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Martin Bruny am Donnerstag, den
9. März 2006 um 10:11 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2006
Lektüre für die Sommermonate. Unterhaltend, nicht zu schwer, damit man nicht zu viel schleppen muss; amüsant, etwas, womit man beispielsweise andere im Auto, in der Bahn oder im Flugzeug ein bisschen unterhalten kann – so könnten in etwa die Anforderungen an die perfekte Lektüre für den Weg zum Urlaubsort, für heiße Stunden am Strand, oder auch nur für die Zeit am stillen Örtchen lauten. Da kommt Mike Evans’ kleines Büchlein “Musicals: Facts, Figures & Fun” gerade recht. Im handlichen Format auf 96 Seiten zusammengefasst findet man hier ein kunterbuntes Sammelsurium von Listen, Charts, Biografien und Zitaten aus der Welt des Musicals. Wie viele und welche Musicals basieren auf Werken Shakespeares? Welche Musicals waren die größten Flops? Welches Musical konnte in welchem Jahr einen Tony-Award abstauben? Das sind nur einige der Themen, die in diesem Büchlein behandelt werden.
»Musicals: Facts, Figures & Fun« ist fürs Auge gefällig inszeniert. Kleine verspielte Layouteinfälle, klug eingesetzte Illustrationen – so macht es Spaß, mit Mike Evans durch die Musicalgeschichte zu cruisen. Wir starten unsere Musicalsurfpartie bei den Wurzeln des Genres, im 17. Jahrhundert, landen schon nach einer Seite bei Gilbert & Sullivan, und ab Seite 17 beschäftigen wir uns mit dem “klassischen” Musical. Auf zwei Seiten werden einige Fachbegriffe erläutert, um dann gleich mal in den Biografien einiger der populärsten Broadway-Diven zu schmökern, …
Man kann “Musicals: Facts, Figures & Fun” auf ganz verschiedene Art und Weise lesen. Auf die herkömmliche Art und Weise, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, oder einfach ein Hölzchen zwischen die Seiten stecken und grade dort beginnen, wo man gelandet ist. Der Spaß wird immer derselbe sein. Oder man inszeniert ein kleines Musicalquiz: Anregungen, Fragen, verblüffende Facts liefert Mike Evans auf alle Fälle zur Genüge. Wer sich für das Büchlein interessiert, möge bei http://amazon.co.uk Ausschau halten oder sich direkt an info@ffnf.co.uk wenden.
Mike Evans: Musicals: Facts, Figures & Fun. Facts, Figures & Fun, an imprint of AAPPL Artists’ and Photographers’ Press Ltd., London 2006, 96 S.; ISBN: 1-904332-38-2. £ 5,99 (Hardcover). www.ffnf.co.uk
Martin Bruny am Donnerstag, den
9. März 2006 um 10:09 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2006
Anthony Deane Rapp, am 26. Oktober 1971 in Chicago geboren, aufgewachsen in Joliet, Illinois, USA, entdeckt seine Liebe zum Performen bereits als Kind. Mit sechs Jahren spielt er in einer Schulproduktion die Rolle des Löwen in »The Wizard of Oz«. 1981, neun Jahre alt, beginnt er seine professionelle Karriere mit einer Tourproduktion von »Evita«. An der Seite von Yul Brynner tourt Rapp 1982 in »The King and I« durch die USA, mit zehn Jahren gibt er sein Broadway-Debüt in dem Musical »The Little Prince and the Aviator«, einer wenig erfolgreichen Show, basierend auf Antoine de Saint-Exupà©ries Werk »Der kleine Prinz«. 1986 spielt Rapp die Hauptrolle in der Broadway-Produktion »Precious Sons« an der Seite von Ed Harris und Judith Ivey. Für seine Leistung erhält er einen Outer Critics Circle Award. Am Off-Broadway ist Rapp 1992 in »Sophistry« und »The Destiny of Me« zu sehen. 1991 wird er Mitbegründer der Theatergruppe »Mr und Mrs Smith Productions«, für die er bei den Produktionen »The Bald Soprano« und »Marco Polo Sings a Solo« Regie führt. Gemeinsam mit seinem Bruder Adam Rapp schreibt Anthony das Theaterstück »Ursula’s Permanent«, bei dessen Uraufführung 1993 er Regie führt. 1994 spielt er in Adam Rapps Schauspiel »Prosthetics and the $ 25,000 Pyramid« in New York die Hauptrolle. Rapps Filmkarriere startet mit dem Chris Columbus-Streifen »Adventures in Babysitting« (1987). In den folgenden Jahren wirkt er unter anderem in »School ties« (1992), »Dazed and Confused« (1993) und »Six Degrees of Separation« (1993) mit.
Wir schreiben das Jahr 1994, September. Anthony Rapp hat’s eilig. »I sat down on the curb of Forty-fourth Street between Seventh and Eighth avenues, in front of the St. James Theatre, and glanced at my watch: no way was I going to be on time for my audition. Fuck. I raced to get my shoes off and my skates and helmet on, and launched myself into traffic, my skates gliding, my arms pumping, my breath quickening, my skin relishing the balmy autumnal breeze that flowed around me …†Mit derartiger Verve startet der Performer in seine Autobiografie “Without you: a memoir of love, loss, and the musical Rent”. Eben noch bei einem Gedenkgottesdienst für einen nahen Freund, rast er zur Audition für einen neuen Job: die Workshop-Produktion eines neuen Musicals eines gewissen Jonathan Larson mit dem Titel »Rent«. Zur gleichen Zeit bekommt Anthony Rapps Mutter von ihren Ärzten eine erschreckende Diagnose: Sie ist erneut an Krebs erkrankt.
