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Archiv - Musical

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)

Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia (2021)Sieht man sich auf amazon.com die Bewertungen der Käufer des hier besprochenen Buches an, fällt der relativ hohe Prozentsatz an Ein-Stern-Urteilen auf. Mehr als 30 Prozent entschieden sich dafür, dem Buch die schlechteste aller möglichen Noten zu geben. Der Großteil davon gibt als Grund nicht etwa den Text an, sondern bemängelt die Herstellung des Buchs an sich. Der Buchblock habe sich vom Einband gelöst, der Buchkern sei aufgebrochen. Warum der Verlag eher eine günstigere Herstellungsweise einkalkuliert haben könnte, ist aber vielleicht ironischerweise an genau diesen Bewertungen abzulesen. Auf amazon.com haben das im April 2021 erschienene Buch 18 Käufer, auf amazon.de um sechs weniger bewertet. Wünschen darf man sich viel, auch teuer produzierte Bücher, aber Verlage müssen die finanziellen Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer absetzbaren Auflage im Auge behalten. Früher oder später werden Fachbücher wie diese vielleicht nur mehr digital angeboten. Der Preis wird dann nicht wesentlich tiefer liegen.
Doch wie kam es zur Entstehung des vorliegenden Werks? Im Jahr 2018 entwickelte man im Verlagshaus Rowman & Littlefield den Plan, die bestehende Enzyklopädie-Reihe mit einer Ausgabe über Stephen Sondheim zu erweitern, und auf der Suche nach einem Autor kam man auf den Theaterkritiker und Musikjournalisten Rick Pender. Er hat von 2004 bis 2016 mehr als 40 Ausgaben des Magazins »The Sondheim Review« als Herausgeber und Chefredakteur betreut und nach dessen Einstellung (ohne Erfolg) versucht, mit »Everything Sondheim« ein Online-Nachfolgemodell zu etablieren. Pender glaubte anfangs, man wolle ihn als Herausgeber verpflichten und ihm die Aufgabe übertragen, die Beiträge aller engagierter Autoren zu einer Einheit zu formen, doch der Verlag machte ihm rasch klar, dass man aufgrund des begrenzten Budgets nur einen Autor verpflichten wolle, nämlich ihn. In seinem Autorenvertrag fand sich unter dem Punkt »geplanter Umfang« folgende Angabe: 300.000 Wörter. Das gedruckte Buch umfasst 638 Seiten, Pender arbeitete daran zwei Jahre.
Nicht unwesentlich bei diesem Projekt ist die Frage, ob Sondheim selbst involviert war. Hier meinte Pender in einem Radiointerview, er habe sich an die drei Mantras Sondheims gehalten (die er auch im Buch beschreibt): 1. »Content Dictates Form.« 2. »Less Is More« und Punkt 3: »God Is in the Details.« Letzterem folgend habe er den Komponisten gebeten, den ausführlichen biografischen Beitrag zu lesen und zu korrigieren. Für weitere Detailfragen stand Sondheim dem Autor per Mail zur Verfügung und antwortete meist innerhalb von 24 Stunden.
Das Nachschlagewerk ist alphabetisch in 133 Einträge gegliedert. Pender hatte ursprünglich mehr als 200 Einzelbeiträge in seinem Konzept vorgesehen, aber, um wieder auf die einleitenden Sätze Bezug zu nehmen: Der Verlag ersuchte um Reduktion (in dem Fall wohl eher nicht auf Sondheims Mantra »Less Is More« anspielend).
Natürlich findet man in Penders Buch ausführliche Darstellungen aller 18 großen Sondheim-Musicals (aber eben nicht einiger kleinerer Werke), man findet Biografien der wichtigsten Darsteller, Regisseure, Designer und weiterer wesentlichen Personen in der künstlerischen Umsetzung von Sondheims Werk (zum Beispiel auch ein Kapitel über Barbra Streisand). Es werden essenzielle Lieder aus den Werken näher beleuchtet, wie etwa »Children Will Listen«, »Not a Day Goes By« oder »Sooner or Later«. Als Hauptquellen benützte Pender die rund 80 Ausgaben der »Sondheim Review« sowie jene Bücher, die bisher über Sondheim erschienen sind, sowie Radio- und Zeitungsinterviews. Für die Songanalysen erarbeitete er Zusammenfassungen der von Mark Eden Horowitz für »The Sondheim Revue« verfassten Reihe »Biography of a Song«. Am Ende jedes Eintrags liefert der Autor stets eine Liste seiner Quellen.
Was der Verlag sich wünschte, war ein Standardwerk. Hauptzielgruppe von Rowman & Littlefield sind bei dieser Enzyklopädie Universitäten und Bibliotheken – ebenfalls ein Grund für die Preisgestaltung. Penders Aufgabe war es also, ein fundiertes und auf seine Richtigkeit überprüftes Werk zu schaffen, das man als erste Anlaufquelle in Sachen Sondheim verwenden kann, und gleichzeitig eine Fülle an weiterführenden Tipps anzubieten. Das ist rundum gelungen.
Neben den Haupteinträgen erarbeitete Pender eine Reihe von, wie er es in einem Interview bezeichnet hat, »Sidebars«. Zum Beispiel eine Liste von Lieblingsfilmen des Komponisten (kompiliert aus Gesprächen mit Sondheim und diversen anderen Quellen). Nicht fehlen darf eine halbe Seite zu den Lieblingsbleistiften Sondheims (Blackwing, und zwar das Modell »slate-gray 602«): »Blackwings are special pencils that Sondheim preferred because of their very soft lead, which makes them not only easy to write with (although extremely smudgy) but also encourages the user to waste time repeatedly sharpening them, since they wear out in minutes.« Auf knapp sechs spannenden Seiten beleuchtet Pender im Spiegel einer Fülle von Zitaten Sondheims ambivalentes Verhältnis zur Oper. Sondheim: »Opera isn’t primarily about storytelling, therefore I get impatient, although part of me knows I shoudn’t.«
Weitere »Sidebars«: »Contributions to Works by Others, »International Productions«, »Juvenile Works«, »Libraries and Archives«, »Lyric Studies«, »Movie Musicals« oder auch »Musical Likes (and Dislikes). In einem eigenen Kapitel wird Sondheims Liebe zu »Puzzles, Games, and Mysteries« untersucht, Weggelegtes in »Unproduced and Abandoned Projects« behandelt. Ein eigenes Kapitel widmet Pender der TV-Serie »Topper«: Nach dem College versuchte sich der junge Sondheim in Hollywood als Drehbuchschreiber. Im Sommer 1953 machte Oscar Hammerstein II ihn auf einer Dinnerparty mit George Oppenheimer bekannt. Der bekannte Drehbuchautor hatte gerade den Auftrag für eine Pilotfolge der Serie »Topper« erhalten und suchte einen »assistant writer«. Für 300 Dollar die Woche arbeitete Sondheim gemeinsam mit Oppenheimer an einigen Folgen der Serie. Auch das eine von vielen spannenden Geschichten, die Pender für seine sehr empfehlenswerte Enzyklopädie eigens recherchiert hat.
Rick Pender: The Stephen Sondheim Encyclopedia. Rowman & Littlefield, Lanham 2021. ISBN 978-1-5381-1586-2. $ 135,00. www.rowman.com

