Das Wiener Schauspielhaus hat im Theaterleben der Stadt einmal eine wesentlich bedeutendere Rolle gespielt, als es das derzeit tut. Es ist immer nur von ganz wenigen Personen abhängig, wohin ein Theater steuert. Im Extremfall von einer einzigen, wie im Fall des Theatermachers Hans Gratzer, der 1978 das Schauspielhaus gründete und ab da Theater- und Musicalgeschichte schrieb. Pam Gems’ »Piaf« mit Maria Bill (DE 1982), die »Rocky Horror Picture Show« (sic! ÖE 1983) mit Erich Schleyer und Alexander Goebel wurden Kassenschlager, begründeten Karrieren. Über Bills »Piaf« schrieb der »Kurier«: »Wir werden diese Nacht nicht vergessen […] Wenn uns in fernen Zeiten die Enkel fragen Opa, hast du noch die Piaf gekannt?, werden wir antworten: Ja und nein, mein Kind […] Die Piaf habe ich nicht gekannt, aber ich hab’ die Bill als Piaf gesehen.«
1986 gab Gratzer das Schauspielhaus ab, er wollte das Ronacher übernehmen, und es waren nur wenige Menschen, die diese Weichenstellung verhinderten. Seit 1976 stand das Ronacher leer, ein Kulturkampf war ausgebrochen. 1979 kaufte Gratzer den zerschlissenen Vorhang des Theaters aus dem Fundus für sein Schauspielhaus. 1984 präsentierte er ein Bespielungskonzept. Ohne Subventionen wollte er das Ronacher führen, mit einer Mischung von Eigenproduktionen und Gastspielen. Zur Eröffnung plante er ein neues Musical von Richard O’Brien. 1986 betrat mit dem Unternehmer Alexander Maculan ein Geldgeber die Szene. Am 27. Februar 1986 kündigte Bürgermeister Zilk die Rettung und Wiedereröffnung des Ronacher an. Maculan sollte das Theater kaufen und um 5,4 Millionen Euro renovieren. Nach der Wiedereröffnung würde die Gemeinde Wien mittels 25-jähriger Kaufmiete das Theater erwerben. Mit der Operette »Cagliostro« ging Gratzer im Ronacher an den Start. Die Premiere am 22. Mai 1986 wurde zum Desaster. – Am 13. Mai 1986, eine Woche zuvor, ist er zu Gast in der ORF-Diskussionssendung »Cafà© Central«. Unter den Studiogästen: Helmut Zilk, Peter Weck, Ursula Pasterk und Luc Bondy. Thema: die bevorstehenden Festwochen. Im Laufe der Sendung wird klar: Das Ronacher geht an Weck – an die VBW. Gratzer sitzt mit steinerner Miene da, kommentiert die Situation mit keiner Silbe. Die fast einhelligen Verrisse für »Cagliostro« waren seiner Meinung nach »gesteuert«, um ihn auch in der öffentlichen Wahrnehmung als Intendant zu diskreditieren.