“Without you« ist eine berührende, fesselnde und bewegende Mischung von Familiengeschichte, Charakterstudie und Blick hinter die Kulissen der Bühnenproduktionen des Musicals “Rent”. Beginnend mit der Audition für die Workshop-Produktion von »Rent« im September 1994 schildert der Autor vier Jahre seines Lebens. Vier Jahre, in denen er in der Rolle des »Mark Cohen« mit »Rent« endgültig zum Star avanciert, privat aber einen schweren Schicksalsschlag zu verkraften hat: die zweite Krebserkrankung, das Leiden und schließlich den Tod seiner Mutter. Sie stirbt 1997, knapp ein Jahr nach der Broadway-Premiere von »Rent«. Rapp hat zeitlebens ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter, die Sorge um sie scheint ihn in manchen Momenten dieser vier Jahre schier zu zerreißen. Der Musicalstar schildert sich in seinem Buch ganz offen als Mensch, der Probleme, Angst und Wut über lange Zeit in sich hineinfrisst – so lange, bis alles auf einmal aus ihm herausbricht. Als kleiner Junge, von seiner Mutter geohrfeigt, passiert dies das erste Mal. Er schreit sie an: »Wenn du das noch einmal machst, schlage ich zurück.« Und tatsächlich kommt es zum Exzess: Als ihn seine Mutter noch einmal ohrfeigt, schlägt er zurück. Jahre später verliert er unmittelbar vor einer “Rent”-Vorstellung völlig die Kontrolle, als er und sein Freund sich nach einer Auseinandersetzung trennen. Wild schlägt er auf ihn ein. Rapps Geschichte ist die eines liebenden, verzweifelten Begeisterten. Er lernt in diesen vier Jahren, mit seinem Aggressions-Problem umzugehen und begibt sich in therapeutische Behandlung. Letztlich liest sich seine Autobiografie in manchen Passagen wie eine Selbstanalyse. In vielen kleinen Flashbacks und Miniszenen erzählt er von den Problemen, die er mit seiner Familie, seiner Mutter, seinen Lebenspartnern hat, aber auch, wie sehr seine Liebe zu ihnen davon letztendlich unberührt bleibt. Eines der Hauptthemen des Buchs ist Anthony Rapps Bisexualität, mit der seine Mutter nie wirklich fertig wird, womit seine ganze Familie anfangs nicht klarkommt. Der Künstler outet sich im Privaten schon sehr früh (1990), sein öffentliches Coming-out hat er 1992, als er sich in einem Theaterprogramm bei einem ehemaligen Lebenspartner bedankt. Seitdem ist er ein bekannter Gay-, Lesbian-, Bisexual- und Transgender-Aktivist, er selbst bezeichnet sich als »queer«.
Das Musical »Rent« nimmt in Anthony Rapps Autobiografie einen wichtigen, jedoch nicht dominanten Stellenwert ein. Für Rentheads sind aber jede Menge interessante Passagen und Stories enthalten: beispielsweise Details des ersten Meetings von Jonathan Larson mit Rapp und der Workshop-Cast, der Arbeit an der Workshop-Produktion, der Off-Broadway-Version und schließlich der finalen Broadway-Inszenierung. Für Fans sicher interessant ist das erste Treffen Rapps mit Adam Pascal, das sich wie folgt liest:
«I said my hellos, giving Daphne a huge hug, and then Jonathan pulled me aside.
»I want you to meet the guy playing Roger. His name’s Adam Pascal. We’re really excited about him. He’s never done anything on stage before, but he’s got an amazing voice. He can really sing.â€
«Great, « I said, and Jonathan took me to him. Never done anything? Not anything? This should be interesting, I thought.
«Adam,†Jonathan said, «this is Anthony. Anthony, Adam.â€
«Hey, nice to meet you,†Adam said, and grabbed and shook my hand vigorously.
«You, too,†I said. If Jonathan hadn’t told me that this guy was playing Roger, I never would have predicted it. His disposition was too outgoing and friendly, and the combination of his dyed blonde hair, in a caesar cut; his close-cropped, dirty-blond beard; and his outfit – a forest green sweatshirt with a medieval-style lace-up collar, underneath denim overalls – made him seem to me more like one of Robin Hood’s Merrie Men than an ex-junkie wannabe rock star. But I trusted Jonathan; I knew how long they’d sought a good Roger. I looked forward to hearing him sing.â€
Dieser kleine Ausschnitt aus «Without you†ist repräsentativ für den Stil Rapps. Er rekreiert Szenen aus seinem Leben in einer sehr lebendigen Form, wenn möglich, versucht er Dialoge aus der Erinnerung wiederzugeben. Der Leser kann natürlich nicht prüfen, ob diese Szenen tatsächlich so stattgefunden haben, aber man kann sich nur schwer der Sogwirkung entziehen, die diese emotionalisierende Schreibweise ausübt. Packend auch die Schilderung, wie das »Rent«-Ensemble vom Tod Larsons erfährt, wie diese menschliche Tragödie aufgenommen, verarbeitet und in einen kreativen Prozess umgewandelt wird.
Ein Fleckerlteppich der Erinnerungen an vier wichtige Jahre ist Anthony Rapps Biografie geworden. Nicht mit Tinte oder Schlepptop, sondern mit Herzblut und purer Energie scheint sie geschrieben. Es ist faszinierend, beim Lesen mitzuerleben, welche Energien bei den Proben und Aufführungen von »Rent« entstehen, wie sich etwa die Clintons beim Besuch einer Vorstellung verhalten, oder aber auch, wie sehr sich Rapp bemüht, von seiner Mutter akzeptiert zu werden.
In einem Epilog schildert Rapp auf vier Seiten einige Eindrücke der Dreharbeiten zur Verflmung von «Rentâ€. Da hätte man sich doch ein paar Informationen mehr gewünscht, aber andererseits – der Künstler Anthony Rapp mag zwar 2005 die Rolle des Mark Cohen für die große Leinwand noch einmal verkörpern, in seinem Lebensweg jedoch liegen die »Rent«-Jahre schon wieder weit hinter ihm. Im Jahr 2000 veröffentlicht er mit »Look around« seine erste Solo-CD, wird Leadsänger der Band »Albinokid«. 2001 wirkt er im vielfach ausgezeichneten Blockbuster »A Beautiful Mind« mit. Neben seiner Filmkarriere kann er sich im Fernsehen mit Gastrollen in Serien wie »X-Files«, »Law & Order« oder »The Beach Boys: An American Family« ein Standbein schaffen; musicalmäßig erweitert er sein Repertoire um Paraderollen in »Hedwig And The Angry Inch« (2003) und »Little Shop of Horrors« (2004). Privat scheint er nach Jahren des Suchens eine stabile Beziehung aufbauen zu können, oder wie heißt es so schön: »He lives in New York City with his partner, Rodney To, and their three cats, Emma, Sebastian, and Spike.«
Fazit: »Without you« ist eine faszinierende Autobiografie geworden. Sie beschränkt sich auf vier prägende Jahre, erwähnt die Karrierestationen vor und nach diesen vier Jahren kaum, ist dermaßen brutal offen und ehrlich, dass man immer wieder ins Staunen kommt. Auf jeden Fall hält das Buch, was es im Titel verspricht: Exakt in der Reihenfolge »love, loss and the musical Rent« ist Rapps Buch eine Geschichte voller Liebe, Verlust, und auch mit vielen interessanten Schilderungen rund um das Musical »Rent«. Anthony Rapp ist mit diesem Werk nicht einer jener vielen Künstler, die halt auch mal ihre Memoiren zu Papier bringen wollen, er ist angetreten als Schriftsteller, und hat mit diesem Erstling auf jeden Fall Lust auf mehr gemacht.