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism (2020)

jansen-2021.jpgVorliegendes Buch ist eine Zusammenstellung von Beiträgen, die für ein Symposion erarbeitet wurden, das 2017 in Freiburg stattfand. Etwas allgemeiner formuliert war der Anlass für den Band der Umstand, dass die Geschichte der Kunstform Musical (und der Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist.
Ein paar Bemerkungen zu dieser grundlegenden Problematik am Beispiel Österreich: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. Berücksichtigte man jene Bände nicht, die in Zusammenarbeit mit Theatern (oft in gewisser (finanzieller) Abhängigkeit) erscheinen, es bliebe praktisch nichts übrig. Die letzten beiden Jahrzehnte sind unbeleuchtet. Die Gründe? Zum Beispiel der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden daher immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Symptomatisch der Titel einer aktuellen Diplomarbeit zum Thema: »Wien 1970–2000: eine Musicalmetropole?« (Jasmin Kofler, 2020). Die letzten beiden Jahrzehnte werden gar nicht berücksichtigt, der Rest infrage gestellt. Als Einleitungszitat steht eine Sentenz aus »Schikaneder« – einer Show, die nicht in den Untersuchungszeitraum fällt. Was fehlt, sind Erzählerpersönlichkeiten. Marcel Prawy war ein Botschafter der Oper, Operette und des Musicals. In seiner Nachfolge hat Christoph Wagner Trenkwitz eine Aufarbeitung der Geschichte des Musicals an der Volksoper in Angriff genommen. Sein Buch »Musical an der Wiener Volksoper« behandelt die Geschichte des Hauses bis 2007. Die Geschichte des Musicals am Theater an der Wien wurde von Peter Back-Vega, Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien, bis zum Jahr 2008 in einem Band bearbeitet. – Einzelpersönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren, was Bücher betrifft, nicht mehr der Musicalgeschichte gewidmet haben. Wen wundert es also, dass wir von der Musicalgeschichte anderer Länder, etwa den osteuropäischen, noch weit weniger wissen als von unserer eigenen.
Die Situation im Deutschland ist etwas anders, hier gibt es eine Erzählerpersönlichkeit: Wolfgang Jansen. 2008 veröffentlichte er mit »Cats & Co« seine »Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Raum«, bei Recherchen für einen geplanten Nachfolgeband zur Geschichte des Musicals in der DDR stellte sich ihm eine grundlegende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, die Geschichte des Musicals in der DDR abgelöst vom politischen, gesellschaftlichen System, in dem es sich entwickelte, zu schreiben? Hat das DDR-Musical eine singuläre Stellung oder ist es nur im Rahmen der allgemeinen Entwicklung des Genres im kommunistischen Osteuropa nach 1945 zu verstehen? Aufgrund der Sprachbarrieren war es Jansen nicht möglich, in einem zufriedenstellenden Ausmaß an Datenmaterial zu bekommen. So entstand die Idee zu einem Symposion mit dem Thema: »The development of operettas and musicals after 1945 unter the social and ideological conditions of socialism in the East European countries.« Die Hauptfragestellungen: »Did the uniform (prescribed) worldview lead to identical plays, or are there – in spite of transnational ideology – national specific differences? Were there specific aesthetic phases of national development? What influence did the import of works from abroad, from the fraternal socialist countries, or the capitalistic West have on the national production? Were there any governmental guidelines for authors and composers? When and under what conditions changed the repertoire to the musical? Which social, cultural and political value was measured by the state to the popular musical theatre? Who were the most important authors and composers? Was there a socialist operetta, a socialist musical, and what political, social and ideological issues were negotiated in the form of popular musical theater on stage.«
Beiträge von 14 Forscherinnen und Forscher aus der Sowjetunion, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Deutschland (für die ehemalige DDR) sind im vorliegenden englischsprachigen Band publiziert. Schwerpunktmäßig konzentriert sich das Buch auf Ungarn (83 Seiten) und die DDR (65 Seiten). Der Theaterhistoriker Gyöngyi Heltai etwa berichtet über die Rolle, welche ab den 1960ern dem Budapester Operettentheater im Rahmen der ungarischen Außenpolitik und Kulturdiplomatie zugewiesen wurde – bis in jüngste Gegenwart. Als etwa am 31. Mai 2011 die ungarische EU-Präsidentschaft mit einer offiziellen Schlussveranstaltung ausklang, ging im Bukarester Operettentheater eine zweisprachige Aufführung von Gà©rard Presguvics »Romeo & Julia« über die Bühne. Romeo sang auf Rumänisch, Julia auf Ungarisch. Diplomaten aus 40 Ländern besuchten die Produktion des Budapester Operettentheaters, die die negativen Auswirkungen von ethischen Konflikten zeigen sollte. Derartige Events des Operettentheaters fanden auch in Italien und England statt.
Pavel Bà¡r berichtet von der ersten Musical-Premiere in der Tschechoslowakei: »Finian’s Rainbow« (in einer bearbeiteten Version mit dem neuen Titel »Der wuntertätige Topf«), Anfang März 1948, nur wenige Tage nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948. Es war gleichzeitig die letzte Produktion eines amerikanischen Musicals bis 1963: »Kiss Me, Kate«. Allerdings kamen ab Ende der 1950er-Jahre Werke aus der DDR und Italien zur Aufführung. Zu einem völligen Neubeginn, so Bà¡r, kam es nach der »Samtenen Revolution« vom November 1989: »… the centrally planned economy was transformed into a capitalist system, and the transformation was naturally also reflected in the theatre culture: free private theatre business could return to the theatre system after more than 40 years. The previously unchanging theatre network, which was controlled by the state, started to change. In the summer of 1992, Adam Nà³vak, the first Czechoslovak musical producer, staged the famous Les Misà©rables. Thanks to the co-production with Cameron Mackintosh, this first production introduced Czechoslovak theatre to new qualities and foreign experience […]« Dieses Buch versammelt spannende Analysen, Geschichten, Daten und Fakten. Allein der Anmerkungsapparat vieler Artikel ist ein wertvoller Fundus. Unter musicallexikon.eu finden sich online (»Musicals nach Ländern geordnet«) ergänzende Angaben zum Kapitel DDR. Lesenswert.

