
Stephen Schwartz ist ein Künstler, der bereit ist, den kreativen Prozess nicht nichtssagend als “Magie – Tadaaa” zu mystifizieren, sondern detailliert alle Aspekte des Arbeitens auf dem Gebiet des Musiktheaters zu analysieren und zu erklären. Er tut dies in der hier besprochenen Biographie unter anderem ausführlich mit immer wieder eingestreuten »Creativity Notes«, quasi Tipps aus der Praxis. Alleine diese Hinweise und Analysen sind es wert, sich mit diesem Buch auseinanderzusetzen. Oft werden höchst komplizierte Prozesse am Ende der Ausführungen auf einen simplen Nenner gebracht. Zum Thema Songwriting meint Schwartz : »What I’ve learned as a writer is that the more I can get to my own emotional truth, the more a song is actually about me, thinly disguised as an Indian princess or the hunchback of Notre Dame or other characters, oddly enough, the more it communicates universally. For the most personal songs I’ve ever written, I’ve had people come up to me and say, «How could you possibly have known that? I felt like you read my diary.†It’s really an interesting phenomenon, and of course it makes our job as songwriters a lot easier. I have this joke where people ask, «How do you write a song?†and I say, «Tell the truth and make it rhyme.†But that’s really it. The more you can tell your truth, the more it resonates for others. Of all the lessons about songwriting I’ve learned over time, that’s been the most revelatory for me. I didn’t actually go in knowing that. I had to learn it from experience.â€
Carol de Giere (geboren 1952) ist kein «Hardcore-Musicalfan”. Ihre erste Show hat sie im Alter von 49 Jahren gesehen. Sie war und ist von der kreativen Persönlichkeit Schwartz’s fasziniert, und schon bald wurde aus dem einen Text für ihren Auftraggeber der Plan, eine autorisierte Biographie über den Komponisten zu schreiben. Im Jahr 2000 begann sie ihre Arbeit, 2008 wurde »Defying Gravity – The Creative Career of Stephen Schwartz from “Godspell” to “Wicked”« von Applause Books publiziert, ein 536 Seiten-Riegel, der so spannend und faszinierend ist wie ein guter Krimi. Ein Buch, das in jeder Hinsicht gelungen ist.
Beispielsweise ist es klug und leserfreundlich gegliedert, in 3 Akte (1948 bis 1974, 1974 bis 1991, 1991 bis 2003), sowie die Kapitel “Wicked” und “Extras”. Jeder Akt ist in sich wieder logisch gesplittet in Unterkapitel. Wenn man in diesem Buch Passagen nach dem ersten Lesen sucht, wird man sie auch finden. Das Layout ist durchdacht, links und rechts des Satzspiegels findet sich Platz für Abbildungen und eine Unmenge an Zitaten von und über Schwartz.
Die Biographie ist mit 200 Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Leben Stephen Schwartz’s reich bebildert. Die Auswahl der Bilder ist durchdacht, viele stehen für Wendepunkte im Leben des Künstlers und werden zu Impulsgebern für Geschichten. Beispielsweise ein Foto, entstanden auf einer Bootsfahrt in Hawaii, bei der Holly Near Stephen Schwartz von einem Buch erzählte, das ihr besonders gut gefallen hat: Gregory Maguires Roman “Wicked”. »In an instant, Schwartz’s imagination flashed through the implications of a backstory for »The Wizard of Oz« told from the perspective of the unpopular witch. It was the best concept for a musical he’s ever heard. As soon as he returned to his L. A. apartment, he called his attorney in New York, inquiring Maguire’s 1995 novel. […] «Okay, this book has been out for a while, so somebody has the rights. I need you to find out who has them. Meanwhile, I’m going to get the book and read it, because I think I want to do this.†Es sollte ein langer Trip werden, bis zur Premiere, und eigentlich hatte Schwartz schon vor seinen Disney-Erfolgen mit dem Broadway und dem West End abgeschlossen. Nach dem Flop von »The Baker’s Wife« in London ging er in Therapie und spielt mit dem Gedanken, Psychologie zu studieren und den Rest seines Lebens etwas ganz anderes zu machen – nur keine Musicals mehr.
Detaillierte Analysen der Entstehungsgeschichten von »Godspell«, »Pippin«, »The Magic Show«, »The Baker’s Wife«, »Working«, »Children of Eden« zur Disney- & DreamWoks-Phase und natürlich “Wicked” machen das Buch zu einem wichtigen Nachschlagewerk für alle, die sich mit den Musicals von Stephen Schwartz beschäftigen wollen, aber auch für alle jene, die generell an der Arbeitsweise eines Komponisten/Texters interessiert sind.