2014 ist die Zukunft des Ronacher wieder einmal ein heißes Thema. Der Generaldirektor der VBW, Thomas Drozda, überlegte im Dezember 2013 in einem Interview mit »News«: »Eine der beiden Bühnen [Ronacher oder Raimund Theater] könnte in einer Kombination aus Vermietung und Eigenproduktion« betrieben werden. Im »Standard« vom 7. Januar 2014 konterten Ernst Woller (SPÖ-Kultursprecher) und Klaus Werner-Lobo (Grüne-Kultursprecher): »Es gebe in Wien genügend kreatives Potenzial, um das Etablissement in einer völlig anderen Form, in einer neuen Form des Musiktheaters, zu bespielen. Für Woller und Werner-Lobo ist es nicht vorstellbar, dass Drozda das Ronacher untervermietet; sie schlagen vor, das Haus auszugliedern und die Intendanz auszuschreiben. Was aber, wenn Drozda das Ronacher nicht aufgeben will? Die Eigentümerin der Immobilie ist die Stadt. Sie hat einen Auftrag zu formulieren – und Drozda hat sich an diesen zu halten.«
Zurück zu Hans Gratzer. Er kehrte Wien 1986 den Rücken, ging nach New York, um 1990 wieder ans Schauspielhaus zurückzukehren und erneut Theatergeschichte zu schreiben, etwa mit einer eigenwilligen Version von »The Sound of Music« (ÖE 1993), Tony Kushners Drama »Angels in America« (ÖE 1994/1995) und Eve Enslers »Vagina Monologen« (DE 2000). »Die Wiener Theater waren fad, fad, fad«, erzählte Toni Wiesinger (Betriebsleiter/Kostümbildner am Schauspielhaus) der Autorin des Buches, über die 1970er Jahre. »Die Stadt war öd und grau, mit dem Schauspielhaus haben wir eine Insel geschaffen.« Michael Schottenberg, derzeitiger Direktor des Wiener Volkstheaters: »Jung und dynamisch war er […] Ein Magier, der alle, Schauspieler wie Publikum, in seinen Bann zog, der ein neues Gefühl in die Stadt brachte, eine neue Lebendigkeit.« Musical konnte damals Teil dieses neuen Gefühls sein, Musical, das relevant war, auf der Höhe der Zeit, nicht was etwa die Knalligkeit von Projektionen betrifft, sondern das Handwerk, die Umsetzung, die Qualität der Darsteller, der Regie, der Visionen – und was den Mut betrifft. Erich Schleyer über die »Rocky Horror Picture Show«: »Ich habe zuvor weder Rock ’n’ Roll gesungen, noch konnte ich, wegen meiner Herkunft aus der DDR, Englisch. […] Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn war ich in der Garderobe, habe mich selbst geschminkt und ganz allein für mich eine Flasche Sekt getrunken, das war meine Art der Vorbereitung auf die Aufführung. Während dieser Zeit habe ich viele andere Rollenangebote erhalten, aber alles abgeschlagen, was karrieretechnisch nicht unbedingt klug war, aber ich konnte nicht anders […] Das war die Rolle meines Lebens – und ich habe sie wirklich gelebt. Ich war zu 100 Prozent Frank N. Furter.« Die wahre Bedeutung dieser Produktion schildet Toni Wiesinger: »Die ganze Stadt war damals homophob – ist sie im Grunde heute noch. Aber am Anfang, in den 70er-Jahren, war es ganz offensichtlich. Unsere Schaufenster sind morgens regelmäßig angespuckt gewesen. Die armen Putzfrauen, die das wegwischen mussten. Der neunte Bezirk war damals kein Ausgehviertel wie heute, es war ein durch und durch bürgerlicher Wohnbezirk. Man mochte uns dort anfangs nicht besonders. Das hat sich erst verändert, als wir mit der Rocky Horror Picture Show diesen Riesenerfolg hatten. Da haben die Anrainer gesehen, dass die Leute bis auf die Straße hinaus um Karten angestanden sind, daraufhin wurden sie neugierig.« In Wien bracht der »Hedonismus aus. Drogen, Sex, Alkohol, Kreativität. Wir haben zehn Jahre eine Orgie in der Stadt gefeiert«. (Karl Welunschek, Regisseur)
Petra Paterno, Redakteurin der Wiener Zeitung für den Bereich Theater, ist mit ihrem Buch »Lichterloh« ein spannendes, blendend recherchiertes und komponiertes Buch zu einem wichtigen Stück Wiener Theatergeschichte geglückt. Pointierte Zitate aus Kritiken, Aufführungsanalysen aus den Privatarchiven von Dramaturgin Ingrid Rencher und Interviews mit den Protagonisten aus der Zeit Gratzers wie Michael Schottenberg, Erich Schleyer, Justus Neumann oder Beatrice Frey machen das Werk zu einer lesenswerten Hommage an Hans Gratzer.
Petra Paterno: Lichterloh – Das Wiener Schauspielhaus unter Hans Gratzer von 1978 bis 2001. edition atelier. Wien 2013. 288 S.; (Broschur) ISBN 978-3-902498-69-4. 19,95 Euro. [www.editionatelier.at]