Wolfgang Jansen: Popular Music Theatre under Socialism. Operettas and Musicals in the Eastern European States 1945 to 1990. Waxmann, Münster 2020. ISBN 978-3-8309-4248-1. € 34,90. waxmann.com

Frank Wildhorn & Friends: Live From Vienna (2020, DVD)

Die Corona-Pandemie hat ganz unterschiedlich bei uns allen zugeschlagen, was Zeit und Kommunikation betrifft. Die einen hatten auf einmal viel Zeit zur Verfügung und versuchten sich in den diversen Pandemieablenkungen wie Brotbacken. Die anderen waren im Dauerstress. Etwa weil Abgabefristen noch volatiler wurden als sonst, sich laufend verschoben, plötzlich akut wurden. Die Kommunikation verlagerte sich bei vielen ins Digitale, und bei manchen scheint diese Volatilität wohl dazu geführt zu haben, ganz auf Kommunikation zu verzichten. So habe ich zum Beispiel erst Monate nach Erscheinen der DVD »Frank Wildhorn & Friends: Live From Vienna« erfahren, dass ich den Begleittext zu dieser DVD verfasst habe. Eine etwas kafkaeske Situation.
Ursprünglich hatte ich den Text vor elf Jahren für meine Website verfasst. Am 7. Oktober 2010 fragten die Produzenten der Show per Mail:

Lieber Martin Bruny,
ich bin die Künstlerische Produktionsleitung des Konzerts “Frank Wildhorn & friends” vom vergangen Montag in Wien.
Ich würde gerne aus Ihrem Artikel im Kultur-chanell.at den Teil, der sich direkt auf das Konzert bezieht, ins englische übersetzen und Frank Wildhorn resp. der amerikanischen PR zur Verfügung stellen.
Ebenso mit den Bildern unter Angabe des Fotografen.
Ich bitte um kurze Bestätigung und Angabe des zu nennenden Copyright-verweises.
Herzlichen Dank und liebe Grüße,
Renate Gritschke

Diese Verwendung war aus meiner Sicht kein Problem. Wo beziehungsweise ob dieser Text dann tatsächlich eingesetzt wurde, habe ich nicht weiter verfolgt. Als Monate später eine CD der Show veröffentlicht wurde, kontaktierte mich die ausführende Plattenfirma und fragte, ob es okay sei, den Text zu verwerten. Das war es.
Zehn Jahre später denselben Text ohne Nachfrage für eine DVD zu verwenden, ist aus meiner Sicht allerdings nicht mehr okay. Der Text war im Eindruck einer Liveshow entstanden, schon die Verwendung für eine CD-Veröffentlichung ist da nur gerade noch vertretbar. Dann aber nach zehn Jahren einen Text zu verwenden, der mit keiner Silbe auf die Bildebene eingeht, ist nicht mehr in Ordnung. Vor allem nicht ohne Kontaktaufnahme.
Ich würde ja eventuell nun noch ein paar Zeilen über die DVD schreiben, aber auch Belegexemplar ist keines angekommen.

broadwayworld.com: Es wird nur einen Sieger geben …

Das Corona-Jahr 2020 war bisher schon an Absurditäten nicht zu übertreffen. Auf ein paar davon komme ich noch im Zuge einer »Rezension« (die keine sein wird) der in diesem Jahr veröffentlichten »Wildhorn & Friends: Live in Vienna«-DVD demnächst zu sprechen. Den Vogel abgeschossen hat am Sektor Musical bzw. Theater aber nun der Österreich-Ableger von broadwayworld.com. In einer Umfrage, die die besten Leistungen am Theatersektor der letzten Dekade abfragen will, ist die Auswahl mitunter derart gelenkt und absurd, dass der Ausgang der Wahl wohl auch ohne Wahl klar ist. Nur ein Beispiel: In der Kategorie »Set Design of the Decade« (und hier wären an sich Sprech- und Musiktheater gemeint) kann man von drei vorgeschlagenen VBW-Produktionen (»Schikaneder«, »Cats« oder »Tanz der Vampire«) eine wählen oder eben nichts (siehe Screenshot hier). Das heißt: Der Sieger heißt in jedem Fall: Vereinigte Bühnen Wien. Im Vorjahr war der Ausgang dieser Awards der rührigen VBW-Pressedame eine Pressemeldung wert. Heuer wird es wohl nicht anders sein. Ernst zu nehmen ist das jedoch nicht.

Ronacher-Reopening mitten in der Corona-Pandemie. Ein gefährliches Spiel

Am 3. und 4. Juli 2020 fanden im Wiener Ronacher, mitten in der Corona-Pandemie, die erst mit einem wirksamen Impfmittel besiegt werden könnte, Vorstellungen der Produktion »Cats« statt. Die VBW bezeichneten diese Vorstellungen als »Probedurchläufe«. Jeweils 250 geladene Gäste waren zugelassen. Auf seiner Website beschreibt das Unternehmen der Wien Holding die getroffenen Schutzmaßnahmen folgendermaßen: »Neben der Umsetzung der vorgeschriebenen COVID-19-Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung wurde von den VBW ein detailliertes, maßgeschneidertes Konzept erstellt, das zusätzlich strengste Sicherheits- und Hygienebedingungen im Zuschauer- und Backstage-Bereich beinhaltet.«
Der Satz ist inhaltlich falsch. Die Maßnahmen der Regierung zielen ja genau auf das, was die VBW hier quasi als »Fleißaufgabe« verkaufen wollen: Sicherheits- und Hygienebedingungen. Wie streng diese sind, ist irrelevant, sie müssten wirken. Welche Maßnahmen aber wie wirksam sind, darüber sind sich nicht mal die Experten derzeit einig.
Der Intendant des Hauses, Christian Struppeck, wird auf der VBW-Website folgendermaßen zitiert: »Wir sind so bestens für den regulären Spielbetrieb ab Herbst vorbereitet.« Es wird keinen »regulären« Spielbetrieb geben im Herbst. Einen solchen dem potenziellen Publikum vorzugaukeln, mag aus der Sicht des Unternehmens im Sinne der Finanzen richtig sein, aber Fakt ist, dass eine Ansteckung mit Covid-19 im Theater nicht verhindert werden kann. Jeder Besuch kann letzten Endes tödlich enden. Bis ein Impfstoff dieser unsicheren Zeit ein Ende setzt. Es liegt allein am Theaterbesucher, ob er dieses nicht gänzlich vermeidbare Risiko eingeht oder nicht.
Daher ist es auch schwer verständlich, dass dem Kartenvorverkauf derzeit ein Saalplan hinterlegt ist, der sich nicht deutlich merkbar vom üblichen unterscheidet. Man sieht darauf nichts, was auf einen Sicherheitsabstand zwischen den Sitzen hindeutet (Stand: 7. Juli). Entspricht die Zahl aller eingezeichneten Sitzplätze (egal ob in der Auswahl aktiv auswählbar oder nicht) tatsächlich der Anzahl der Tickets, die verkauft wird? Wie viele Besucher werden im Herbst in die Vorstellungen eingelassen? Das ist eine wichtige Eckzahl, die das Unternehmen dringend veröffentlichen sollte. Sollte man am Saalplan nicht exakt sehen, wo man im Theater sitzen wird, ist er unbrauchbar und eigentlich ein Fall für den Konsumentenschutz.

Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall) (2020)

Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall).22 Titel umfasst die Buchserie »The Fourth Wall«, die der Verlag Routledge 2016 mit einem Band zu Harold Pinters »Party Time« startete. Der Verlag charakterisiert die Reihe folgendermaßen: »Fourth Wall books are short, accessible accounts of some of modern theatre’s best loved works. They take a subjective but easily digestible approach to their topics, allowing their authors the opportunity to explore their chosen subject in a way that is absorbing enough to be of use both to lovers of theatre and those who are being asked to study a play more deeply. Each book in the series looks at a specific play, variously exploring its themes, contexts and characteristics while prioritising original, insightful writing over complexity or scholarly weight.« Acht Bände widmen sich Musicals: »My Fair Lady«, »Sunday Afternoon«, »Into the Woods«, »Sweeney Todd«, »Les Misà©rables«, »Hedwig and the Angry Inch«, »The Book of Mormon« und, 2020 erschienen: »The Sound of Music«.
Eine erstaunliche Verlagsstrategie vorab. Band 1 (»Party Time«), ist (nach wie vor) in drei Kaufformaten erhältlich. Das 70 Seiten starke Buch kostet in der Hardcover-Ausgabe nicht weniger als 160 Pfund, als E-Book & Paperback 8,99 Pfund. 2017 senkte man den Hardcover-Preis neu erscheinender Titel auf 120 Pfund, seit 2018 werden keine Hardcover-Ausgaben neu veröffentlichter Werke dieser Serie angeboten. Nicht wirklich verwunderlich.
Julian Woolworth, Schauspielschulleiter, Regisseur und Schriftsteller, analysiert in seinem Büchlein zu »The Sound of Music« in erster Linie das Bühnenmusical, widmet sich aber auch den Filmversionen. Seine Methodik beruht darauf, Bezüge herzustellen. Er ordnet ein, etikettiert. So zeigt er Parallelen zwischen »The Sound of Music«, »King and I« auf. Das Musical sei »a rewrite of The King and I, a kindly governess battles a despotic father for the love of the children and brings liberalism into the household«m verortet das Werk in der Biografie von Rodgers und Hammerstein in vielerlei Hinsicht, flicht ein, dass »Edelweiss« das letzte gemeinsam geschriebene Lied ihrer letzten gemeinsamen Show sei. Er vernetzt das Musical mit der Gegenwart, etwa indem er die Bedeutung des Songs »Edelweiss« als Titelmelodie (gesungen von Jeanette Olsson) der nach einer literarischen Vorlage von Philip K. Dick entstandenen Fernsehserie »The Man in the High Castle« (Amazon Studio, 2015–2019) analysiert. Die Methode der Amerikaner, aus der Geschichte der Trapps und dem deutschsprachigen, in den USA gefloppten Film »Die Trapp Familie« (1956) letztlich einen Erfolg auf der Bühne und im Film zu machen, bezeichnet er als »Ghosting«: »As is so often the case with true stories, the effect is to alter the perception of the real events so that, after time, audiences believe they are seeing something that is closer to the truth than they actually are in reality and the adaptive choices made by writers are ignored. This is sometimes referred to as ghosting; a process by which stories become reinterpreted creatively and the true story becomes merely a ghost in the background.« Ein eigenes Kapitel ist dem späten Erfolg der Bühnenversion in Österreich gewidmet, hier illustriert er auf amüsante Weise, welche Bedeutung die Show da hat: »In 2014 a contestant on Die Millionen Show was asked a € 70,000 question that would surely have been in an earlier round in any other country: What small flower is the title of a song from The Sound of Music?. The contestant didn’t know the answer and, even after phoning a friend, she chose another flower, despite Edelweiss being the national flower of Austria.« Flott geschrieben, interessante Details als Highlights. Empfehlenswert.
Julian Woolford: Rodgers and Hammerstein’s »The Sound of Music« (The Fourth Wall). Abingdon 2020. 74 S.; (Paperback) ISBN: 978-1-138-68283-2. £ 6.99 routledge.com

Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter (2020)

Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter.Deutschland 1932. Die Brüder Peter und Alfred Rotter bespielen neun Theater: das Metropol-Theater (dessen Kern in der heutigen Komischen Oper erhalten geblieben ist), das Theater des Westens, das Lessing-Theater, den Admiralspalast, Lustspielhaus, Zentraltheater Berlin, Zentraltheater Dresden, Alberttheater Dresden, Mellini-Theater Hannover. Für Komödien und Dramen haben sie auch noch das Deutsche Künstlertheater und das Theater in der Stresemannstraße (heute: Hebbel am Ufer) in ihrem Portefeuille. Und die Plaza in Friedrichshain mit 3000 Sitzplätzen. Sie manövrieren mit Wagemut zwischen Erfolg und Bankrott, mitten in der Wirtschaftskrise.
In der Weimarer Republik galten die Rotters als die Theatermacher, 1929 schrieb die »New York Times«: »The Berlin operetta situation is in the hands of the Rotter brothers.« Kaum ein Operettenschlager dieser Zeit, der nicht auf ihren Bühnen seinen Ausgang genommen hat: »Friederike«, »Land des Lächelns«, »Ball im Savoy«. Aber »in Wirklichkeit sind die Rotters […] längst weiter – auf einer neuen Spur. Ralph Benatzkys Mit dir allein auf einer einsamen Insel nach einem Libretto von Arthur Rebner weist bereits den Weg zum deutschen Musical. Diese Benatzky-Operette, die zuvor am Residenz-Theater in Dresden – ebenfalls eine Rotterbühne – uraufgeführt worden ist und mächtig eingeschlagen hat, kommt im Mai 1930 ausgereift ans Metropol-Theater, dem Haupthaus der Rotters, und verdrängt Tauber und Das Land des Lächelns in die Abspielstätte Theater des Westens. Benatzky entwickelte das musikalische Singspiel – ein Genre, in dem er führend wurde.«
Kamber, ein Schweizer Soziologe, Theater- und Romanautor sowie Journalist, der in Berlin lebt, beschäftigte sich viele Jahre mit der Biografie der Berliner Theaterdirektoren Peter und Alfred Rotter. Sein Buch ist akribisch recherchiert, jedes Detail mit überprüfbaren Fakten untermauert. Es ist erstaunlich, was er an Daten und Geschichten aus den zeitgenössischen Quellen zu dieser packenden Biografie destillieren konnte. Und der Verlag Henschel hat diesem Buch ein elegantes Layout (Layout/Satz von flamboyant) anpassen lassen: liebevolle Details, perfekte Papierwahl, ein Lesebändchen, eine Vielzahl an Bildern, wirksam eingesetzt. Ein Traum von einem Buch in jeder Hinsicht für alle, die an Theatergeschichte interessiert sind.
Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter. Henschel, Leipzig 2020. 504 Seiten.; (Hardcover) ISBN 978-3-89487-812-2. € 26,–. henschel-verlag.de