Das Buch ist auch ein Fundus witziger Anekdoten: Schwartz’s schwierige Zusammenarbeit beispielsweise mit Bob Fosse bei “Pippin”, oder das Chaos, das Topol bei der Produktion “The Baker’s Wife” verursachte. Aber nicht nur mit Topol gab es bei dieser Show Probleme, auch John Berry, ein Produzent der Aufführungsserie in Washington 1976, war ein Schlitzohr der besonderen Art:
“Merrick especially despised “Meadowlark” and wanted it replaced. Schwartz resisted. In Washington, D.C., the producer tried another track. Reports differ on what actually happened. Bob Billig remembers a matinee when, after Patti Lupone sang the piece and the first act curtain went down, he got a call on his headset in the orchestra pit. It was the stage manager saying, “Mr. Merrick is here. Her would like you to collect the orchestra parts of “Meadowlark” and bring them up here right now.”
Billig collected the music from the musicians and walked up the stage manager’s desk. “I handed the parts to the stage manager, he handed them to Mr. Merrick who put them in his briefcase, locked it, and walked out the door. I said “Oh God, what the hell are we going to do? How are we going to make the dramatic high point of the act to happen?” We had a show to do that night.”
Billig called Schwartz. “You have to know what just happened,” he explained the situation, upon which Schwartz said he would pull the score and close the show if it wasn’t restored, again invoking the Dramatists Guild contract he had used to save “King of Woman” in “Pippin”.
Publicity director Josh Ellis remembers being in the stage manager’s office backstage when someone stormed in regarding the pilfered music. He believed it was Schwartz (although Schwartz claims not to have been in Washington D.C. at that time). Merrick told whoever was there fussing over the removed music, “… don’t worry, we’re in Washington, D.C., home of the FBI. They will find our little Meadowlark. It’s clear it wasn’t stolen. The Meadowlark just flew away.” By the next performance, the music was back in Billig’s hands and the song remained in the show.”
Am Ende der Reise und des Buchs, nach diversen negativen Kritiken für »Wicked«, und nach den Tony Awards 2004, die für »Avenue Q« die begehrten Auszeichnungen für »Best Score«, »Best Book« und »Best Musical« einbrachten, steht die Conclusio des Komponisten: »When I was a kid [..] this was going to be my «corner of the skyâ€: I wanted to make a contribution to musical theatre, maybe help to advance it in some way or expand its boundaries like […] Richard Rodgers, and Stephen Sondheim, and Bock and Harnick, and Kander and Ebb and all these other people. That was my dream. And I think concomitant with that dream was an acceptance by the Broadway establishment. […] And that’s what, for whatever reasons, didn’t happen for me. I won’t even say it’s a disappointment anymore, because at this point I’ve accepted it. It’s simply a fact of life. I’ve had to accept the fact that it’s a dream that didn’t come true. And that’s okay, because so many other things have come true and have exceeded my expectations.â€
Carol de Gieres «Defying Gravity†ist natürlich keine werkkritische Auseinandersetzung mit dem Schaffen Schwartz’s. Sie hat eine von tiefer Sympathie geprägte Biographie geschrieben, Musikwissenschafter sind ihre Hauptzielgruppe nicht (schließlich soll sich das Buch ja verkaufen). Dennoch bietet sie ein breitgefächertes Datenmaterial: Auszüge aus vielen Original-Liedtextentwürfen, Partiturauszüge, genaue Entstehungsgeschichten vieler Songs, einen der ersten »Wicked«-Entwürfe aus dem Jahr 1998, negative Rezensionen von Kritikern sowie positive von Fans, spannende Schilderungen, wie man bei Disney Musicaltrickfilme konzipiert, entwickelt und vermarktet, und natürlich einen Ausblick auf neue, kommende Projekte des Texters/Komponisten. Und auch wenn Stephen Schwartz die New Yorker Kritiker nicht überzeugen kann, bleibt ihm eines: der Erfolg beim Publikum. Seit Juli 2008 ist er der einzige Komponist/Texter, der es auf drei Broadway-Shows (»Pippin«, »The Magic Show« und »Wicked«) mit mehr als je 1900 Vorstellungen gebracht hat.
Carol de Giere: Defying Gravity - The Creative Career of Stephen Schwartz from “Godspell” to “Wicked”. Applause Theatre & Cinema Books – An Imprint of Hal Leonard Corporation, New York 2008, 536 S., ISBN: 978-1-55783-745-5. $ 24,95 (Softcover). www.applausepub.com