Anthony Rapp: Without you: a memoir of love, loss, and the musical Rent. SIMON & SCHUSTER, New York 2006, 320 S.; ISBN: 0-7432-6976-4. 25 $ (Hardcover). www.simonsays.com
Martin Bruny am Mittwoch, den
8. März 2006 um 14:38 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2006
Kritiken mal nicht von einem Journalisten verfasst, sondern von einer Schriftstellerin, das hat was – es ist ein anderer Blick, eine gewisse andere Art zu schreiben, man erfreut sich an ungewohnten Einstiegen, am oft gänzlich anderen Blick auf die Leistung der Darsteller und auf die Stücke, kurz: Manchmal würde man sich wünschen, dass auch hierzulande Schriftsteller mit Ernst die Profession des Theaterkritikers ausüben würden. In der Tat sind dann so verfasste Kritiken auch Kunst, und zwar unbestreitbar.
Dame Beryl Bainbridge wurde 1934 in Liverpool geboren und lebt heute im Norden von London. Sie begann ihre literarische Karriere in den 1950er-Jahren mit dem Roman »Harriet Said«. Bekannt wurde die Autorin mit ihren schwarzen Komödien, historischen Novellen und Dramen, die sie für Theater und Fernsehen schrieb. 1996 wurde Bainbridge mit dem Whitbread-Preis für ihren Roman “Nachtlicht” (»Every Man for Himself«) ausgezeichnet, mit »The Bottle Factory Outing« gewann sie 1974 den »Guardian Fiction Prize«. Sie gilt als eine der bedeutendsten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und war mit ihren Romanen fünfmal in der Endauswahl für den begehrten Booker-Preis. Ihr Roman “An Awfully Big Adventure” (»Eine sachliche Romanze«) wurde mit Hugh Grant und Alan Rickman verfilmt, «The Dressmaker« 1988 mit Jane Horrocks und Tim Ransom.
85 Kritiken, geschrieben von 1992 bis 2002, sind in Bainbridges Buch »Front Row – Evenings at the Theatre« enthalten, davon etliche über Musicals, beispielsweise über “Notre-Dame de Paris”, “Sunset Boulevard”, “Les Misà©rables”, “Passion”, “Blood Brothers” oder “Bombay Dreams”. Es handelt sich um eine Sammlung von Besprechungen, die Bainbridge für das monatlich erscheinende englische Print-Magazin »The Oldie« verfasst hat. Nach wie vor publiziert sie in »The Oldie« Monat für Monat eine Kritik, und es ist jedes Mal eine Freude, ihre so eigene Sicht auf Theaterproduktionen zu lesen.
Über »Notre-Dame des Paris« schreibt die Autorin im Dezember 2000: »It’s interesting the way songs are now constructed: first there are four lines spoken more or less on one note, followed by another sliding upwards and ending in a prolonged and deafening shout. Example: «You are lying there / I see you lying there! You do not look at me / I who love you …/ YOUR LOVE WILL KILL MEâ€. I kept thinking of a description I’d read of how the theatrical gestures and articulation used by actors of a bygone generation, Kean and Irving and Garrick, if used today would cause modern audience to fall about laughing. I suppose every age has its own style, and no one doubt a pre-20th-century audience would find today’s performers equally comical. (…) If you do go and see it, there is no need to take hearing aids, as the sound is amplified fit to burst eardrums.â€
Beryl Bainbridge, die nicht nur als Schriftstellerin eine Größe ist, sondern auch als Schauspielerin und Tänzerin auf der Bühne zuhause war, bevor sie 1960 dieses Kapitel beendete, legt großen Wert aus Artikulation, Mimik und Gestik. Ihre sehr genauen Beobachtungen verpackt sie in kleine Geschichten und unterfüttert sie mit Erlebnissen aus ihrer eigenen Zeit als Kinderstar – sie stand schon mit fünf Jahren auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Fazit: Wunderbare Lektüre über das Londoner Theater und Einblicke in das Leben einer großen Schriftstellerin, äußerst empfehlenswert.
Beryl Bainbridge: Front Row – Evenings at the Theatre. Continuum, London 2006, 214 S.; ISBN 978-0-826-482785. £ 9,99. www.continuumbooks.com
Martin Bruny am Mittwoch, den
8. März 2006 um 14:37 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2006
Es war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als in der NEW YORK TIMES ein Begriff auftauchte, der bald ein ganzes Genre –bis heute – kennzeichnen sollte: jenes der »Megamusicals«. So wie der Terminus “mega” nicht nur positiv konnotiert ist, so subsumiert der Begriff “Megamusical” im Prinzip jene Shows, die die Puristen unter den US-Kritikern gar nicht mögen, ob sie nun weltweite Megaerfolge einfahren können oder nicht.
Was sind denn nun die typischen Eigenschaften eines Megamusicals?
1) Der Handlungsverlauf einer solchen Show ist wahrhaft episch breit angelegt, sie spielen meist in der Vergangenheit und sind vor allem eines: zeitlos. Leben und Tod, Krieg und Frieden, Religion und Versuchung – modern angelegte Storys werden nie zu Megamusicals verarbeitet.
2) Wie der Handlungsverlauf ist auch die Musik opulent. In einem Megamusical gibt es kaum oder gar keine Dialoge, es wird durchwegs gesungen.
3) Das Set Design ist beeindruckend, finanziell aufwendig, reich an Details, ganz auf Spektakel ausgerichtet.
All diese Faktoren haben die Macher der Megamusicals nicht etwa erfunden, sie waren nur die Ersten, die sie kombinierten.
4) Megamusicals sind nicht nur auf der Bühne groß, sondern auch was ihre Vermarktung betrifft, erreicht man immer wieder neue Dimensionen. Sie halten sich lange am Spielplan, jahrelang, manche mehrere Dekaden.
Von welchen Musicals sprechen wir also? Keine schwere Sache mehr: «Catsâ€, «Les Misà©rablesâ€, «Starlight Expressâ€,†The Phantom of the Operaâ€, «Miss Saigonâ€, «Chessâ€, … In der Tat stand am Beginn der Megamusicals Andrew Lloyd Webber, und so kristallisiert sich ein weiteres Merkmal von Megamusicals heraus: Die Komponisten stammen nicht aus Amerika. Megamusicals wurden an den Broadway importiert, umgelegt auf das Genre bedeutet das: Megamusicals sind bestens geeignet, exportiert, weltweit vermarktet zu werden.