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals (2019)

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals (2019)Dan Dietz hat wieder zugeschlagen und seine 2014 gestartete, erfolgreiche Buchserie »The Complete Book of … Broadway Musicals« ergänzt – sie liegt nun von den 1920er- bis zu den 2000er-Jahren geschlossen vor. Wer alle neun Bände erworben hat, verfügt über ein Werk von 5088 Seiten zu einem Preis von rund 1300 US-Dollar.
Für die Statistiker ist dies eine wunderbare Edition. Man kann anhand der Daten spannende Zeitläufte ablesen. Wobei die 1920er-Jahre geradezu eine Blütezeit darstellen. Für diesen Zeitraum listet Dietz eine Einheit von 287 Book Musicals, neuen Opern sowie Book Musicals, die in Europa entstanden sind und am Broadway ihre US-Premiere feierten, auf. Diese Musicals aus Europa wurden im Allgemeinen mit zusätzlichen Songs amerikanischer Texter und Komponisten bestückt. Im Jahrzehnt darauf war die Situation bereits eine ganz andere: In den 1930er-Jahren gab es nur mehr 128 Produktionen dieser Art. Und bis zu den 2000er-Jahren sank der Output auf 57 Produktionen.
Für den Zeitraum von den 1930er- bis zu den 2000er Jahren lassen sich interessante Zahlenabfolgen ablesen: Die Anzahl der reinen Book Musicals (mit eigens komponierter Musik) entwickelte sich folgendermaßen (Anzahl der Shows pro Jahrzehnt): 94-80-71-98-84-50-32-37. Dem entspricht die Risiko-Kurve: Von den 1930er- bis zu den 2000er Jahren überstanden immer mehr Shows die Tryout-Phase: Am höchsten war die Anzahl der Shows, die es nicht bis zur Premiere schafften, in den 1940ern (56), in den 1970ern waren es 29 Produktionen und in den 1990ern und 2000ern 16 bzw. 13.
Aber zurück in die wilden Zwanziger: Was die Long Runs dieses Jahrzehnts betrifft, so brachten es 18 Shows auf mehr als 400 Vorstellungen. Die Top 3: »The Student Prince« (608 Vorstellungen; Buch/Texte: Dorothy Donnelly; Musik: Sigmund Romberg), »Show Boat« (572 Vorstellungen; Buch/Texte: Oscar Hammerstein II; Musik: Jerome Kern) und »Sally« (570 Vorstellungen; Buch: Guy Bolton; Texte: Clifford Grey; Musik: Jerome Kern).
Nicht in den Top 3 vertreten, aber als größte finanzielle Erfolge des Jahrzehnts gefeiert: »No, No, Nanette« (Buch: Otto Harbach, Frank Mandel; Texte: Irving Caesar, Otto Harbach; Musik: Vincent Youmans) und »Rose-Marie«/Texte: Otto Harbach, Oscar Hammerstein II; Musik: Rudolf Friml, Herbert Stothart), die auf Tourneen erfolgreich waren und sich international durchsetzen konnten.
Von »No, No, Nanette« gab es in 27 Ländern Produktionen, am Broadway reichte es indes nur für 321 Vorstellungen, und das, obwohl aus dieser Show die Evergreens »Tea for Two« und »I Want to Be Happy« stammen. Bereits vor der Broadway-Premiere (16.9.1925, Globe Theatre, dem heutigen Lunt-Fontanne Theatre) wurden am 14. Mai 1925 die Notenblätter zu »No, No, Nanette« publiziert. »Tea for Two« wurde zum Hit und danach zum Evergreen, von dem mehr als 80 Coverversionen veröffentlicht wurden. 1963 zählte das Lied zu den 16 erfolgreichsten Musikwerken aller Zeiten. Aber worauf ist das bescheidene Abschneiden des Musicals damals in New York zurückzuführen? Zum einen auf eben die erfolgreiche Tour vor der Broadway-Premiere, absolviert von drei parallel spielenden Companies mit mehrmonatigen Spielserien in Detroit, Chicago, Boston und Philadelphia. Sechs Monate vor der New Yorker Premiere war das Musical auch in London schon am Spielplan. Und dann war da noch etwas: »The season was rich in new hits, and in fact Nanette’s opening was part of a history-making Broadway week. Within the seven-day period of Nanette’s premiere, three other successes opened (Richard Rodgers and Lorenz Hart’s Dearest Enemy, Rudolf Friml’s The Vagabond King, and Jerome Kern’s Sunny), and never before and never again would four consecutive smash hit musicals open during such a short time period. And soon more new shows were on the boards, some hits, others not, but all in all, they constituted more choices for the public: Jerome Kern’s The City Chap, Sigmund Romberg’s Princess Flavia, Irving Berlin’s The Cocoanuts, the Gershwins’ Tip-Toes, George Gershwin (and Herbert Stothart’s) The Song of the Flame, and Rodgers and Hart’s The Girl Friend. In addition to a number of well-received revues, there were hold-overs from the previous season, including Rose-Marie, The Student Prince in Heidelberg, and Louie the 14th.
Die ausführliche Beantwortung solcher Fragen macht die Schmöker von Dan Dietz so lesenswert. Es handelt sich nämlich natürlich auf der einen Seite um Nachschlagewerke mit enzyklopädischem Charakter. Für jede Show gibt es Angaben zu Aufführungsort, Premierendatum, Anzahl der Aufführungen, Kreativteam, Cast; eine Auflistung aller Songs und Awards sowie eine Inhaltsangabe. Zusätzlich jedoch liefert Dietz ausführliche Kommentare und Texte etwa zur Rezeptions- und Produktionsgeschichte, seine Einschätzung, Bewertung anhand von Kritiken und Zeitungsartikeln und Angaben zu etwaigen Revivals. Im Fall von »Nanette« kam es am Broadway 1971 zu einer Neuproduktion (Premiere 19.1.1971 im 46th Street Theatre, dem heutigen Richard Rodgers Theatre), die es auf 863 Aufführungen brachte. 1986 gingen fünf konzertante Vorstellungen in der Carnegie Hall über die Bühne, 1988 kam es zu 32 Vorstellungen einer Produktion der New Yorker Equity Library, und schließlich gab es am 8. Mai 2008 einer Aufführung im Rahmen der Encores!-Serie im New York City Center. Auch für all diese Produktionen liefert Dietz interessante Facts. Weiters bespricht er die Verfilmungen des Musicals aus den Jahren 1930, 1940 und 1950 (»Tea for two«) und noch so vieles mehr.
Reichlich Stoff zum Nachschlagen und Googeln bieten die diversen Anhänge. Etwa jener, der Shows auflistet, die ihre Proben-Phase nicht überlebten. Da findet man etwa 1929 »The Dutchess of Chicago« (»Die Herzogin von Chicago«), Emmerich Kà¡lmà¡ns Operette, die 1928 ihre Uraufführung im Theater an der Wien erlebt hatte. Besser erging es einer Produktion, die 1924 im Theater an der Wien ihre Uraufführung hatte und am 18. September 1926 ihre Broadway-Premiere feierte: »Countess Maritza« (»Gräfin Maritza«), ebenfalls von Emmerich Kà¡lmà¡n und mit 321 Vorstellungen ein Erfolg.
Hoffentlich lässt Dietz demnächst noch einen Band zu den 2010er-Jahren nachfolgen.

Dan Dietz: The Complete Book of 1920s Broadway Musicals. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 2019. 652 S.; (Hardcover) ISBN 978-1-5381-1281-6. $ 150,–. rowman.com

Muth: »Aquarium«

Am 22. Februar feierte die wunderbare kleine Musicalproduktion AQUARIUM im Wiener Muth Premiere. Wie würde ich die Essenz kurz wiedergeben? Es geht quasi um einen Musicaldarsteller, der für das Musicalgenre brennt und daher NATÜRLICH, obwohl er die Kohle bräuchte, ein Engagement bei I AM FROM AUSTRIA ablehnt.
Nein, selbstverständlich geht’s darum nicht (aber wäre das nicht ein toller Plot?). Konkret geht’s um einen Musicalkomponisten, der seine Berufung, das Komponieren, leider nicht in einen Job umsetzen kann, der ihm Kohle zum Überleben bringt. Julian Loidl spielt in dieser One-Man-Show diesen Komponisten (Hob i schon gsagt FULMINANT?), der dem Publikum sein Herzblut, die Show AQUARIUM, vorstellt und nebenbei sein Scheitern als Künstler schildert. Eines aber verliert er nicht: die Selbstachtung.
Und was die einleitende erwähnte Essenz betrifft, so hat das schon seine Berechtigung, denn in den ersten sagen wir 30 Minuten ist AQUARIUM voller Jokes über das Musicalgenre an sich und auch über die VBW. Wir leben ja grade in einer sehr armen Zeit, was Musicalparodien betrifft (seitdem das System Werner Sobotka assimiliert hat), daher mein Tipp: unbedingt ansehen. Wenn ein so leidenschaftlicher Typ wie der Autor, Regisseur und Komponist dieses Stücks (und gleichzeitig der Leiter Produktion und Marketing des Muth) Otto Jankovich die Leitung der VBW übernehmen würde …

Nächste Aufführungstermine
Freitag, 1. Mai 2020, 19:30–21:00 Uhr
Samstag, 20. Juni 2020, 19:30–21:00

Team und Besetzung
Darsteller: Julian Loidl
Buch, Musik & Regie: Otto Jankovich
Liedtext: Karl Mayer-Rieckh

Infos –> hier.

Musical Unplugged 2020 in Wien: Dragqueens, Hingabe, tote Orchestermusiker & Repertoire

1|Dragqueens
2004, vor 16 Jahren, gastierte Patti Labelle im Rahmen des Jazz Fest Wien in der Wiener Staatsoper. Es war ihr zweites Wien-Konzert, einige Jahre davor hatte sie einen legendären Auftritt im Wiener Konzerthaus. An den konnte sie nicht mehr ganz anschließen, aber ihre Diva-Glanzmomente hatte sie auch in der Staatsoper.
Ein wichtiger Teil ihres Showprogramms war und ist Publikumsbeteiligung. Labelles Performance lebt davon, das Publikum in ihre Performance zu inkludieren. Spürt sie die Zuschauer, zieht sie daraus das bisschen mehr an Energie, das aus einem guten einen sensationellen Auftritt macht. Mal holt sie Freiwillige zum Tanzen auf die Bühne, mal soll kurz jemand aus dem Publikum mitsingen … Bei jenem Konzert 2004 in der Wiener Staatsoper hielt es einen jungen Mann neben mir nicht mehr am Sitz, als die Frage nach einem Freiwilligen zum Mitsingen kam. Er sprang auf und lief nach vorn. Auf der Bühne bekam er seine Momente, danach kehrte brav zu seinem Sitz zurück. Interessant fand ich in den letzten 16 Jahren des Öfteren, wie dieses Mitsingen eines Zuschauers marketingmäßig verpackt wurde. Der junge Mann, so fand ich einige Zeit später heraus, war Musicalstudent gewesen, strebte dann scheinbar (wie so viele Musicalstudenten) eine Popkarriere an, landete bei einer Song-Contest-Vorausscheidung (dem fast sicheren Ende jeder Popambition in Österreich) und gründete schließlich eine Gospel-Formation. Er arbeitete als Musicaldarsteller, Choreograf, er unterrichtet. Mal hieß er Danià¨l Williams, dann Sankil Jones, seit 2018 nennt er eine Bühnenpersönlichkeit, die er geschaffen hat, Naomi King. Als Dragqueen Naomi King stand er 2020 bei der hier besprochenen Ausgabe der Konzertserie »Musical Unplugged« auf der Bühne des Studio 44. King verpasste ihren Auftritt, vergaß ihren Text, setzte falsch ein – und entsprach mit diesen inszenierten Hoppalas einigen der Klischeevorstellungen, die man von Dragqueens haben könnte. Trotz all dieser spaßigen Mätzchen servierte King eine eher relaxte Vorstadt-Dragqueen-Performance, positiv formuliert passte sie ihr Exaltiertheitsniveau dem gegebenen Rahmen an. Teile des Publikums lachten, damit entsprach die Performance auch der üblichen Auffassung: »Men in drag are funny; women in drag are powerful, and so dangerous.« Überzeugt hat mich dieser Teil der Performance von King nicht ganz. Interessant fand ich aber einen anderen Aspekt. Singt eine Dragqueen Songs von Levay/Kunze, bekommt ein Lied wie »Gold von den Sternen« eine doch andere Bedeutung. Das war clever gewählt. Die hinter dem Auftritt stehende Textarbeit war großartig. Probleme bei der Intonation irritierten zwar den ganzen Abend über, ebenso wie das ein wenig zirkushafte Wechseln vom derben Brustregister in die Höhen und Tiefen, aber was rüberkam, war die Stimme als inszeniertes Naturereignis mit überraschenden souligen Phrasierungen. Zwar scheinbar schwer zu kontrollieren, aber doch so eingesetzt, dass man sich dem Zauber nicht entziehen konnte. Insbesondere dann, wenn King bei Duetten einen Partner hatte, der willens war, die Dragqueen nicht zu überpowern. Christoph Apfelbeck ließ bei »Wenn ich tanzen will« King dominieren, machte mit seiner einfühlsamen Interpretation das Spiel mit der Herbheit der Queen zu einem Höhepunkt des Konzerts.