Kritiker mögen Megamusicals traditionellerweise nicht, vor allem Broadway-Kritiker. Sie mussten durch das Aufkommen jener Shows in den achtziger Jahren eine enorme Einbuße ihrer Macht hinnehmen. »Cats« bewies, dass eine Show auch mit negativen Kritiken zum Publikumsrenner werden kann, und so sind die große Akzeptanz durch das Publikum und die schroffe Ablehnung durch die Kritiker wesentliche Merkmale der meisten Megamusicals. Auch setzen sich Musikexperten nur selten intensiv mit Megamusicals auseinander. Im Kanon der »großen« Musicals kommen »Mega«musicals selten vor. Sondheim oder Webber heißt die Devise, nicht Sondheim und Webber.
Jessica Sternfeld untersucht die Entwicklung des Megamusical-Genres auf sehr profunde Art und Weise. Sie beginnt bei »Jesus Christ Superstar« und endet sehr treffend bei »The Producers«, also bei der Parodie eines Megamusicals. Sie widmet sich in einem eigenen Kapitel den Masterminds der ersten »Megamusicals«: Andrew Lloyd Webber, Tim Rice und Cameron Mackintosh, untersucht auf rund 70 Seiten »Cats« und analysiert die Erfolgsstory dieses Musicals und einiger anderer auch mit Hilfe von Notenbeispielen und der kritischen Auseinandersetzung mit den wichtigsten musikalischen Motiven. Ein eigenes Kapitel ist »Les Misà¨rables« gewidmet und bietet beispielsweise eine sehr interessante Zusammenschau der wichtigsten Kritiken, auch im Vergleich zu anderen Megamusicals wie »Cats«. »The Phantom oft he Opera« ist das dritte und letzte Megamusical, dem sich Sternfeld auf sehr ausführliche Weise widmet. Die folgenden Kapitel skizzieren das Schicksal von Shows wie »Blondel«, »Chess«, »«Starlight Express«, »Miss Saigon« und konzentrieren sich dann auf die Erfolge einzelner Komponisten in den neunziger Jahren wie Andrew Lloyd Webber und Frank Wildhorn.
Was Wildhorn betrifft, so beschreibt Sternfeld ihn als Künstler, der den Ansatz von Megamusicals, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, auf die Spitze treibt. Sternfeld: »Where Lloyd Webber and Rice were interested in appealing to audiences, they also felt the importance of creating a complete, artistic, even challenging work. Wildhorn certainly seems to care about his shows as shows, not just a collection of pop songs, but his overriding interest in accessibility and mass appeal tips the scale. His scores bear little consideration for context, so that many songs sound like pop ballads of the 1970s or 1980s regardless of the time period or the character‘s personality. Indeed, there seems to be a sense that he prides himself on being a from-the-gut pop composer, rather than a trained one like Lloyd Webber, Schönberg or Sondheim.â€
Letztlich sind es die neunziger Jahre, die den Begriff «Megamusicals†etwas obsolet werden lassen. Letztlich ist die Wildhorn-Passage im Buch von Jessica Sternfeld eine Art Wendepunkt, ab dem die klar skizzierten Kriterien von Megamusicals immer weniger greifen. In den neunziger Jahren liegt die Produktion vieler großer Broadway-Musicals wieder verstärkt in den Händen der Amerikaner, das spiegelt sich auch in den Schauplätzen der Shows: Wildhorns »The Civil War«, Maury Yestons »Titanic«, Jonathan Larsons »Rent«, Flahertys &Ahrens‘ »Ragtime«, sie alle spielen in Amerika, können aber in keinster Weise als reine Megamusicals bezeichnet werden. In dieser Schiene bewegt sich dann schon eher Disney mit »The Lion King« und »Aida«.
So einfach es ist, Trends der achtziger Jahre zu analysieren, so schwer fällt es Sternberg am Ende des Buches, die jüngsten Broadway-Trends in ihr Megamusical –Theoriegebäude einzuordnen. Ist »Wicked« ein klassisches Megamusical, wie steht‘s mit »Mamma Mia!«, »Taboo«, »The Producers«? Immerhin zieht sie sich am Ende gekonnt aus der Affäre: »The influence of the megamusical of course continues, in similar as well as opposing forms of shows. Just as the megamusical’s innovations had their own roots in earlier forms of music theater, but recombined them in ways that required its own label, so too the shows being written today reflect the unprecedented successes of the megamusical.â€
Fazit: Ein lesenswertes Buch, dessen Autorin am Ende eingestehen muss, dass sich ihr eigentliches Thema auf die achtziger Jahre beschränkt. Alle Versuche, »Megamusicals« im Sinne der achtziger Jahre auch im 21. Jahrhundert aufzuspüren, erweisen sich als flau.
Jessica Sternfeld: The Megamusical. Indiana University Press, Bloomington 2006, 442 S.; ISBN 978-0-253-34793-0. $ 29,95. www.iupress.indiana.edu
Martin Bruny am Samstag, den
12. März 2005 um 12:06 · gespeichert in Literatur, Musical, Rezensionen, Bücher, 2005

Was zur Bibel für Musicalfans hätte werden können, es entpuppt sich letztlich als Zankapfel: der TheaterMania Guide to Musical Theater Recordings, herausgegegeben von Michael Portantiere, Editor-in-Chief der bekannten Website TheaterMania.com, versehen mit einem Vorwort von Jerry Herman.
Das broschierte Buch bietet auf rund 400 Seiten Kritiken zu mehr als 1000 Cast-CDs der wichtigsten Shows des Broadway und Londoner West End, beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts - eine umfangreiche Aufgabe. Jede Aufnahme wird nach einem Punkteschema von “not recommended” (kein Punkt) bis “Superlative; outstanding” (5 Punkte) bewertet.
Das erste große Minus: es gibt keine exakten Angaben zur Cast, Details zu Komponist, Texter etc. sind lediglich in den Kritiken selbst enthalten, nicht in einem Übersichtsteil zu jeder CD. Letztlich ist dieses Buch tatsächlich eine leserunfreundliche Ansammlung von Kritiken geworden - eine höchst subjektive, und die Empörung unter beispielsweise englischen Musicalfans war groß, als sie für sich aus den Kritiken herausfilterten, dass englische Cast-CDs praktisch immer schlechter “bewertet” werden als die amerikanischen Pendants.
Ganz übel meint man es mit Boublil & Schönberg. Von “Miss Saigon” etwa werden 2 Cast-CDs rezensiert: die Original London Cast von 1989 und die Studio Cast von 1995. Das Urteil des Kritikers: “not recommended”. Zitat: “Like its equally Eurotrashy predecessors “The Phantom of the Opera” and “Les Misà©rables”, “Miss Saigon” followed a crooked path to enourmous popular and financial (but not artistic) success.”
“Les Misà©rables” konnte die Kritiker ein klein bisschen mehr überzeugen. Die Original London Cast (1985) erhielt 2 Punkte, Broadway Cast (1987) ebenfalls 2 Punkte, Complete Symphonic Recording (1988) nur einen Punkt, die London Concert Cast (1995) 2 Punkte.
Favorit der Kritiker, was Boublil/schönberg betrifft, ist eindeutig “Martin Guerre”: 4 Punkte für die London Cast (1996) und 3 Punkte für die Touring Cast.
Andrew Lloyd Webbers “Das Phantom der Oper” kommt auf den 2 bewerteten Aufnahmen nicht über je einen Punkt hinaus. Zur London Cast CD wird vermerkt: “The recording gets one grudging star for its few nice moments, but don’t take that as a recommendation to buy it.”
Man mag sich über die Subjektivität der Rezensenten empören, Fakt ist, dass wir hier Kritiken zu mehr als 1000 Cast-CDs vorliegen haben, und wenn man dieses Büchlein schon zu nichts anderem verwenden mag, so doch vielleicht als höchst inspirierende Ansammlung von Kauftipps. Garniert wird das Ganze durch Listen der 10 persönlichen Lieblingsmusicals von Größen wie Barbara Cook, Kristin Chenoweth, Fred Ebb, Jason Robert Brown und Michael John LaChiusa.
[The Theatermania Guide to Musical Theater Recordings; Paperback: 416 pages; Publisher: Backstage (December 10, 2004); ISBN: 0823084353]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:19 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Es gibt Bücher, an denen kommt man als am amerikanischen Musical Interessierter nicht wirklich vorbei. “The Art of the American Musical” gehört dazu. Auf 308 Seiten bringen die Herausgeber Jackson R. Bryer und Richard A. Davison Transkriptionen von insgesamt achtzehn Interviews mit einigen der wichtigsten kreativen Köpfe dieser Kunstform: Lynn Ahrens und Stephen Flaherty (”Once on This Island”, “Ragtime”), Jason Robert Brown (”Parade”, “The Last Five Years”), Betty Comden und Adolph Green (”On the Town”, “Bells Are Ringing”), Sheldon Harnick (”She Loves Me”, “Fiddler on the Roof”), John Kander und Fred Ebb (”Cabaret”, “Chicago”, “Kiss of the Spider Woman”), Burton Lane (”Finian’s Rainbow”, “On a Clear Day You Can See Forever”), Arthur Laurents (”West Side Story”, “Gypsy”, “Hallelujah, Baby!”) ,Hal Prince (”The Pajama Game”, “Damn Yankees”), Kathleen Marshall (”Kiss Me Kate”, “Wonderful Town”), Stephen Sondheim (”Company”, “Sweeney Todd”), Susan Stroman (”Crazy for You”, “The Producers”), Charles Strouse (”Bye Bye Birdie”, “Annie”), Tommy Tune (”Nine”, “Me and My Girl”), John Weidman (”Pacific Overtures”, “Assassins”) und George C. Wolfe (”Jelly’s Last Jam”, “Harlem Song”).
Das beherrschende Thema des Buches ist die Frage, wie die verschiedensten kreativen Abteilungen einer Musicalproduktion bei der gemeinsamen Arbeit kooperieren, um das, was man dann als Gesamtwerk “Musical” auf der Bühne sieht, entstehen zu lassen. So lässt sich dieses Buch auch gliedern in Interviews mit Komponisten, Textern, Librettisten, Regisseuren, Choreographen und Produzenten. Viele der Interviewten nehmen im kreativen Entstehungsprozess auch Mehrfachfunktionen ein, Jason Robert Brown beispielsweise ist unter anderem Komponist, Texter und Musikalischer Direktor, die meisten der Befragten haben bereits miteinander gearbeitet oder mit den Großen der Branche, die zwar nicht selbst interviewt werden konnten, aber vielfach Erwähnung finden, wie Leonard Bernstein, Jerome Robbins, Jule Styne, Bob Fosse, Liza Minnelli, Alan Jay Lerner und viele andere.
“The Art of American Musical” ist kein Buch über Musicaldarsteller, sehr wohl ist aber ein “Sequel” zu diesem Werk in Planung, in dem dann die Performer zu Wort kommen sollen.
Bemerkenswert an diesem Interviewband ist die große Bereitschaft aller Beteiligten, wirklich ausführlich zu den clever gestellten Fragen Stellung zu nehmen. Und so kann es schon vorkommen, dass Jason Robert Brown mehr als drei Druckseiten für die Beantwortung einer einzigen Frage Platz bekommt. Als Leser empfinde ich das als Wohltat, in Zeiten, da sogar in Onlinemedien “Platz” Mangelware ist. Man sollte meinen, dass im Internet, wo es nicht drauf ankommt, ob man nun ein bisschen mehr oder weniger scrollt, Content, also Inhalt, beliebig lange sein darf, wenn es das Thema erfordert, allein, genau das Gegenteil wird von allen Fachleuten gepredigt: »”Man” liest nicht lange Texte im Internet.« In Zeitschriften ist meistens auch kein Platz, um wirklich lange, ausführliche Texte abzudrucken, es wird gekürzt, umgestellt und noch mal gekürzt – bleibt also das gute alte Buch.
Die achtzehn Interviews entstanden zwischen 1992 und 2004, alle Beteiligten erhielten vor der Drucklegung noch einmal die Chance, ihre Statements upzudaten. “The Art of American Musical” ist nicht nur ein Lobgesang auf Triumphe, auch die großen Flops werden ausführlich behandelt, so beispielsweise Stephen Sondheims Musical “Bounce”, an dem auch John Weidman und Harold Prince beteiligt waren. So ergibt sich die Analyse eines Flops aus den verschiedenen Ecken des Kreativteams.
Ein Stichwortverzeichnis ist vorhanden, man kann das Buch natürlich auch als Quelle für biographische Zwecke verwenden, jedem Interview sind ein kurzer Lebenslauf und eine Werkübersicht vorangestellt, auch Bildporträts der Befragten fehlen nicht.