2|Hingabe und tote Orchestermusiker
Meine ersten beiden Besuche von Konzerten der Serie »Musical Unplugged« waren stark von der Persönlichkeit des jeweiligen musikalischen Leiters geprägt.

Florian C. Reithner präsentierte sich (2012) als zynischer Musicalhasser. Die Grenze, die den Ernst von der Attitude trennte, konnte man als Zuschauer nicht ausmachen. Das war Teil des Konzepts. Reithner spielte furiose Klaviersolos mit querbeet darin verwobenen musikalischen Zitaten. Er legte es darauf an, das Publikum so weit zu locken, bis es verloren war. Erkennen Sie die Melodie? Der Spaß war groß. War ein Seitenhieb aufs Musicalgenre besonders gelungen, wurde er mit einem Schluck Bier runtergespült. Seit 2016 steht Reithner in den Diensten der VBW (Audience Development, Education). Abgang.

Walter Lochmann, der zweite musikalische Leiter, den ich erlebt habe (2018), begleitet Sänger nie einfach nur, seine Körpersprache, seine Mimik strahlen seine Liebe zum Beruf aus. Er ist Dirigent und Orchester gleich dazu, überbordend, immer im Fluss der Melodie. Durch seine Hingabe ist es unmöglich, sich Lochmanns Wirkung zu entziehen. Der ehemalige Dirigent des Orchesters der VBW, kann, wenn er will, mit ganz feiner Klinge die Musicals, die die VBW im Programm haben, satirisch sezieren. Levay gegen Sondheim etwa, das gab’s einmal im Rahmen eines Lochmann-Auftritts in einem anderen Rahmen. Seitdem wünsche ich mir genau eine solch intelligente Musicalparodie-Show. Allein, Walter Lochmann scheint das Interesse an der Satire verloren zu haben. Man kann es ihm nicht verübeln. Derzeit geht es »Kritikern« mit den VBW wie Elfriede Jelinek mit der Regierung. In einem kleinen Begleittext zu ihrem neuen Bühnenstück »Schwarzwasser« schreibt sie:

»Ich möchte mich gern als Warnerin sehen, aber wahrscheinlich bin ich doch nur eine Nachahmerin, bestenfalls eben eine Parodistin von etwas, das jedoch ohnedies schon seine eigene Parodie ist. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine, singt und sagt Brecht im Lied von der Moldau. Genau das versuche ich. Das Große hinunterzuzerren und das Kleine groß zu machen (aus Gernegroßen können monströse Verbrecher werden), ja, das ist es vielleicht.«

Vielleicht packt ja Lochmann doch mal wieder die Lust, sich an dem, was sich bei den VBW musikalisch (nicht) tut, lustvoll am Piano abzuarbeiten.

Michael Römer war der dritte musikalische Leiter, den ich im Rahmen von Musical Unplugged, eben beim hier besprochenen Abend am 13. Jänner 2020, erlebt habe. Er hat seine Sache gut gemacht, bei ihm stand die Funktion des Begleiters im Vordergrund. Keine Solos, keine Mätzchen. Solide Arbeit.
Römer wirkt auf mich stets wie ein überaus loyaler Mitarbeiter der VBW. Im August des Vorjahres, als in den sozialen Medien mal wieder die Mär verbreitet wurde, das Orchester der VBW verfüge über einen »Pool von 80 Musikern«, habe ich mir erlaubt, das auf Facebook satirisch zu hinterfragen mit folgendem Text:

»Wenn jemand in einem Forum schreibt, dass das Orchester der VBW über einen Pool an 80 Musikern verfügt, ist das dann: a) unwahr, b) eine Lüge c) ein Zeichen von Unwissenheit oder d) eine sehr kreative Interpretation des Begriffs Pool.«

Michael Römer kommentierte:

»Inwiefern eine Lüge? Weil es faktisch mehr sind???« [Er hatte noch einen Smiley dazugesetzt.]

Die Taktik, wortwörtlich, und zwar ausschließlich wortwörtlich, zu interpretieren, macht jegliche weitere Diskussion sinnlos. Wer der Meinung ist, ein Orchester bestehe aus einem Pool an Musikern, hat eine Auffassung des Begriffs »Orchester«, die man sicher vertreten kann. Um zu verdeutlichen, was ich jedoch meinte, wäre lediglich eine simple Zahlenreihe nötig: Anzahl der fix angestellten VBW-Orchestermitglieder mit voller Verpflichtung 1987, 1990, 1995, 2000, 2005, 2010, 2015 und 2020. Ein Pool ist kein Orchester. Danke.

Ein ähnliches Verständigungsgproblem hatten Michael Römer und ich bereits bei einem anderen Thema, das Orchester der VBW betreffend. Konkret ging es um die »Struktur« des Orchesters. Ich hatte bei einem Organigramm, das auf der Website der VBW zu sehen ist, angemerkt, dass statt eines »Musikdirektors« nun ein »Orchestermanager« an oberster Stelle abgebildet erscheint. Das ist übrigens bis heute so (siehe -> hier)

Der Ausgangspunkt.
Anfang 2017 verabschiedete sich Koen Schoots als Musikdirektor des Hauses. Die VBW schrieben seine Stelle öffentlich aus. Mit 1. Oktober 2017 sollte die Stelle des »Musikdirektors der Musicalbühnen der VBW« neu besetzt werden. Einen Nachfolger haben die VBW indes bis heute nicht bestellt.

Am 21. April 2018 merkte ich dazu an:

»Ein Jahr bald ist Koen Schoots nicht mehr Musikdirektor der VBW. Bis jetzt wurde der Nachfolger nicht bekannt gegeben. Stattdessen hat man einen Orchestermanager eingesetzt. Gründe? Eingesetzt ist falsch. Man hat ihn an die Spitze der Hierarchie gesetzt. Noch absurder.«

Michael Römer kommentierte:

»Welche Hierarchie meinen sie?!?!? Das wär mir jetzt neu wenn wir was verpasst hätten. Zumal es den Orchestermanager auch schon zu Koens Zeiten gab mit gleichen Standing?«

Bruny: Die Hierarchie, wie sie optisch auf der Website zu sehen ist. Es fehlt nach wie vor der Musikdirektor, an seiner Stelle steht der Orchestermanager.

Römer: Yep. Stimmt auch so. Die Dirigenten gehören von den Dienstverträgen her in eine andere Kategorie des Organigrams. Wir haben künstlerische Verträge, das Orchester einen anderen Kollektivvertrag. Aber ich verstehe was sie meinen. Das ist auf der reinen Orchester Mobilview Seite irreführend. Danke für den Hinweis.