Fazit: Ein rundum faszinierendes Buch, mit Sorgfalt und Liebe zum Genre editiert.
Jackson R. Bryer; Richard A. Davison: The Art of the American Musical – Conversations with the Creators. Rutgers University Press, New Brunswick 2005, 308 S.; ISBN: 0-8135-3613-8. $ 23,95 (Paperback). http://rutgerspress.rutgers.edu/
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:13 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
“Sag: ‚Viele Versprecher, du Schlampe.’ Jetzt mach schon Junge, ich muss auf die Bühne!” forderte eine große alte Dame des Theaters vor vielen Jahren vom jungen Dramaturgen John von Düffel. »Man sagt nicht ‚viel Glück’, wenn man jemandem viel Glück wünscht!« schimpft sie ihn so laut, dass es jeder im Gardereobentrakt hören kann. Düffel weiß noch nichts von den Do’s und Dont’s am Theater, er hat noch keine Ahnung, warum man auf der Bühne nicht pfeifen darf, warum »Teufel, Teufel, Teufel« als Premierenwunsch dann doch noch um einen Deut besser als »Toi, toi, toi« ist, warum man auf der Bühne nicht isst und keine Hüte und Mäntel tragen darf, sofern sie nicht zum Kostüm gehören. Die ungeschriebenen Theatergesetze – sie sind ihm noch alle fremd. »Bitte nicht pfeifen! – Eine Verteidigung des Aberglaubens auf der Bühne«, verfasst von Dramaturg, Film- und Theaterkritiker John von Düffel, ist ein Artikel in einer Buchneuerscheinung mit dem Titel »Beruf: Schauspieler«, einem faszinierenden Sammelband, herausgegeben vom Intendanten des Thalia Theaters Hamburg, Ulrich Khuon.
Auf Stichwort brechen sie in Tränen aus, schreien und lachen, singen und tanzen, sind wütend oder fröhlich. Darsteller stehen im Rampenlicht und müssen in ihrer Rolle überzeugen: mit ihrer Stimme, ihrer Mimik und Gestik, ihrem ganzen Körper. Mit Haut und Haar schlüpfen sie in ein anderes Ich, auf der Bühne oder vor der Kamera. Der Schauspieler, das zerbrechliche Wesen. Auch das einer von vielen Ansätzen, wie man sich dem Leben vor und hinter der Bühne in diesem Buch nähert: mit einfühlsamen Porträts und Interviews. Zu Wort kommen Newcomer und arrivierte Stars wie Paula Dombrowski, Caroline Ebner, Maren Eggert, Judith Engel, Fritzi Haberlandt, Alexandra Henkel, Dietmar König, Hans Kremer, Stefan Kurt, Susanne Lothar, Michael Maertens, Annette Mayer, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Sylvie Rohrer, Stefanie Stappenbeck, Ulrich Tukur, Susanne Wolff und Martin Wuttke. Interessant dabei ist nicht nur, wie der/die Interviewte antwortet, sondern wie das Frage-Antwort-Spiel von den Autoren des Buches aufbereitet wird. Ganz verschiedene Ansätze haben da die Autoren dieses Buches: Sonja Anders, Eva Behrendt, Klaudia Brunst, Werner Burckhardt, Petra Castell, Robin Detje, John von Düffel, Jürgen Flimm, Gerhard Jörder, Hellmuth Karasek, Andreas Kriegenburg, Brigitte Landes, Frauke Meyer-Gosau, Monika Nellissen, Thomas Oberender, Peter Reszczynski, Hermann Schreiber, C. Bernd Sucher und Egbert Tholl.
Man liest viel von “Angst” in diesem Buch, aber auch viel von Leidenschaft, Begeisterung, Illusionen und Desillusionierung. Sehr kritisch setzt sich beispielsweise die Kulturjournalistin Monika Nellissen in ihrem Beitrag “Alle Kellner sind Schauspieler” mit der Arbeitsmarktsituation auseinander: »Kellnern, sagt Michael Schäfermeyer, Leiter der Schauspielabteilung der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) der Bundesagentur für Arbeit, und meint das nicht zynisch, sei ja noch ein honoriger Beruf. Im Extremfall werden Pornogeschichten gemacht, und sei es nur als Overvoice, um ein paar Euro zu verdienen.” Die Prognosen sind düster. Nach den Hartz-IV-Gesetzen dürfen Schauspieler nur noch dann Arbeitslosengald beziehen, wenn sie innerhalb von zwei Jahren an mindestens 360 Tagen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Davor galt ein Zeitraum von drei Jahren. Etatkürzungen, Theaterfusionierungen und -schließungen … natürlich müssen nicht alle Darsteller als Kellner arbeiten. Aber Statistiken, wieviele es tun, gibt es nicht. Da Realität, dort die Formulierung des Ziels: »Wenn ihr die Menschen erreicht, wenn sie über euch weinen, lachen, wenn ihr sie nachdenklich macht oder ihnen vielleicht sogar eine Lebenshilfestellung gebt, dann erfüllt ihr unseren Beruf. Ihr erfüllt unsere Berufung«, so Boy Gobert, der legendäre Theatermann. Als Intendant, Schauspieler und Regisseur war das Theater sein Leben. Was das Theaterleben so einzigartig macht, den Zauber des Theaters, ihn versucht dieses Buch ein wenig zu entschlüsseln. Wie gehen Schauspieler mit Verrissen um, Lampenfieber, Neid, Ängsten, wie mit Erfolg? Wie hat sich der Beruf in den letzten Jahrzehnten verändert. Fragen, die auf spannende Weise beantwortet werden, und neue, unbeantwortet bleibende Fragen aufwerfen. Ein Fragebogen rundet die Interviews, Portraits ab: »Stören Sie hustende Zuschauer?«, »Wie gehen Sie mit Buhs um?«, »Haben Sie Hemmungen, auf der Bühne nackt zu sein?«, »Spielen Sie gerne in einer Uraufführung«, »Was tun Sie gegen Lampenfieber?«, »Gibt es Kritiker, deren Meinung Ihnen wirklich wichtig ist?«, »’Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze’. Hier irrt Schiller?«, »Sind Sie abergläubisch?« – nur einige der interessanten Fragen.
Insgesamt eine anregende Lektüre, die man allen Darstellern, aber auch Rezensenten und einfach begeisterten Theatergehern ans Herz legen kann.