Bruny: Wo würde denn ein Musikdirektor in diesem Organigramm stehen?

Römer: Beim Orchester sicherlich der Optik halber, aber direkt an die Intendanz gebunden. Bitte noch zu warten. Es ist alles in Arbeit. Wie gesagt … wir haben andere Verträge als unsere Musiker. Sonst müssten Carsten und ich ja auch als MDs beim Orchester für die laufenden Produktionen stehen. Über der Position des Managers.😬
Sie können also den Artikel von ihnen gerne korrigieren oder quasi löschen, da er so nicht stimmt.

Diese Unterhaltung ist nun bald zwei Jahre her. Ja, selbstverständlich werden die Dirigenten des Hauses nicht unglücklich darüber sein, dass durch die Nichtbesetzung des nach wie vor vakanten Postens des Musikdirektors ihre Stellung scheinbar aufgewertet zu sein scheint. Aber die Funktionen eines Musikdirektors haben sie nicht übernehmen können. Müssen wir uns darüber wirklich unterhalten? Sind die Funktionen eines MDs nicht klar? Sind die Auswirkungen des Fehlens eines MDs nicht evident? Schwache Intendanten engagieren nur selten starke Persönlichkeiten mit Ideen. Vor allem dann nicht, wenn man ihnen ohnedies kein Mitspracherecht bei der Planung einräumen möchte. Inwieweit das nun auf Christian Struppeck zutrifft, kann ich natürlich nicht beurteilen. Das Raimund Theater umbauen zu lassen, ohne eine alternative zweite Spielstätte für die Umbauzeit zu finden, ist allerdings absurd. Dass die Politik nicht reagiert und die Subventionen beinhart kürzt, ist unverständlich.

Zurück zum Orchester. Der Umgang der VBW mit ihrem Orchester ist seit der Ära Struppeck bemerkenswert. Nur ein kleines Beispiel. Mehr als ein Jahr nach dem Abgang von Koen Schoots als Musikdirektor sollte es dauern, bis die Marketingabteilung es schaffte, ein Bild des Orchesters auf die Website des Unternehmens zu stellen, auf dem man Koen Schoots nicht mehr sieht. Das bewerkstelligte man Anfang 2019. Das Foto, das nun nach wie vor hier zu sehen ist, (siehe –> hier) hat einen »kleinen« Makel. Schon Anfang 2019 waren einige abgebildete Musiker entweder in Pension oder bereits gestorben.

3|Repertoire
Die erste Ausgabe von »Musical Unplugged« fand im Jahr 2007 statt. Seit 13 Jahren bringt das Team rund um Florian Schützenhofer Jahr für Jahr mindestens eine Show auf die Bühne. Diese Konstanz ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele Veranstalter in diesem Zeitraum mit ihren Konzertserien bankrottgegangen sind, wie viele Vereine gegründet wurden von Leuten, die sich selbst als einflussreich verkaufen, die versprechen, ihren Einfluss geltend zu machen und karrierefördernd zu wirken und in Wahrheit nur die Zeit von jungen Talenten stehlen und nach der üblichen erfolgsfreien Produktion einen neuen Verein gründen. Von den VBW können wir natürlich auch hier wieder sprechen, die es nicht mal schaffen, regelmäßig Weihnachtskonzerte auf die Bühne zu stellen.
Mindestens zwei Faktoren sind für die Erfolgsserie »Musical Unplugged« ausschlaggebend: Geld und Publikum. Gerade in Zeiten, da es immer schwieriger wird, Sponsoren und Kooperationspartner für Kultur-Events zu finden, ist der finanzielle Aspekt nicht ganz uninteressant. Siehe dazu den offenen Brief von Jakub Kavin, dem Leiter von TheaterArche –> hier.
Ebenso wichtig ist es, nicht nur Publikum zu gewinnen, sondern auch zu halten. Das schaffen die Macher von »Musical Unplugged« unter anderem mit einem Mix aus Songs, der in den letzten 13 Jahren zwar immer wieder leicht variiert wurde, aber nicht allzu dramatisch. Nummern von Levay/Kunze wird man in jedem Programm finden, einen Lloyd-Webber, etwas aus dem Schaffen von Boublil/Schönberg, ganz sicher etwas aus »Tanz der Vampire«. Ein Lied von Frank Wildhorn. Das kann man kritisieren. Ich könnte mir vorstellen, dass man auch mit Songs von Jason Robert Brown (zumindest von seinen Solo-CDs) oder Stephen Sondheim das Publikum begeistern kann, Michael John LaChiusa oder Bill Russell würden sich ebenso anbieten und so viele tatsächlich wenig bekannte Musicalsongs jüngerer Komponisten. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass ein wesentlicher Faktor des »Musical Unplugged«-Konzepts diese Greatest Hits sind, und dann gibt es da noch einen wichtigen Aspekt: den Einbruch des Wahnsinns in die Realität. Wenn also Musical-Urgestein Randy Diamond ein paar Minuten nach einem großartigen »Dies ist die Stunde« (»Jekyll & Hyde«) nicht einen unbekannten Musicalsong vorstellt, sondern die Superschnulze »Delilah« gibt, dann ist die Fassungslosigkeit, mit der der eine oder andere reagieren mag, und ich ganz sicher, beabsichtigt. Dasselbe gilt übrigens für sämtliche Fendrich-Lieder, egal ob sie von den VBW durch den »I Am From Austria«-Kakao gezogen wurden oder nicht, und auch für Songs von Udo Jürgens (diesmal »Bleib doch bis zum Frühstück«). Für die einen sind das skurrile Momente im Rahmen einer soliden Musicalshow, für andere ist Liedgut dieser Art das, was sie lieben. Diese Schrulligkeit von »Musical Unplugged« hat auch einen gewissen Charme.
Noch ein letzter Erfolgsaspekt von »Musical Unplugged«: die Auswahl der Sänger*innen. Sie variiert bedeutend stärker als das Songrepertoire. Seit dem Beginn, also 2007, aber dabei: Jakob Semotan. Mir ist Semotan das erste Mal 2004 in einer Weihnachtsshow des Performing Center Austria aufgefallen. XMAS Dream Reloaded hieß sie (Bilder ->hier). Mittlerweile ist der junge Darsteller schon einige Jahre Ensemblemitglied der Wiener Volksoper und bei »Musical Unplugged« die Power-Stimme. Seine Entwicklung zu beobachten, macht Freude. Highlight in der besprochenen Show vom Jänner 2020: »Ein bissel fürs Hirn und ein bissel für Herz« (»Mozart!«). Mit dem scheinbar so einfachen Lied sind schon so manche Musicaldarsteller ordentlich baden gegangen. Sie könnten eine Masterclass bei Semotan buchen.

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Infos zu »Musical Unplugged« gibt es –> hier.

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