Ulrich Khuon (Hrsg.): Beruf: Schauspieler – Vom Leben auf und hinter der Bühne. edition Körber-Stiftung, Hamburg 2005, 368 S.; ISBN: 3-89684-045-2. € 18,00 (Hardcover). www.edition-koerber-stiftung.de
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:08 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Frage: Wann ist ein Musical kein Musical? Antwort: Wenn es Andrew Lloyd Webber komponiert hat.
Sir Andrew, Komponist, Produzent, Agent und Manager, geboren 1948 in Westminster (London), ist in der Musicalbranche wohl das Reizwort schlechthin. 7 Tonys hin, 3 Grammys her, in Kritiken, Glossen und manch böser Nebenbemerkung wird auf Andrew Lloyd Webber eingedroschen, was nur geht. Interessanterweise ist das Begriffsrepertoire, das von seinen Kritikern angewendet wird, in der Regel nicht sehr differenziert. Das Ziel, des Komponisten Werk abzuqualifizieren, wird meistens auf kürzestem Wege über plakative Schlagworte und dämliche Metaphern erreicht.
John Snelson geht einen ganz anderen Weg, hat einen ganz anderen Background – ein anderes Ziel. Er möchte dem Phänomen Andrew Lloyd Webber möglichst sachlich auf den Grund gehen. Es steckt eine andere Einstellung hinter seinem Ansatz – die eines Musikwissenschaftlers. Snelson interessiert sich grundsätzlich für das Schaffen von Lloyd Webber und ist dem Künstler gegenüber positiv eingestellt. Was auch immer man an Webber auszusetzen hat, er hat die Art und Weise, wie Musicals heute wahrgenommen werden, grundlegend beeinflusst, seine Erfolge sind evident. “The Phantom of the Opera” ist die am längsten laufende Show am Broadway, gefolgt von – “Cats”. Webbers Erfolg verdient und verlangt es, ernst genommen und seriös analysiert zu werden, exakt das ist Snelsons Anliegen.
Das begriffliche Instrumentarium des Autors ist äußerst vielschichtig, die (musik-)theoretische Basis, auf der sein Werk basiert, ist fundiert. Ausgehend von möglichst vielen Ansatzpunkten seziert er das Werk Lloyd Webbers in sich immer mehr verengenden Kreisen, bis hin zur Analyse von einzelnen Leitmotiven, der einzelnen Note (27 Notenbeispiele sind im Buch enthalten), den Marketingtricks des Künstlers, beispielsweise die Big Ballads im Vorfeld der Premieren in den Charts zu platzieren, auch wenn er dafür zuerst einmal die Nummern völlig umbauen muss (so geschehen bei “No matter what” aus “Whistle Down the Wind”).
Snelson beginnt mit dem biographischen Aspekt und rollt Webbers Lebensgeschichte im Spiegel seiner Werke auf 19 Seiten auf. In einer nächsten Stufe analysiert er die Webberschen Musicals vor dem Hintergrund der Entwicklung der zeitgenössischen Pop- und Rockmusik sowie der Klassik (z. B. “Joseph” – Pop; “Jesus Christ Superstar”, “Evita” – Rock plus zusätzliche Einflüsse von Prokofjew, Schostakowitsch und Strawinsky) und widmet sich danach dem “Phantom der Oper”. Die Analyse dieses Musicals auf 50 Seiten ist das Herzstück von Snelsons Webber-Biografie. Ausgehend vom Stoff, einer Zusammenfassung der von Webber benutzten Quellen, gibt Nelson anhand von zahlreichen Notenbeispielen Einblicke in die Kompositionskunst Webbers, interpretiert dessen musikalische Sprache und analysiert so das Geheimnis der Wirkung der Songs von Andrew Lloyd Webber.
Ein weiteres Kapitel widmet der Autor den zahlreichen Verfilmungen der Webberschen Musicals. Eine Diskussion des Begriffs “Musical-Kanon”, die Einordnung bzw. Stellung der Werke Webbers darin beschließen John Snelsons Analyse. Webber, so Snelson, definiert seit Jahrzehnten auf bemerkenswerte und vielschichtige Art und Weise das Genre “Musical Theatre” immer wieder neu. Er sieht das “Musical Theatre” nicht als isolierte Gattung, sondern eingebunden in ein größeres Netz kultureller Querverbindungen, Einflüsse, die sich als blendende Inspirationen nützen lassen. Auch das ist, nicht zuletzt, eines seiner Erfolgsrezepte. “The Composer must dictate the evening because you are, in the end, the dramatist.” So lautet ein Zitat von Lloyd Webber, das Snelson gleich drei Mal in seinem Buch verwendet, und in der Tat scheint dies ein weiteres zentrales Mosaiksteinchen in der Karriere des “Broadway Master” zu sein. Interessant wäre eine Diskussion zu diesem Thema mit Michael Kunze, der eine ganz andere Meinung vertritt: “Die Musik hat zu dienen, die Musik hat eine dienende Funktion im DramaMusical.« (Michael Kunze, 2005) – aber das ist eine andere Geschichte.
John Snelson: Andrew Lloyd Webber. Yale University Press, New Haven & London 2004. 267 S. ISBN: 0-300-10459-6. 45 $. (Hardcover) [www.yalebooks.com]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:07 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Für viele ist es DAS Cast-Album der letzten Jahre schlechthin, am Broadway ist es mit wöchentlich 15.000 zahlenden Besuchern eine der derzeit erfolgreichsten Shows, seit 2005 feiert eine Tourproduktion in den USA Zuschauerrekorde, und im Herbst 2006 steht die West End-Premiere an, kurz: “Wicked”, Stephen Schwartzs Zaubermärchenmusical, das Prequel zum legendären Musical “Der Zauberer von Oz”, das die Geschichte der bösen Hexe Elphaba und ihrer Rivalin, der guten Hexe Glinda, erzählt (basierend auf einem Bestseller von Gregory Maguire), ist drauf und dran, vom Broadway aus die Welt zu erobern. Und während man von den meisten Musicals Tassen, Anhänger etc. vor Ort im Theater kaufen kann, manchmal auch Plüschtiere, Libretti oder anderes nettes Zeugs, gibt es von “Wicked” eine ganz spezielle, wertvolle Erinnerung: “Wicked: The Grimmerie” nennt sich ein Buch, das im Großformat (23 x 31 cm), und zwar äußerst aufwendig, produziert wurde. Falls Sie so wie ich auch zu jener Sorte Mensch gehören, die bei einem neuen Buch zuerst mal das Cover streichelt, an den Seiten riecht und die Qualität der Verarbeitung und des Papiers prüft – das haptische Vergnügen bei diesem Buch ist unbeschreiblich, das muss man schon selbst erleben.
In der Broadway-Show “Wicked” ist “The Grimmerie” ein altes Buch mit Zaubersprüchen, das Elphaba verwendet, und auch das bei Hyperion erschienene “Grimmerie” ist ganz auf altes Zauberbuch gestylt. Das beginnt schon beim Cover, das als vergilbter Prachteinband designt und luxuriös mit Schaumstofffüllung verarbeitet wurde. Der Innenteil des Buches ist durchgehend vierfärbig auf qualitativ hochwertigem Papier gedruckt, und was das Layout, die Grafiken und die Bilder betrifft, so waren hier Vollprofis am Werk, die fast keine Wünsche offen ließen. Sicher, ein paar Fans hätten sich eine ungekürzte Version des Librettos gewünscht, aber was sonst alles geboten wird, ist beeindruckend, denn außen hui, heißt in diesem Fall nicht innen pfui. Eine informativ bebilderte Entstehungsgeschichte des Musicals, Artikel zu den ersten Workshops, den Try-outs, der Broadway-Version und der Tourproduktion, Interviews mit den Machern der Show, Stephen Schwartz, Marc Platt, Joe Mantello, Gregory Maguire, Winnie Holzman, ausführliche bebilderte Biographien der Cast (sowohl der Broadway-Show als auch der Tourproduktion), ein kleines verspieltes Quiz, “Bist du eher Glinda oder eher Elphaba?”, ausführliche Beschreibungen und Interpretationen jedes Songs durch Stephen Schwartz, ein Wörterbuch der Sprache von Oz, eine genaue Dokumentation, wie die Darstellerin der Elphaba jeden Abend vor der Show grün eingefärbt wird, faksimilierte Original-Notenblätter sowie Entwürfe von Kostümen, Bühnenbild, technischen Details … die Fülle an Informationen, optisch blendend umgesetzt, ist überwältigend. Für Fans der Show ein Muss, und auch für all jene, die ein bisschen hinter die Kulissen dieses Erfolgsmusicals schauen wollen.
David Cote/Joan Marcus: Wicked: The Grimmerie – A behind-the-scenes look at the Hit Broadway Musical. Hyperion, New York 2005, 192 S. ISBN: 1-4013-0820-1. 40 $. (Hardcover) [www.hyperionbooks.com]
Martin Bruny am Mittwoch, den
9. März 2005 um 10:06 · gespeichert in Rezensionen, Bücher, 2005
Richard O’Briens Musical “The Rocky Horror Show” wurde 1973 an der experimentellen “Theatre Upstairs”-Bühne des Londoner Royal Court Theatres uraufgeführt und im selben Jahr zum “Best Musical” gekürt. Am 21. Oktober 1974 begannen unter der Regie von Jim Sharman und Autor Richard O’Brien die Dreharbeiten zur “Rocky Horror Picture Show”. Den Großteil der Rollen übernahm die Londoner Originalbesetzung: Tim Curry als Frank N. Furter, Richard O’Brien als Riff Raff und Patricia Quinn als Magenta. Susan Sarandon und Barry Bostwick verkörperten Janet und Brad.
Am 24. März 1975 feierte der Film in den USA Premiere. Als “Kitsch-Schund” von den Kritikern verrissen, blieb der Erfolg zunächst aus. Die “Rocky Horror Picture Show” drohte in der Versenkung zu verschwinden. Dank einer äußerst hartnäckigen Fangemeinde, einigen neu geschnittenen Szenen und eines geänderten Marketingkonzeptes wurde der Film sechs Monate später doch noch als Midnight-Movie zum Kinoerfolg.
In seinem großformatigen (24 x 30 cm) Bildband “Rocky Horror” zeigt Starfotograf Mick Rock auf 272 Seiten über 300 Fotos, die er während der Dreharbeiten zur “Rocky Horror Picture Show” aufgenommen hat.
Mick Rock, geboren 1948, ist bekannt als “der Mann, der die 70er fotografierte” – die Welt des “Glam Rock”, berühmt für ihr Glitzer-Make-up, bizarre Kostüme und theatralische Bühnenshows. Im Laufe seiner Karriere fotografierte er Stars wie David Bowie, Alice Cooper, Roxy Music, Lou Reeds, Iggy Pop, Queen, Sex Pistols, Ramones, Talking Heads, Blondie bis hin zu Kate Moss, Michael Stipe und den Chemical Brothers.
Der durchwegs zweisprachige Bildband, ergänzt durch Erinnerungen an diese Zeit und einige Anekdoten des Rockfotografen, ein Vorwort von Richard O’Brien sowie Zitate vieler Beteiligter ist ein Mix von porträtartigen, wunderschönen Großaufnahmen und stimmungsvollen Schnappschüssen, eine Mischung aus gestochen scharfen Bildern und atmosphärisch dichten “Zufallstreffern” – wobei man mit dem Begriff “Zufallstreffer” leicht in Versuchung kommen könnte, das Genie Mick Rock zu unterschätzen. Er wusste schon genau, wann er auf den Auslöser drücken musste, um ein Zeitdokument zu knipsen: “Ich konnte knipsen, was auch immer mir gerade ins Auge fiel und meine Fantasie anregte”, so Mick Rock. Als “Special Photographer” war er nah am Drehgeschehen. Seine Fotos zeigen beispielsweise, wie Tim Curry als Frank N. Furter während der Drehpause im Swimmingpool planscht, wie sich Richard O’Brien in Riff Raff verwandelt oder wie die illustre Gesellschaft die Erschaffung des Liebesmonsters “Rocky” zelebriert.
“Rocky Horror” ist ein Buch geworden, das mit jedem Durchblättern gewinnt, immer wieder entdeckt man Details, an denen man hängen bleibt: Gesten, ein für immer festgehaltener Gesichtsausdruck, das laszive Spiel mit der Kamera – ein voyeuristischer Kunstgenuss der besonderen Art. Jedes Bild erzählt seine eigene Geschichte, die man sich selbst erschließen, für sich selbst auf eine bestimmte Art und Weise erfinden muss. So gesehen kann es durchaus vorkommen, dass man nach hastigem erstem Durchblättern noch viele weitere Stunden mit diesem Buch verbringt.
Mick Rock: Rocky Horror – Das Buch zum Kultfilm. Mit einem Vorwort von Richard O’Brien. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2005, 272 S. ISBN: 3-89602-666-6 2005. 39,90 €. (Hardcover) [www.schwarzkopf-schwarzkopf.de]
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